Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.08.2006. Vanity Fair sieht die New York Times am Internet und Arthur Sulzberger jr. untergehen. In Elet es Irodalom fragt Rudolf Ungvary, warum Günter Grass nach seinen Erfahrungen im Dritten Reich schweigt, wenn der Iran Israel bedroht. Im Express sprechen Ornette Coleman und Bob Dylan über ihre Musik. Im Spiegel beschreibt Salman Rusdie die islamischen Terroristen als bourgeoise Abenteurer. Il Foglio empfielt UN-Soldaten im Libanon Rossinis "Die Italienerin in Algier" als Handbuch für Benehmen im Feindesland. Die Gazeta Wyborcza beobachtet den Aufbau einer nationalen ukrainischen Geschichtsversion. Prospect feiert den sowjetischen Schriftsteller Wassilij Grossman. In den Blättern für deutsche und internationale Politik erklärt der inhaftierte iranische Philosoph Ramin Jahanbegloo seinen Begriff des "weichen Universalismus". In Babelia wettert der holländische Architekt Felix Claus wider den Geniekult seiner Zunft. Wired erklärt den Erfolg des Internetmagazins Pitchfork.

Vanity Fair (USA), 01.09.2006

Michael Wolff hat einen atemberaubenden Bericht über den Zustand der New York Times verfasst. Die Aktien sind seit 2002 um fünfzig Prozent gefallen. Die Zeitung ist so schwach geworden, dass sogar die "schwachen Bush-Leute sich stark genug fühlen, sie anzugreifen". Das Publikum läuft weg, Shareholder nagen an ihr, und Arthur Sulzberger jun., 54 Jahre alt und seit 1992 Herausgeber, versucht die Zeitung ins Internetzeitalter zu führen, wo sie für Wolff nichts zu suchen hat: Die mit viel Geld und Sachverstand erarbeiteten langen Versionen der Times "werden benutzt als Futter für die Kurzversion von jedermann... Das Internet, das einst als ideales Vehikel angesehen wurde, um ein gezieltes Publikum anzusprechen, entwickelt sich zu einem Supermassenmedium mit gigantischem Umfang, das auf billige Werbung angewiesen ist... Was die Times bestenfalls werden kann, ist so etwas wie about.com, ein Informationsplattform mit viel Umfang und wenig Qualität und riesigen Mengen an werbebezogenen Daten im Angebot, das Amateure, Fetischisten und Hobby-Journalisten einspannt, die für wenig Geld viel Ramsch produzieren, um die Page-View-Zahlen zu erhöhen." (Aber vielleicht hätte die New York Times einfach nur statt about zu kaufen besser in technorati investiert, um die besten Blogs auf ihrer Seite zu versammeln?)
Archiv: Vanity Fair

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.08.2006

In den vierziger Jahren hat Günter Grass über die Verfolgung der Juden im Alltag hinweg geschaut, heute weigert er sich, die Diktatoren der Gegenwart zu verurteilen, kritisiert Rudolf Ungvary. "Vor 1945 war allen Zeitgenossen von Grass klar - nicht nur den Mitgliedern der SS -, dass es 'Judengesetze' gab, dass viele Juden verschwanden. Sie hörten deutlich, wie Hitler seine Reden brüllte. Sie wussten, dass nur die Vertreter einer einzigen politischen Richtung ihre Meinung äußern durften. War all das nicht genug, um den Sieg des Faschismus nicht zu wünschen (unabhängig davon, ob man freiwillig Mitglied der Partei oder einer militärischen Organisation wurde)? ... Grass hat Amerika verflucht, aber zu den Drohungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad geschwiegen. Vor 1945 konnte er wissen, dass den deutschen Juden etwas Schreckliches passiert. Auch jetzt muss zu seinen Ohren vorgedrungen sein, was der iranische Präsident fordert, nämlich Israel von der Landkarte auszulöschen."

Unmittelbar vor dem 50. Jahrestag des ungarischen Aufstandes von 1956 erschien eine umstrittene Monografie von György Moldova über Janos Kadar, den Diktator des Gulaschkommunismus, der an der Niederschlagung des Aufstandes maßgeblich beteiligt war. Moldova feiert Kadar als eine bedeutende historische Persönlichkeit. Peter Esterhazy mag das Buch nicht verurteilen: "Wir wiederholen automatisch immer die gleichen Sätze: Kadar sei Verräter und Mörder gewesen. Auch wenn das stimmt, es bleibt ein Klischee, ein Alibi... All das resultiert auch aus einem tiefen Desinteresse: wenn wir uns für das Thema wirklich interessieren würden, dann würden wir uns nicht mit hervorgerülpsten Stereotypen zufrieden geben."

