Efeu - Die Kulturrundschau

Flamboyanz, Fluidität, ausgelassenes Nerdtum

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2020. Die taz erklärt, weshalb Linke, Feministinnen und konservative Moslems gegen Berkun Oyas Netflix-Serie "Bir Başkadır" über den Alltag in Istanbul Sturm laufen. Im Interview mit artnews erzählt die polnische Malerin Ewa Juskiewicz, weshalb sie die Gesichter ihrer porträtierten Frauen mit Insekten und Pilzen bedeckt. Mit einem Geldsegen von 74 Millionen Euro will sich das Literaturarchiv in Marbach als Literaturdatenzentrum aufstellen, meldet die Welt. Und die SZ betet Harry Styles in fluffigem Volant auf dem Cover der US-Vogue an.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Bild: Ewa Juskiewicz: Sisters (after Anton Graff). Öl auf Leinwand. 2014.

Coronasicher sind die Gesichtsbedeckungen auf den derzeit in der New Yorker Gagosian Gallery ausgestellten Porträts der polnischen Malerin Ewa Juskiewicz garantiert. Im Artnews-Interview mit Claire Selvin erklärt die polnische Malerin, weshalb sie die Gesichter der Frauen in ihren im Stil europäischer Porträts des 18. und 19. Jahrhunderts gehaltenen Gemälden verschleiert: "In diesen Gemälden möchte ich, indem ich ein Porträt verdecke oder modifiziere, die bekannte Ordnung stören und das einheitliche und konservative Bild weiblicher Schönheit zerschlagen. Durch eine Metamorphose der klassischen Gemälde ändere ich ihre Interpretation und provoziere neue, alternative Assoziationen. In meinen Gemälden schaffe ich durch die Gegenüberstellung scheinbar unvereinbarer Elemente neue, surreale Bilder, die hybride Charaktere sind, die mehrdeutige, oft verstörende oder groteske Assoziationen hervorrufen. Durch die Verflechtung von Elementen, die sich auf den Kanon und die Tradition beziehen, mit Elementen, die der Natur und den Sinnen entstammen, möchte ich den Ausdruck, die Emotion und die Vitalität freisetzen, die zuvor durch die Konvention verborgen waren."

Frederik Bazille: "Sommerszene". Quelle: Wikipedia

Es ist höchste Zeit, dem französischen Maler Frederic Bazille auch hierzulande eine Retrospektive zu widmen, meint Peter Kropmanns in der FAZ. Denn dem jungen Maler, der mit Monet, Renoir und Sisley befreundet war, hätte eine große Karriere bevorgestanden, wäre er nicht vor 150 Jahren im Alter von nur 28 Jahren im deutsch-französischen Krieg gefallen: "Im täglichen Miteinander und bei gemeinsamen Aufenthalten in der Normandie oder am Wald von Fontainebleau schuf Bazille Landschaften und Stillleben, Akte und Interieurs, Porträts, Selbstbildnisse und Figurenbilder. Monet malte er als von ihm improvisiert verarzteten Rekonvaleszenten im Bett, Renoir porträtierte er mit an die Sitzfläche eines Stuhls hochgezogenen Füßen. Als Modelle dienten daneben Familienmitglieder, eine Blumen arrangierende Schwarze oder Männer, die fischen oder baden. Dabei blitzen Reminiszenzen an Alte Meister oder zeitgenössische Idole auf. Mediterranen Überschwang dämpft protestantischer Glaube."

Weiteres: Das monopol-magazin empfiehlt zwölf aktuelle Galerie-Ausstellungen.
Archiv: Kunst

Literatur

Im Gespräch mit der Literarischen Welt verspricht Gabriele Radecke, die neue Archivleiterin der Berliner Akademie der Künste, für das kommende Heinrich-Mann-Jahr einen großen Digitalaufschlag: "Am Ende werden wir die verstreut in mehreren Ländern liegenden Teile von Manns Nachlass in einem großen Internetportal zusammenführen können." Auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat digital viel vor, berichtet Marc Reichwein in der Literarischen Welt: Mit einem Geldsegen von 74 Millionen Euro will sich das Haus als "Literaturdatenzentrum" aufstellen. Geben soll es unter anderem "ein neues Archiv für Netzliteratur und eine Implementierung neuer digitaler Erschließungsmethoden". Was auch immer notwendiger wird, erfahren wir: So wanderte von Botho Strauß ein ganzer Stapel Laptops ins Archiv und auch "einen zugestaubten PC aus dem Keller von Peter Sloterdijk habe man wieder zum Laufen gebracht - und das, obwohl der Philosoph das Passwort nicht mehr wusste."

