Efeu - Die Kulturrundschau

Wucht, Wärme, Weite

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28.02.2019. Im Börsenblatt verteidigen einige Buchhändler Takis Würger, dessen Erfolg Feuilletons ihren Bedeutungsverlust vor Augen geführt habe. Warum kommen die Vorwürfe erst jetzt, fragt Daniel Barenboim im Zeit-Interview, eine Kampagne witternd. In der Welt erinnert Bazon Brock daran, dass Mies van der Rohe auch Hitler auf den Freischwinger setzte. Pädagogisch wertvoll finden die KritikerInnen George Tillmans  "The Hate U Give". Und der Guardian feiert die Nackten der Renaissance in der Londoner Royal Academy of Arts.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2019 finden Sie hier

Literatur

In einem offenen Brief, den das Börsenblatt dokumentiert, stellen sich zahlreiche Buchhändler hinter Takis Würger und seinen Roman "Stella", der mittlerweile sogar die Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Verunglimpfung beschäftigt. Die Händler zielen vor allem auf die Literaturkritik, die das Buch nahezu einhellig in den Boden gerammt hat: Zwar wurde über die angemessene Form zur literarischen Darstellung des Nationalsozialismus schon früher gestritten, doch würden die Kritiker mittlerweile "die Lufthoheit" darüber beanspruchen, "dabei den Begriff des Erzählens umdeuten und die Freiheit des literarischen Schreibens einschränken. Dieser Umgang mit Literatur verbietet sich. Zugleich, so scheint es, befinden sich die KritikerInnen längst in einem Überbietungswettstreit, denn nur der noch schärfere, noch überzogenere Beitrag wird gelesen. Insgesamt drängt sich uns der Eindruck auf, dass es den KritikerInnen weniger um den Roman geht, sondern vor allem darum, dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Feuilletons zu begegnen, indem sie selbst künstlich Debatten initiieren, die eigentllich keine Grundlage haben."

Weitere Artikel: Für die Welt plaudert Jennifer Wilton mit Ärzte-Musiker Bela B. Felsenheimer über dessen Romandebüt "Scharnow". Besprochen werden unter anderem Jörg-Uwe Albigs "Zornfried" (taz), Josephine Rowes "Ein liebendes, treues Tier" (ZeitOnline, FAZ), das von Sandra Hüller gelesene Hörbuch zu Mariana Lekys Roman "Die Herrenausstatterin" (FAZ), Franzobels "Rechtswalzer" (taz) und neue Biografien über Theodor Fontane (SZ)
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Kunst

Neapolitanische Danaë. Tizian, 1545/46, Galleria nazionale di Capodimonte, Neapel

Die in der Londoner Royal Academy of Arts gezeigte Schau "The Renaissance Nude", die männliche und weibliche Akte in gleicher Anzahl zeigt, ist keine Reaktion auf #MeToo, erfährt Charlotte Higgins im Guardian von Kurator Per Rumberg - die Ausstellung sei schon länger in der Planung. Dass die Schau, die sich der Dominanz des Aktes in der Renaissance widmet, in Zeiten, in denen Feministinnen weibliche Akte am liebsten verbannen möchten, gänzlich unzensiert bleibt, begrüßt Higgins: "Gerade jetzt scheint es besonders wichtig zu sein, Akte nicht von den Wänden zu entfernen, sondern kritisch zu betrachten und sich der universalisierenden Kraft des Vertrauten zu widersetzen. Die sinnlich ruhenden Akte Tizians - seine wunderschönen Danaën, die von Goldmünzen vergewaltigt werden, seine ertrinkenden Waldnymphen, seine Venus-Darstellungen - sie haben einen wichtigen Vorläufer: einen Holzschnitt in einem exquisit dekorierten Buch, das Ende des 15. Jahrhunderts von der Venezianischen Aldinen-Presse gedruckt wurde. Es wird Hypnerotomachia Poliphili genannt und zeigt eine weibliche Figur, nackt und liegend. Über ihr schwebt ein Satyr - halb Ziege, halb Mensch - sein Penis steht aufrecht. Der Satyr verschwindet aus den vielen nachfolgenden Darstellungen ähnlicher schlafender, verletzlicher Frauen. Aber man könnte sagen, er sei nie weggegangen."

