Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2005. In der SZ beobachtet Navid Kermani Frauen in iranischen Cafes. Im Tagesspiegel bringt sich ein Überraschungskandidat für die Intendanz des Deutschen Theaters ins Spiel: Bernd Wilms, Intendant am Deutschen Theater. Die NZZ bewältigt polnische Vergangenheit. Die FAZ lässt ihre Kinder betreuen. Die Berliner Zeitung feiert den Neoformalismus. Die FR blickt mit Adam Green lange ins Leere.

FR, 07.01.2005

Silke Hohmann porträtiert den 23-jährigen Star der New Yorker Antifolk-Bewegung Adam Green, der gerade durch Deutschland tourt: "Ein interessanter junger Mann, der erbittert gegen Computer Stellung bezieht und für das Einfache, Direkte. Der Musik macht, für die man die alten Cohen-Platten mal ruhen lassen kann. Gleichzeitig gibt der sperrige Adam Green, auf den sich irgendwie alle einigen können, den kleinen Bravo-Lesern das gute Gefühl, dass man cool, ungezogen und subversiv zugleich sein kann, ohne sofort einer Jeanswerbung zu gleichen. Vielleicht verkörpert er das Leben ohne jene zielgerichteten Pragmatismus, der die funktionstüchtigen Kinder von heute auszeichnet? 'I don't know, I mean...', ist eine sehr häufig verwendete Antwort. Beim folgenden langen Blick ins Leere steht sein Mund leicht offen." (Das sieht dann so aus.)

Weiteres: Krystian Woznicki sinniert anlässlich der Flutwelle über die Brüchigkeit des Paradieses. Christoph Schröder meldet, dass Arnulf Conradi "ab sofort die Geschicke des Berlin Verlags in die Hände seiner Noch-Ehefrau, Mitbegründerin und Cheflektorin Elisabeth Ruge legt". Gemeldet wird außerdem der Tod des Comic-Zeichners Will Eisner.

TAZ, 07.01.2005

Gestern berichtete die Berliner Zeitung, das Kursbuch werde künftig vom Zeit-Verlag herausgegeben (wir haben die Meldung übersehen, sorry). Dirk Knipphals hat nachrecherchiert und von Kursbuch-Herausgeber Tilman Spengler erfahren, dass die Sache noch nicht spruchreif ist: "Schreiben Sie doch aber, dass ich diesmal keine Weihnachtskarte von Rowohlt, dafür aber zwei von der Zeit bekommen habe."

Weiteres: Auch die taz interessiert sich für Adam Green, Arno Frank hat ein längeres Interview mit dem Musiker geführt, der behauptet, Beck habe einen Scientologen aus ihm machen wollen. Laut Gerrit Bartels hat Arnulf Conradi den Berlin Verlag verlassen, um künftig in der Kulturpolitik mitzumischen. Martin Zeyn würdigt den "ersten comic-book-Rebell" Will Eisner, der am Montag gestorben ist. Jörg Sundermeier stellt die neue CD von Jeans Team vor.

Schließlich Tom.

SZ, 07.01.2005

Der Schriftsteller Navid Kermani berichtet von einem Besuch im iranischen Isfahan, wo er einen langsamen, aber erfreulichen Wandel feststellen konnte: "Anders als in den meisten arabischen Teehäusern sieht man unter der Brücke der dreiunddreißig Bögen auch Frauen, junge Frauen, niemals allein zwar, oft mit ihren Freundinnen. Das war früher nicht so; die Frauen selbst haben sich ihre Plätze erobert in den letzten Jahren, und sollte einer von den Stammgästen es wagen, sich zu beschweren, würden sie ihm ein Liedchen pfeifen. Leider nur ist Zapfenstreich schon um Mitternacht, so dass ich nicht immer schon innerlich so ruhig geworden bin wie das Wasser des Zayanderuds, wenn ich nach Hause trotte. Die Islamische Republik mag es nicht, dass sich ihre Bürger abends zu spät noch draußen vergnügen. Vielleicht weil sie fürchtet, die Bürger könnten das Frühgebet verschlafen, das immer weniger von ihnen verrichten, vielleicht weil sie das Vergnügen als solches fürchtet. Warum sonst hat sie es in ihren ersten Jahren gänzlich abgeschafft? Mögen die Bürger also dankbar sein, dass sie ihre Wasserpfeife inzwischen bis Mitternacht rauchen und dabei sogar so etwas Weltliches wie Musik hören dürfen. Musik!"