Weitere Artikel: Für die FAZ scrollt sich Paul Ingendaay durch die schier endlose Liste an Auszeichnungen, die Mario Vargas Llosa mittlerweile angehäuft hat. Die FAZ dokumentiert Durs Grünbeins Dankesrede zum Erhalt des Literaturpreises der polnischen Zbigniew-Herbert-Stiftung.

Besprochen werden unter anderem Hinrich Schmidt-Henkels Neuübersetzung von Tarjei Vesaas' "Die Vögel" (taz), Verena Keßlers Debütroman "Die Gespenster von Demmin" (FR), Marie-Claire Blais' "Drei Nächte, drei Tage" (Tagesspiegel), Dieter Bachmanns "Unwiderruflich letzte Vorstellungen" (NZZ), Kamel Daouds "Meine Nacht im Picasso-Museum" (taz), Ralf Rothmanns Erzählungsband "Hotel der Schlaflosen" (ZeitOnline), Kurt Drawerts "Dresden - Die zweite Zeit" (Freitag), Hans Ulrich Gumbrechts Neuübersetzung von Baltasar Graciáns "Handorakel und Kunst der Weltklugheit" (FAZ) und Britt Bennetts "Die verschwindende Hälfte" (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Film

Berkun Oyas Netflix-Serie "Bir Başkadır - Acht Menschen in Istanbul" über den Alltag in der türkischen Hauptstadt hat sich als Publikumshit so ziemlich zwischen alle Stühle gesetzt, stellt Ömer Erzeren in der taz fest: Zu den Kritikern zählen "Linke und Feministinnen, konservative Moslems und Säkulare. ... 'Eine große Niederträchtigkeit', titelt die islamistische Zeitung Yeni Akit. Sie verurteilt den Angriff auf die 'nationalen und geistigen Werte' und fordert die türkische Zensurbehörde auf, einzugreifen. Eine angedeutete Masturbation mit Kopftuch sowie lesbische Beziehungen waren wohl zu viel des Guten. Andere wiederum loben die Netflix-Produktion, weil sie gegen die Islamophobie Partei ergreife. Ein 'Anti-Feminismus reloaded', resümiert jedoch eine andere Autorin. Während eine andere feministische Momente zu erkennen glaubt. Die Säkularen würden verspottet, kritisieren die einen, während andere Säkulare meinen, die Serie bringe das Thema Islam und Kopftuch auf den Punkt."

Jan Feddersen spricht für die taz mit Björn Koll über die Geschichte dessen Filmverleihs Salzgeber, der sich seit den 80ern auf den Vetrieb queerer Filme spezialisiert hat. Die Lage des queeren Gegenwartskinos in Deutschland sieht er in diesem Jahr mit den Spielfilmen "Futur Drei", "Kokon" und "Neubau" und den Dokumentarfilmen 'Im Stillen laut' und 'Rettet das Feuer' inhaltlich gut aufgestellt, aber finanziell prekär: "Bedenklich ist natürlich, dass die beiden Dokumentarfilme im Prinzip außerhalb des Systems und auch ohne Förderung entstehen mussten und dass auch 'Futur Drei' mit 120.000 Euro aus Niedersachsen und dann noch mal 20.000 aus Hamburg höchst prekär finanziert wurde. Geld gibt es in Deutschland in der Regel halt nur für Blödsinn. Und wenn da ein studentisches Kollektiv kommt und sagt, sie erzählen vom queeren Heranwachsen eines Einwanderersohns, winken alle ab."

Weitere Artikel: In der FAZ resümiert Bert Rebhandl das in diesem Jahr unter neuer Leitung, aber online stattfindende Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg, das sich ambitioniert "an den Maßstäben von Cannes oder Locarno misst". Kommende Woche wird Jean-Luc Godard 90, was sich zumindest den TV-Programmen aber eher nicht entnehmen lässt, seufzt Rüdiger Suchsland auf Artechock: "Früher wären die Godard-Filme in einer Reihe im Fernsehen gelaufen." Für ZeitOnline blickt Matthias Kalle auf die filmische Darstellung des Nerds im Wandel der Zeit.