Weitere Artikel: In der SZ stellt Thomas Jordan das Projekt Net Art Anthology vor, das ein Archiv mit repräsentativen Netzkunstwerken für die Jahre 1984 bis 2016 zusammengestellt hat.

Besprochen werden die Jun-Yang-Ausstellung im Kunsthaus Graz (Presse), die Emil-Pirchan-Ausstellung im Folkwang Museum in Essen (Standard), die Norbert-Schwontkowski-Ausstellung in der Charlottenburger Galerie Contemporary Fine Arts (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit Bildern des Bauhäuslers Lux Feininger im Berliner Kunsthandel Irene Lehr (Tagesspiegel), die Ausstellung "Rubens, van Dyck, Ribera. La collezione di un principe" im Palazzo Zevallos Stigliano", Neapel (SZ) die Ausstellung "Kulturlandschaft Syrien. Bewahren und Archivieren in Zeiten des Krieges" im Pergamonmuseum (FAZ).
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Architektur

Das Bauhaus war keineswegs nur "weltoffen, multikulturell und tolerant", ruft Bazon Brock voller Abscheu in der Welt und betont den Synkretismus der Moderne: "Mies van der Rohe demonstriert das Freiheitsgefühl des Modernisten als Opportunismus: Design als Einpassung, wie es Darwin mit der Maxime 'Survival of the fittest' definierte. Spielerisch gelang es Mies und anderen Modernisten des Gestaltungspathos, Hitler auf den Freischwinger zu setzen und in der Produktionssphäre der NS-Industrie die Kriterien von Kraft durch Freude und Arbeit in guter Luft, hellem Licht bei bester Gesundheit allgemein verbindlich zu realisieren."

Weitere Artikel: Offenbar gelungen findet Gottfried Knapp in der SZ den von dem Architektenteam um Volker Staab entworfenen Neubau der vor achtzig Jahren zerstörten Regensburger Synagoge, der ihn an die jüngst errichteten orthodoxen Synagogen in Dresden und München erinnert "Alle drei Synagogen schließen sich gegen die Außenwelt hermetisch ab, sie bieten keinen Einblick von außen, aber auch keinen Ausblick nach draußen." Überwältigt ist indes Jan Brachmann in der FAZ vom frisch sanierten Grand Theatre in Genf, das nun "Wucht, Wärme, Weite und Wohnlichkeit" ausstrahle. Zum Neunzigsten gratulieren Frank Gehry in der Berliner Zeitung Nikolaus Bernau und in der FAZ Niklas Maak.
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Musik

"Ich habe kein Verbrechen begangen, ich habe niemanden belästigt" erwidert Daniel Barenboim im Interview mit der Zeit auf die Vorwürfe, er sei ein Choleriker und würde seine Musiker demütigen. Er wirft den Journalisten "tendenziöse" Berichterstattung vor und fordert mehr Geld vom Bund für die Staatskapelle. Für Barenboim ist  "das Ganze eine Kampagne. Nehmen wir an, alles, was gesagt wird, wäre wahr, vielleicht ist es sogar noch schlimmer gewesen. Warum kommt es ausgerechnet jetzt an die Öffentlichkeit - und nicht vor sechs Wochen oder sechs Jahren? Ich bin seit 28 Jahren in Berlin! Und ich habe mich nicht so sehr verändert. Das Timing ist mir suspekt."

Derweil legt im Welt-Interview mit Manuel Brug Leo Siberski, früher Erster Trompeter unter Barenboim, nach: Barenboim agiere wie ein "Sonnenkönig", auch vom Orchestervorstand gab es keinen Rückhalt: "Die roten Linien des Widerspruchs sind von seiner Seite außerdem seit vielen Jahren so niedrig gezogen, dass der Orchestervorstand gar nicht so agieren kann wie in jedem anderen Orchester. Man sieht das systemische Problem deutlich an der jüngsten Solidaritätsbekundung für Barenboim im Namen der Kapelle: ein Votum für dieses bedeutende Statement wurde von den Musikern überhaupt nicht eingeholt. Die Konsequenz war und ist letztlich nur, zu bleiben oder zu gehen. Und wenn man blieb, dann schaute man eben zu Boden, wenn der Chef wieder einen Kollegen vor allen anderen fertig machte." Im Tagesspiegel plädiert Frederik Hanssen zum einen dafür, dass die Streitereien hausintern geklärt werden, zum anderen dafür, dass Kultursenator Klaus Lederer noch in dieser Saison einen Nachfolger für Barenboim präsentiert, dessen Vertrag 2022 ausläuft.