Express (Frankreich), 24.08.2006

In einem wunderbaren Interview spricht der Jazz-Saxofonist Ornette Coleman über die Entwicklung seiner Musik. Der inzwischen 76-Jährige, der am 30. August das Pariser Jazzfestival eröffnen wird, erzählt viele Anekdoten, darunter über seine ersten New Yorker Auftritte im Five Spot im November 1959. Am ersten Abend mussten er und seine Mitspieler nach empörten Zuhörerprotesten die Bühne verlassen, am nächsten Tag brach in den Zeitungen eine Debatte über seine Musik los. "Man warf mir vor, falsch zu spielen, keine Ahnung von Noten oder Harmonie und den Regeln des Bebpo zu haben. Man gab meiner Musik den Beinamen 'Freejazz', was so viel hieß wie 'bedeutungslos'. Am dritten Abend bemerkte ich zu meiner großen Überraschung Leonard Bernstein: Er kam auf die Bühne, umarmte mich, nahm das Mikro und erklärte, unsere Musik sei das Interessanteste, was er seit Charlie Parker und Thelonious Monk in den Vierzigern gehört habe. Er flüsterte mir ins Ohr: 'Es ist viel besser, gekreuzigt zu werden als sich zu langweilen, mein Lieber. Übrigens wird die Kreuzigung dich unsterblich machen.' Und so wurden meine Konzerte zum Treffpunkt der New Yorker Intelligenzija."

In einem weiteren Interview gibt Bob Dylan ausführlich Auskunft über sein neues Album "Modern Times". Sein Stimmeinsatz darauf sei bewusst gedämpfter als gewohnt, nicht so nasal ausgefallen und er habe sich bei einigen Stücken um eine "Retroatmosphäre" bemüht. Auf die Frage nach den Gründen, antwortet er: "Die eigene Identität kann sich in der Musik auflösen. Ich meine damit: Man kann zum Beispiel glauben, man sei ein Bluesman oder ein Rocker oder ein Songwriter... Und trotzdem, wenn man wirklich aufmerksam eine andere Musik hört, entdeckt man, dass es noch andere Dinge in einem gibt. Man ist jemand, den man nicht mehr kennt. Es ist normal, dass mein Stil sich entwickelt: Der Großteil der Kompositionen auf diesem Album sind Bluesstücke, jazzige Balladen und natürlich Folksongs, langsam oder in einem Cowboy-Rhythmus. Das ist normal, weil ich mir meine Platten wie Filme vorstelle, die von der amerikanischen Identität erzählen. In Amerika will man uns immer glauben machen, wir seien Erfinder! Klar, aber Amerika vergisst oft, dass alles, was man erfindet Teil einer Vergangenheit, alter Einflüsse ist... Wenn meine persönlichen Einflüsse von Pete Seeger, Woody Guthrie, Allen Ginsberg und Jack Kerouac kommen, dann auch vom Jazz und vom Blues der Schwarzen!"
Archiv: Express

Spiegel (Deutschland), 28.08.2006

Der Schriftsteller Salman Rushdie ruft im Interview dazu auf, dem Terrorismus zu trotzen, dem er nicht zubilligen will, "legitime Ziele durch irgendwelche illegitimen Mittel" zu verfolgen. "Lenin hat Terrorismus einmal als 'bourgeoises Abenteurertum' beschrieben. Ich glaube, an diesem Punkt lag er einmal nicht falsch: Das trifft's. Man darf den Grundgedanken jeglicher Moral nicht negieren: dass Individuen für ihre Handlungen selbst verantwortlich sind. Und individuell sind wohl auch die Auslöser. Dabei spielt sicher die Erziehung eine große Rolle, die Vermittlung eines falsch verstandenen Sendungsbewusstseins, das zu 'Aktionen' drängt. Dazu kommt eine Herdenmentalität, wenn man einmal in eine Gruppe integriert ist und jeder den anderen immer weiter in eine Zwangssituation hineintreibt. Es gibt den Typ, der glaubt, seine Tat würde die Menschheit aufhorchen lassen und ihn zu einer historischen Gestalt machen. Dann gibt es den, der sich einfach zur Gewalt hingezogen fühlt. Und ja, ich denke, auch Glamour spielt eine Rolle." Klingt - bis auf den letzten Satz - wie eine Beschreibung der Nichtraucher-Brigade. Das Interview darf man online lesen - aber nur auf Englisch!