Besprochen werden Dominik Grafs und Pia Strietmanns an diesem und am nächsten Sonntag ausgestrahlter Doppel-"Tatort", mit dem die ARD das 50-jährige Bestehen ihrer Krimi-Reihe feiert (FR, Filmdienst), Victor Klemperers "Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945" (Dlf Kultur), das von Daniel Kehlmann geschriebene, von Arte online gestellte Krimi-Drama "Das Verhör in der Nacht" (online nachgereicht von der FAZ) und Marielle Hellers auf DVD veröffentlichter "Der wunderbare Mr. Rogers" mit Tom Hanks (SZ).
Archiv: Film

Design

Sieht immer gut aus: Harry Styles auf dem Cover der Vogue  (Tyler Mitchell)

Völlig hingerissen ist in der SZ Tanja Rest davon, dass die Dezember-Ausgabe der US-Vogue der Popstar Harry Styles in Frauenkleidern ziert: "Styles, der in dem fluffigen Volantgebilde an eine Mischung aus Saloon-Sandy und Scarlett O'Hara erinnert", ist "in dieser Garderobe für alle Ewigkeit in Marmor gemeißelt". Wobei "Styles natürlich in jedem Outfit gut aussieht, weil er einen festen, proportionierten, mit maritimen Tattoos aufs Erbaulichste ausgestatteten Körper hat. Dann bringt der Look der Southern Belle seine femininen Attribute zum Strahlen, als da wären die Türkisaugen, das Schmollmündchen, die in die Stirn springende Haarlocke. Zuletzt ist ein Gucci-Kleid, seit sein Designer-Freund Alessandro Michele dafür verantwortlich zeichnet, ein Bekenntnis zu allem, was der Zeitgeist gerade anbetungswürdig findet: Flamboyanz, Fluidität, ausgelassenes Nerdtum. Mit Kategorien wie 'männlich'/'weiblich' hat dieser Look nichts mehr zu tun."
Archiv: Design

Bühne

Im Juni bezichtigten Mitarbeiterinnen des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe den Generalintendanten Peter Spuhler des Machtmissbrauchs (unsere Resümees). Zunächst wurde Spuhler vom Verwaltungsrat dennoch im Amt bestätigt, jetzt empfehlen Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup und die baden-württembergische Kunstministerin Theresia Bauer eine vorzeitige Vertragsauflösung. Im Interview mit Hartmut Welscher (VAN) erklärt Mentrup: "Mittlerweile habe ich verstanden, an welcher Stelle es da eigentlich krankt und was auf der zwischenmenschlichen Ebene passiert. Am Ende war aber ausschlaggebend, dass es meiner Überzeugung nach mit Herrn Spuhler nicht den Aufbruch geben kann, den das Theater jetzt braucht, dazu herrscht zu viel Misstrauen. Auch hat es in den letzten Wochen Anzeichen dafür gegeben, dass das Haus in verschiedene Gruppen auseinanderfällt, die jeweils ihren eigenen Interessen nachgehen und der Generalintendant letztlich nicht mehr als Entscheider akzeptiert wird. Es gibt keinen gemeinsamen konstruktiven Prozess, sondern ein permanentes Abwarten, bis etwas passiert, das dann wieder als negative Entwicklung gewertet werden kann."

In Russland boomten digitale Theaterübertragungen während des ersten Lockdowns, schreibt Olga Fedianina in einem Theaterbrief aus Russland in der nachtkritik und erklärt: Man hat "in Russland ein eigenes, inniges Verhältnis zum Theater auf dem Bildschirm und Leinwand, und dieses Verhältnis ist geografisch und geschichtlich bedingt. In der Sowjetunion hatte man als Zuschauer fast keinen Zugang zum Theater der restlichen Welt, man reiste kaum, Gastspiele waren rar. Dieser jahrzehntelanges Erfahrungs- und Austauschmangel ließ alle Interessierten auf die Aufzeichnungen zurückgreifen, sofern diese vorhanden waren. (…) Zu Sowjetzeiten gab es deswegen eine beliebte Fernsehgattung, der heute noch viele nachtrauern: Sie hieß 'Film-Theateraufführung' und bestand aus einem Schauspiel, das im Fernsehstudio komplett nachgestellt (und teilweise auch neu inszeniert) wurde."