Weiteres: Im Standard listet Ljubisa Tosic auf, welche Herausforderungen am Wiener Musikverein auf Stephan Pauly zukommen. Für die taz plaudert Johann Voigt mit Dendemann. Für The Quietus spricht Michael Rother, dessen Soloalben gerade in einem Set wiederveröffentlicht wurden, über seine Lieblingsplatten.

Und dumm gelaufen: Live spielte Rocko Schamoni sein neues Stück "Mark Hollis lebt" schon im letzten Jahr, eigentlich sollte dem ein Dokumentarfilm folgen, in dem er sich auf die Suche nach dem Talk-Talk-Sänger macht. Jetzt hat ihm der Tod einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber zumindest ein Musikvideo ist es noch geworden:



Besprochen werden "Eton Alive" von den Sleaford Mods (The Quietus), ein Konzert des Mandolinisten Avi Avital mit dem "The Knights"-Orchester (NZZ) und Morcheebas Auftritt in Heidelberg (FAZ).
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Bühne

"Die gesamte Sparte Tanz mit allen Orten, Ensembles und Akteur*innen erhält pro Jahr gerade einmal genau so viel wie ein einzelnes Sprechtheater, die Schaubühne", zitiert in der Berliner Zeitung Michaela Schlangenwerth aus einem Bericht des von der Berliner Kulturpolitik einberufenen Runden Tisches Tanz, der sich für eine Landesbühne für zeitgenössischen Tanz und Förderungen für die freie Tanzszene einsetzt. Sie erklärt das Unverhältnis in der Verteilung der Fördergelder: "In den 1920er- und frühen 30er-Jahren zählte Berlin zu den weltweit wichtigsten Zentren der neuen zeitgenössischen Tanzkunst. Der 'German Dance' wurde zu einem stehenden Begriff. Nach 1945 war davon so gut wie nichts mehr übrig. Während in den USA der 50er-Jahre etwa ein Merce Cunningham gemeinsam mit seinem Lebensgefährten, dem Komponisten John Cage, mit radikal neuen Tanzformen experimentierte, war in Deutschland der zeitgenössische Tanz fast völlig verschwunden. Klassisches Ballett war angesagt."

Verärgert haben sich Christine Lemke-Matwey und Adam Soboczynski für die Zeit die staatlich finanzierte Broschüre zum Kulturkampf gegen Rechts (Unser Resümee) angesehen, in der sowohl Ex-Feuilleton-Zeit-Chef Jens Jessen als auch Zeit-Autor Ulrich Greiner aufgrund konservativer Artikel zu rechten Kulturkämpfern gemacht würden. Überhaupt mache die Broschüre keinen Unterschied zwischen konservativen, liberalkonservativen, rechtsextremen, rassistischen, Gendertheorie-skeptischen oder rechtspopulistischen Positionen: "Alles abseits der reinen Lehre, die hier vertreten wird, erscheint so als Vorstufe zur Nazi-Barbarei, was nicht nur historisch gesehen grober Unfug ist. Die Schrift ist beseelt von einer durchsichtigen Strategie, sich selbst gegen jede Kritik zu immunisieren (die könne dann ja auch wieder nur von irgendwie rechter oder rechtsradikaler und in jedem Fall illegitimer Seite kommen). Es wird ein Lagerdenken ganz alter Schule verbreitet, und man fragt sich unweigerlich, weshalb eine solche 'Handreichung' für die Theater, die in Wahrheit eine ideologische Kampfschrift ist, nicht nur vom Berliner Senat, sondern auch vom Bundesfamilienministerium gefördert wird."