Alexander Smoltczyk erzählt eine moderne Tragödie "aus den dunklen Nischen der Weltpolitik" - die Geschichte Äquatorialguineas, dass sich binnen zehn Jahren von einem malariaverpesteten Schurkenstaat zum guten Freund der USA entwickelt hat: "Staatspräsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo ist ein hagerer Mensch. Er sei ein ausgezeichneter Tennisspieler und wird von Menschen, die ihn kennen und im Land bleiben wollen, als bescheiden und auskömmlich beschrieben. Menschrechtsorganisationen führen ihn in der Liga von Idi Amin und Pol Pot. Er gibt einige Möglichkeiten, von der US-Liste der Schurkenstaaten gestrichen zu werden. Regimewechsel, runde Tische, Verschrottung von Waffen und Folterbänken sind denkbar, aber der einfachste Weg, als ehrenwert zu gelten, ist, Öl zu finden. Viel Öl. Denn Autofahren wollen sie alle." (Die CIA ist da politisch korrekter als die Bush-Regierung.)
Archiv: Spiegel

Foglio (Italien), 26.08.2006

Zur Standardausstattung der italienischen UN-Soldaten im Libanon sollte nach Überzeugung von Siegmund Ginzberg eine CD mit Gioacchino Rossinis Oper "Die Italienerin in Algier" (Handlung) sein, als Handbuch für Benehmen im Feindesland. "Im Titel ist von Algerien die Rede, aber vor dem geistigen Auge erscheinen Beirut und seine Umgebung. Die Hauptfigur ist eine Italienerin auf einer 'Mission impossible', die sich in der Höhle des Löwen wiederfindet, weniger versehentlich als mit Vorsatz. Alle Chancen stehen gegen sie. 'Ein Leckerbissen für Mustafa' (der an Nasrallah erinnert), wiederholt der Chor immer wieder. Am Anfang würde niemand einen Heller darauf setzen, dass sie es schafft."

Weiteres: Massimo Fini denkt sehr hart über die kulturelle Bedeutung von Frauenunterwäsche nach und kommt schließlich zu schwerwiegenden Ergebnissen. "Die Bombe und der Bikini, das sind die Symbole der modernen industriellen Zivilisation." Massimiliano Lenzi zeichnet mit Hilfe einer Studie von Jeffrey T. Schnapp die Entwicklung der Bildpropaganda des iranischen Regimes nach. Mariarosa Mancuso empfiehlt ehemalige Schriftstellerrefugien als Reiseziel für den Kulturtouristen.
Archiv: Foglio

Gazeta Wyborcza (Polen), 26.08.2006

Marcin Wojciechowski berichtet aus dem ukrainischen Kiew, wie dort an einem nationalen Geschichtsbild gearbeitet wird - etwa durch die Berufung auf die Traditionen der Kosaken oder durch die Erinnerung an den "Holodomor", den durch Stalins Zwangskollektivierung verursachten millionenfachen Hungertod ukrainischer Bauern. Nach Juschtschenko "sollte der Staat eine Geschichtsversion verbreiten, die sowohl für die national und europäisch gestimmte Westukraine wie auch für den russischsprachigen Osten akzeptabel ist. Die Hungerepidemie der dreißiger Jahre ist dabei das wichtigste Symbol, das Menschen aus beiden Hälften vereinen soll - und vereint, da jede Familie davon betroffen war." Juschtschenkos Idee ist auch der Wiederaufbau der im 18. Jahrhundert durch die Russen zerstörten Kosakenhauptstadt Baturin - sozusagen als Erlebnispark der ukrainischen Geschichte.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Prospect (UK), 01.09.2006

21 Jahre, nachdem Wassilij Grossmans Roman "Leben und Schicksal" erstmals auf Englisch veröffentlicht wurde, mausert sich das Buch über den Zweiten Weltkrieg und Totalitarismus des 1905 geborenen Autors in England zum Bestseller. Übersetzer Robert Chandler sieht Grossman auf einer Ebene mit Tolstoi und Tschechow. "Es gibt kein vollständigeres Bild vom stalinistischen Russland. Die Überzeugungskraft anderer dissidenter Schriftsteller - Schalamow, Solschenizyn, Mandelstam - erwuchs aus ihrer Position als Außenseiter; Grossmans Überzeugungskraft erwächst vor allem aus seiner intimen Kenntnis aller Ebenen der sowjetischen Gesellschaft. In 'Leben und Schicksal' gelingt Grossman, was viele sowjetische Schriftsteller vergeblich versucht haben: das Porträt eines ganzen Zeitalters zu zeichnen. Jeder Charakter, wie lebendig er auch gestaltet ist, repäsentiert eine bestimmte Gruppe oder Klasse und durchlebt ein Schicksal, dass beispielhaft für diese Klasse ist. Schtrum, der jüdische Intellektuelle; Getmanow, der zynische stalinistische Funktionär; Abarchuk und Krymow, zwei von tausenden aus der alten Garde der Bolschewiken, die in den Dreißigern verhaftet wurden."