Weiteres: Der Südostasien-Forscher Hans-Bernd Zöllner schildert, wie seismische Erschütterungen in Südasien immer auch die Militärregimes ins Wanken brachten. Stefan Koldehoff berichtet vom Prozess gegen Stephane Breitwieser, dem erfolgreichsten Kunstdieb des 20. Jahrhunderts. Bei 177 Diebstählen hatte er insgesamt 239 Kunstwerke erbeutet, geschätzter Wert: 20 Millionen Euro. Andrian Kreye berichtet aus den USA, wie die Justiz Versuche der Regierung Bush abwehrt, ihre Unabhängigkeit in Frage zu stellen. Diese überlegt offenbar, die Berufung der Obersten Richter auf Lebenszeit und damit ihre politische Immunität abzuschaffen. Fritz Göttler verabschiedet den Zeichner Will Eisner, den Dynamo, das Mastermind der amerikanischen Comics. Lothar Müller ist verblüfft von der Meldung, dass Arnulf Conradi mit 60 Jahren die Herausgeberschaft des Berlin Verlags aufgeben will.

Tobias Timm stellt das Berliner Büro "Realities United" vor, das in Graz mit dem Kunsthaus die bisher größte Medienfassade der Welt gebaut hat (nein, nicht in Schanghai). Diese sind offenbar schwer im Kommen: "In vielen großen Wettbewerben finden sich derzeit Entwürfe, die eine totale Monitorisierung vorsehen, egal ob es um Olympia-Stadien in China oder den Flughafenterminal in Berlin Schöneberg geht." Klaus Peter Richter erzählt die Geschichte von Unitel, Leo Kirchs einstigem Filmarchiv der klassischen Musik. Lothar Müller schickt Glückwünsche zum Neunzigsten an den Diplomaten und Schriftsteller Erwin Wickert.

Besprochen werden Kevin Smith' Film "Jersey Girl", Claude Chabrols Liebesfilm "Die Brautjungfer", die Ausstellung "Kirchner. Heckel. Schmidt-Rottluff. Nolde" im Folkwang Museum Essen und Bücher, darunter ein Band über "Afrika und die deutsche Sprache" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 07.01.2005

Jeden Tag eine neue Szene im Drama um das Deutsche Theater. Nachdem sich gestern Christoph Schlingensief in der taz als neuer Intendant ins Gespräch brachte, meldet sich heute ein weiterer Überraschungskandidat im Tagespiegel: Noch-Intendant Bernd Wilms. "Man kann natürlich darüber nachdenken, ob und wie die Arbeit, die wir in den zurückliegenden Jahren begonnen haben, unter etwas anderen Vorzeichen fortzusetzen ist", signalisiert Wilms im Interview mit Rüdiger Schaper. Aber er bezweifelt, dass Kultursenator Thomas Flierl mitmacht: "Die Gesprächsresistenz des Senators ist enorm."

NZZ, 07.01.2005

Gerhard Gnauck schildert, wie wenig Interesse die Polen für ihre Stasi-Akten aufbringen, obwohl doch nirgends im Ostblock "Verfolgung und Widerstand ein so umfangreiches Kapitel im Buch der jüngsten Geschichte" bildeten wie in Polen. "Mehrere bekannte Bürgerrechtler haben bewusst darauf verzichtet, ihre Akte zu lesen: Oft nennen sie als Begründung, alte Wunden nicht wieder aufreißen zu wollen, zum Teil auch ihre tiefe Enttäuschung über das neue und doch von alten Seilschaften durchwirkte, von sozialen Härten und sicher auch von 'historischen Ungerechtigkeiten' gebeutelte Polen. Wer alte Wunden nicht anrühren will, den schmerzen sie noch: Auf diesem Hintergrund erscheint das millionenfache Aktenlesen in Ostdeutschland als Luxusphänomen einer Wohlstandsgesellschaft, welche die Stasi-Relikte unter einer Glasglocke aus sicherer Entfernung betrachten kann." (mehr beim IPN und der Lustrationsbehörde)

Weiteres: Isabelle Imhof erzählt, wie Forscher in Luxor Tutanchamuns Mumie aus dem Sarg genommen und in einem Computer-Tomographen untersucht haben. Sie wollen nun endgültig klären, wie alt der Pharao wurde. Lutz Windhöfel stellt den Entwurf der Architektin Zaha Hadid für ein neues Stadtcasino in Basel vor. Der Philosoph Otfried Höffe war zum Ausklang des "Kant-Jahres" in Teheran. George Waser berichtet von Kürzungen im britischen Kulturbetrieb. Christian Gasser schreibt den Nachruf auf Will Eisner, "einen der wichtigsten Zeichner und Autoren der Comics-Geschichte."

Auf der Filmseite staunt Till Brockmann über Zhang Yimous Schwertkampffilm "House of Flying Daggers": "Ob Gefühle oder Gewalt, alles materialisiert sich in Form, Farbe, Bewegung und vor allem Schönheit. Choreografie, Landschaften, Dekor, Kostüme, selbst die Wahl der Schauspieler sind diesem Prinzip untergeordnet." Claudia Schwartz stellt die Ausstellung "Die Kommissarinnen" im Berliner Filmmuseum vor.

Auf der Medien- und Informatikseite analysiert der Soziologe Kurt Imhof in einem langen Artikel die gewandelte Deutung von Naturkatastrophen im 20. Jahrhundert. Und set. berichtet, dass Microsoft, Google und Yahoo ihre Suchmaschinen aufrüsten wollen, um den Nutzer nicht nur die Suche im Internet zu erleichtern, sondern auch die Durchforstung des eigenen PCs!