Weiteres: In der taz empfiehlt Jens Fischer die vom Hamburger Künstler*innen-Kollektiv Picnic inszenierte, der Avantgarde-Künstlerin Cathy Berberian gewidmete Performance "A few words for a woman to sing", die zunächst im Livestream, im Februar dann auch im Hamburger Lichthof-Theater zu sehen ist. Besprochen wird Michael Decars Inszenierung "Nachts im Ozean" im Anhaltischen Theater (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Die für den 17. Dezember geplante Teileröffnung des Humboldt Forums muss coronabedingt nun doch verschoben werden, Livestreams und Online-Führungen sollen stattdessen Einblicke geben, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Für die verantwortlichen Kulturmanager enthält die Entscheidung allerdings auch die Chance, das Unternehmen Humboldt-Forum noch einmal ganz neu zu überdenken."

In der Zeit besucht die amerikanische Journalistin Sally McGrane das Detroiter Haus der Bürgerrechtlerin Rosa Parks, das unter dem Titel "Almost Home: The Rosa Parks House Project" derzeit im Innenhof des Palazzo Reale in Neapel zu sehen ist: "Es hier, inmitten der aufsteigenden steinernen Bogengänge des Palazzo Reale wieder aufzubauen, ist ein Bekenntnis zu Inklusion und Teilhabe, erst recht in einer Zeit, in der Italien nicht immer bereit ist, die an seinen Küsten ankommenden Migrant*innen und Geflüchtete willkommen zu heißen."
Archiv: Architektur

Musik

Miley Cyrus hält ihren Takt: Pro Album ein Imagewechsel, auch ihr siebtes Album "Plastic Hearts" macht da keine Ausnahme. Jetzt "hat sie die letzten Rockjahrzehnte für sich entdeckt und ist nun die edle Rockerin mit blondem Vokuhila, zerrissenen Jeans und Lederhandschuhen", erklärt in der Berliner Zeitung Nadja Dilger, die die vorliegenden Stücke, darunter viele Coverversionen, allerdings einigermaßen achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Der Versuch, den Radio-Rocksound in die Gegenwart zu tragen, glücke "nicht wirklich." Sogar Billy Idol und Joan Jett kamen für dieses Album ins Studio, in dem SZ-Kritiker Joachiam Hentschel daher eine "völlig überdrehte semiotische Übererfüllung" sieht. Wer "Plastic Hearts" und den damit einher gehenden Imagewandel aber als Versuch sieht, noch nicht erschlossene Marktsegmente für Cyrus zu interessieren, gehe fehl, meint er: Dieses Album sei in erster Linie "ein Update fürs Corporate Design. Unter anderem auch das Launch-Signal für die neue T-Shirt- und Hosen-Kollektion, die in der Nacht zur Albumveröffentlichung freigeschaltet wurde." Wir hören rein:



Sehr unzufrieden zeigt sich Jürgen Kesting in der FAZ damit, dass der Begriff "Belcanto" mitterweile inflationär in seiner wortwörtlichen Bedeutung "schöner Gesang" verwendet wird, und erklärt, was es damit wirklich auf sich hat: "In das musikalisch-technische Vokabular drang er erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein: als defensiver Terminus zur Verklärung einer verblühten Kunst."

Weitere Artikel: Für die NZZ hört sich Moritz Weber durch jüngste Aufnahmen von Beethovens Sonaten. Georg Rudiger hat sich für den Tagesspiegel mit der Sängerin Fatma Said getroffen. Im Tagesspiegel porträtiert Frederik Hanssen den Sänger Frederic Jost. Im Standard glossiert Amira Ben Saoud über die Social-Media-Aufregungen nach den Grammy-Nominierungen: "Oh boy, es ging sogleich rund auf Twitter." Karl Fluch erinnert im Standard daran, wie vor 30 Jahren Milli Vanilli aufflogen. Besprochen wird Benees Debütalbum "Hey U X" (taz).
Archiv: Musik