Weitere Artikel: Trotz steigender Zuschauerzahlen und spürbarer Modernisierung des Hauses muss Florian Lutz, Intendant des Theaters Halle, nach nur wenigen Spielzeiten und einem öffentlich geführten Kampf mit Geschäftsführer Stefan Rosinski seinen Hut nehmen, meldet Regine Müller in der taz. Rosinski könne nun "als Sieger vom Platz gehen, weil sein Dauer-Störfeuer Ressentiments und politische Instinkte weckte." Im Standard gratuliert Andrea Heinz der Schauspielerin Erika Pluhar mit einem Porträt zum Achtzigsten.

Besprochen werden Łukasz Twarkowskis und Marcin Ceckos Stück "Es war einmal…das Leben" in Hannover (SZ), Jan Friedrichs Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" am Schauspiel Dortmund (SZ).
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Film

Amandla Stenberg in "The Hate U Give" (20th Century Fox)

Ein 16-jähriges schwarzes Mädchen lebt einerseits in einem schwarzen Viertel, geht andererseits auf eine mehrheitlich weiße Privatschule - dann wird ihr bester Freund von Polizisten erschossen. Sehr gern haben die Filmkritiker George Tillmans Verfilmung von Angie Thomas' Jugendbuch "The Hate U Give" gesehen: tazlerin Barbara Schweizerhof feiert einen "mitreißenden Film" mit einem "ausdrucksstarken Ensemble". SZ-Kritiker Nicolas Freund spricht davon, dass der Film "fast essayistisch die oft ignorierten anderen Perspektiven und die vielen toten Winkel im Umgang mit Rassismus ausleuchtet", was zwar "sehr pädagogisch" wirke, doch gerade darin bestehe "die große Stärke des Films". Marietta Steinhart verortet den Film auf ZeitOnline im Kontext eines jungen BlackLivesMatter-Kinos, das sich mit sehr unterschiedlichen Beiträgen zu einem zentralen Bestandteil des Gegenwartsfilms festigt.

Die Oscar-Verleihung vom Sonntag lässt das Feuilleton nicht zur Ruhe kommen: Ziemlich aufgeladen findet Barbara Schweizerhof im Freitag die ganzen Debatten, insbesondere wenn manche Kommentatoren im Oscar für "Green Book" einen Backlash des konservativeren Hollywoods sehen - schlussendlich waren die Oscars 2019 eben doch "ein Jahrgang, in dem einmal nicht die Wenigen dominierten, sondern die Vielen." In der NZZ verteidigt Urs Bühler den vielgescholtenen Hauptgewinner: "'Green Book' ist bei aller Ernsthaftigkeit des Grundthemas ein Feel-Good-Movie, und da liegt vielleicht der Hund begraben: Mitunter scheint sich die professionelle Filmkritik vor nichts so sehr zu fürchten wie vor guter Laune. Man setzt sie mit Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit gleich, während doch die wahre Kunst nur Angst, Depressivität oder zumindest Ratlosigkeit verbreiten kann." Alles schön und gut, meint Alice Hasters in der Spex, aber das könne ja nun nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier "eine Geschichte über Rassismus als feel good movie erzählt wird". Mit gleich acht Kritiken feiert Artechock "Green Book".

Weitere Artikel: Für die taz wirft Fabian Tietke einen Blick in die dem ägyptischen Regisseur Youssef Chahine gewidmete Retrospektive im Kino Arsenal. Besprochen werden Jia Zhang-Kes "Asche ist reines Weiß" (SZ, Artechock, begeisterte Kritiken dazu bereits im gestrigen Efeu), der Rachethriller "Hard Powder" mit Liam Neeson (taz, SZ), Filme über die insbesondere von Linksliberalen gefeierte Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg (NZZ), der Horrorfilm "Escape Room" ("solide hartes Kino", meint Christian Schachinger im Standard), die Serie "Deadly Class" (FAZ) und die auf TNT gezeigte Serie "I Am The Night" über den Mord an Elizabeth Short, bekannt als "Schwarze Dahlie" (FAZ).
Archiv: Film