Berliner Zeitung, 07.01.2005

Sebastian Preuss ruft eine (vielleicht auch nicht ganz neue?) Kunstbewegung aus, sich die zur Zeit im Hamburger Kunstverein in der Ausstellung "Formalismus" präsentiert, eine ganze Gruppe jüngerer Künstler, die mit unedlen Materialien Techniken der klassischen Avantgarden aufgreifen und sich so gegen die modische neue Malerei wenden: "Warum sind die klassischen Avantgarden für eine junge Künstlerschicht so attraktiv? Ist es die größer werdende zeitliche Distanz? Ein Reflex gegen die Elterngeneration, die in den Sechzigern voller Leidenschaft den Konstruktivismus und die gestische Abstraktion mit den Botschaften von Beuys und Warhol begrub? Oder ist es womöglich der Einspruch gegen jene Übermacht des Pop, welche im Boom der modischen Szene-Malerei mündete, die diesen Künstlern so fremd ist?"

Zeit-Herausgeber Michael Naumann hat inzwischen bestätigt, dass die Zeit das Kursbuch übernehmen wird, berichtet Christian Esch.

Weitere Medien, 07.01.2005

In einem Artikel im britischen Guardian erzählt Sir Simon Rattle recht offen von seiner "turbulenten Affäre" mit den Berliner Philharmonikern: "Da ist schon etwas dran, dass britische Musiker flexibler, schneller und in ihren Auffassungen weniger fixiert sind. Einige Dinge sind für deutsche Musiker viel schwerer. In Berlin, oder in Wien, muss man zum Beispiel hart daran arbeiten, französische Musik gut klingen zu lassen. Sie können es, es ist einfach nicht so natürlich... Als ich Wagners Präludium (aus Tristan und Isolde) spielte, gab es sofort das Gefühl von "Oh ja, hier sind wir zuhause, hier ist unser Klang. Und es kommt dieser außergewöhnliche Glanz, den man nicht an vielen Orten bekommt."

FAZ, 07.01.2005

Sandra Kegel schreibt einen familienpolitischen Aufmacher und erklärt den Bevölkerungsrückgang in Deutschland nicht mit Kinderfeindlichkeit, sondern gerade mit einem viel zu sentimentalen Familienbild: "Mehr als unter fehlender Kinderbetreuung leiden die Deutschen an einem romantisch-verklärten Familienbild, das arbeitende Mütter mit glücklichen Kindern nicht vorsieht."

Weitere Artikel: Eleonore Büning schreibt über ein angebliches Mozart-Porträt (hier), das jetzt als solches entdeckt wurde - es stammt von dem Maler Johann Georg Edlinger, wurde 1790 gemalt und gehört zum Bestand der Berliner Gemäldegalerie. Heinrich Wefing hat für die Leitglosse das Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gelesen, wo erzählt wird, wie die DDR einst Kunstschätze verhökern wollte, um im Westen Jeans kaufen zu können. Kerstin Holm berichtet über den neuen Roman von Viktor Pelewin, das "Heilige Werwolfbuch", das aktuelle Themen wie die Korruption in Russland mit traditionellen Märchenmotiven verbindet. Walter Hinck gratuliert dem Autor Erwin Wickert zum Neunzigsten. Der Volkswirtschaftsprofessor Wolf Schäfer antwortet auf einen Artikel des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof aus dem letzten Dezember und bekämpft im Namen des Wettbewerbs dessen "organische Staatsauffassung".

Auf der Medienseite zeichnet Andreas Rosenfelder ein deprimierendes Stimmungsbild aus der Redaktion des Musiksenders Viva, der von MTV aufgekauft wurde und nun zu einer Abspielstation für Jamba-Spots verschlankt wird. Und Michael Hanfeld analysiert, wer in den Tagesthemen im Jahr 2004 was kommentieren durfte

Auf der letzten Seite liest Andreas Rossmann einige Gesprächsbände der Kunststiftung NRW, in denen die Protagonisten der Kunstszene die große Zeit des Rheinlands als "wichtigster Kunstregion neben New York" feiern. Peter Brosche freut sich, dass verloren geglaubte Jahrgänge der Stolberger Zeitung des von Arno Schmidt so geschätzten Aufklärers Johann Gottfried Schnabel wieder aufgefunden wurden. Und Richard Kämmerlings porträtiert die Verlegerin Elisabeth Ruge, die die Nachfolge Arnulf Conradis beim Berlin Verlag antritt.

Und im Leitartikel auf Seite 1 des politischen Teils versucht Dietmar Dath, "Einsteins Moderne" zu erfassen.

Besprochen werden Zhang Yimous Film "House of the Flying Daggers", die Ausstellung "Tauchfahrten - Zeichnung als Reportage" im Kunstverein Hannover und Dani Levys neuer Film "Alles auf Zucker".