Weitere Artikel: Peter Bergen untersucht Theorien über die Ursachen für den 11. September und unterteilt sie in "einleuchtende, aber fehlerhafte" und die "glaubwürdigsten". Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - für Danny Kruger sind die drei Schlagwörter der Französischen Revolution der Horizont der britischen Politik. Doch während die Begriffe Freiheit und Gleichheit schon längst zu einer Art politisches Eigentum geworden sind (die Tories rufen "Freiheit" und Labour antwortet "Gleichheit"), scheint nun ein leidenschaftlicher Kampf darüber entbrannt zu sein, wer den Begriff der Brüderlichkeit besetzen wird. In seiner kurzen Geschichte der Klimaanlage schildert James Fergusson die andauernde Romanze der Amerikaner mit der gekühlten Luft. Das Symposium dreht sich um den Libanon-Krieg.

Nur in der Internet-Ausgabe zu lesen: Ein Dossier zur muslimischen Gemeinschaft in Großbritannien.
Archiv: Prospect

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 30.08.2006

Die Blätter übersetzen ein Gespräch zwischen Daniel Postel und Ramin Jahanbegloo, dem liberalen iranischen Philosophen, den das Teheraner Regime am 27. April ins berüchtigte Evin-Gefängnis steckte. Das Gespräch (hier das Original aus der Zeitschrift Logos) wurde zu Beginn des Jahres per E-Mail geführt. Jahanbegloo spricht ausführlich über Jürgen Habermas, Hannah Arendt und Richard Rorty und erläutert seinen Begriff des "weichen Universalismus", den er kriegerischen Interventionen entgegensetzt: "Im weichen Universalismus sehe ich die einzige Hoffnung für die Förderung der Demokratie in nicht-demokratischen Kulturen. Der Erfolg hängt von dem Bemühen ab, bewusst kulturübergreifend zu lernen und zu verstehen. Wenn ein kulturübergreifender Lernprozess uns dazu befähigen kann, demokratische Werte zu verinnerlichen, bleibt die Möglichkeit erhalten, in unterschiedlichen Wertsystemen sozusagen ein- und auszugehen. In dieser Situation kommt es vor allem auf die individuelle Verantwortlichkeit an, der gegenüber partikuläre Werte zurücktreten... Es wäre, glaube ich, äußerst gefährlich, in einen Dialog der Kulturen einzutreten, ohne auf einen Kanon gemeinsamer Werte zurückgreifen zu können."

Die Blätter veröffentlichen auch den Aufruf von hunderten internationalen Intellektuellen, die die Freilassung des Philosophen fordern. Eine kanadische Website informiert über den Kampf um Jahanbegloos Freilassung.

Reportajes (Chile), 27.08.2006

Nun hat sich auch Mario Vargas Llosa zum "Fall" Günter Grass geäußert. Ihm scheinen weder die literarischen noch die politisch-moralischen Verdienste Grass' grundlegend in Frage gestellt - nach Vargas Llosas Ansicht geht es bei der heftigen Kritik an Grass im Grunde genommen vielmehr um "die Vorstellung vom Schriftsteller, die Grass zeitlebens verzweifelt zu verkörpern versucht hat: die von jemandem, der zu allem seine Meinung kundtut, für den sich das Leben - wie in der Literatur - den eigenen Träumen und Ideen anpassen soll, der den Schriftsteller als absolute Nummer eins betrachtet, weil er gleichzeitig unterhält, erzieht, führt, Orientierung gibt, Lektionen erteilt: Dieser Fiktion, lieber Günter Grass, haben wir uns lange genug mit Wonne hingegeben. Aber damit ist es vorbei."
Archiv: Reportajes

New Yorker (USA), 04.09.2006

Sasha Frere-Jones liefert eine schöne Besprechung der neuen CDs von Christina Aguilera ("Back to Basics) und Justin Timberlake ("FutureSex / LoveSounds"), letztere produziert von Timbaland. "Auf 'SexyBack' tut Timberlake sein Bestes, so kaltschnäuzig und aggressiv zu sein wie die bösen Jungs, auch wenn deine Mutter sicher ist, so könnte er nie sein. (Sollte es einen Sänger geben, der sich noch unwohler fühlt, wenn er das Wort 'motherfucker' singt, hat er noch keine Platte gemacht.) Das meiste von 'FutureSex / LoveSounds' hält fest am unheimlichen, ätherischen Funk, der (das Vorgängeralbum) 'Justified' so gewinnend machte, und ist schlau genug, Timberlakes Image als Zuckerschnute zu bewahren, während der Sound um seine Stimme glänzend genug ist, um das Album in die Poplandschaft von 2006 einzupassen. 'My Love' basiert auf der Art von unangestrengtem Beat, dem Timbaland seinen Ruf verdankt: eine zitternde Keyboardfigur, die verhallt und zurückkommt; rohe, hüpfende Bässe; und Samples von menschlichem beatboxing."

Die Ausgabe hat eine Art Schulschwerpunkt. Dafür steuert Peter J. Boyer eine reichlich verwickelte Geschichte bei, in der es um einen Aufruhr an der Duke University geht, der sich an sexuellen Übergriffen, dem renommierten Lacrosse-Team (mehr zu diesem Sport hier), der Universität und der Frage, ob "Helmsportarten" zu Gewalt ermuntern, entzündet hat und die Institution in zwei Lager spaltet. Malcolm Galdwell untersucht Null-Toleranz-Programme an Schulen. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Kansas" von Antonya Nelson.

Louis Menand rezensiert einen Band mit Interviews mit Bob Dylan ("Bob Dylan: The Essential Interviews", Wenner). Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Buch über Leute, die erotische Kunst und Sexartikel sammeln ("Sex Collectors", Simon & Schuster). Und David Denby lobt Spike Lees Dokumentarfilm "When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts" über New Orleans und den Hurrikan Katrina. "Lee stützt sich auf Datenmaterial, Nachrichten und Amateurfilme, aber auch auf Fotografien; einige von diesen fangen mit der verheerenden Kraft großer Dichtung oder Malerei das Leichenhaus aus Wasser ein, zu dem New Orleans wurde." Das B-Movie "Snakes on a Plane" findet Denby dagegen unsäglich; er wundert sich, dass Samuel L. Jackson mitspielt.

Nur im Print: die Fortsetzung des Schulschwerpunkts mit Artikeln über das Deep Springs College, Musikunterricht beziehungsweise die Rückkehr von Brahms ins Klassenzimmer, Versuche, das Essen an Schulen zu verbessern, eine Grundschule in der Wüste, die Bedeutung von Aufschlüssen aus der Baby-Hirnforschung und Lyrik.
Archiv: New Yorker

Polityka (Polen), 26.08.2006

Im polnischen Magazin geht es diesmal sehr literarisch zu. Nachdem Adam Krzeminski letzte Woche die Grass-Debatte zusammen mit der Berliner Ausstellung über Vertreibung zum Anlass nahm, die deutsch-polnischen Beziehungen zu analysieren, wendet er sich nun dem Buch als literarischem Ereignis zu. "'Beim Häuten der Zwiebel' handelt genau davon: wie man seine Haut abwirft, indem man über das Trauma spricht, wie man sich von der Schuld befreit, indem man sie benennt und sie gleichzeitig verschweigt, wie man sich mit Hilfe von Literatur eine Art 'Bypass' schafft, um die von Scham verstopften Arterien zu entlasten." Nicht unerwähnt lässt Krzeminski, dass Polen "Grass etwas schuldig ist. Wenn in den polnischen Westgebieten die antideutschen Ängste am geringsten sind, so ist das zu großem Teil auch Grass' Verdienst. Dank ihm haben wir den Komplex, eine von deutschen Revanchisten belagerte Festung zu sein, verloren."

Der in Polen seit Jahren beliebte tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal wird langsam in Rest-Europa (wieder)entdeckt - freut sich Literaturkritiker und Hrabal-Übersetzer Aleksander Kaczorowski. "Großen Anteil daran hatte der tschechische Regisseur Jiri Menzel, dessen Verfilmung von "Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht" den Oscar bekommen hat, und der jetzt an Hrabals "Ich habe den englischen König bedient" arbeitet (mit Julia Jentsch in der weiblichen Hauptrolle). Diese Verfilmung kam unter sehr abenteuerlichen Umständen zustande - u.a. hat Menzel den Produzenten Jiri Serotek öffentlich verprügelt - und ein Erfolg kann den Regisseur wieder nach ganz oben bringen. Währenddessen ist eines sicher: der Erfolg von Hrabal als Autor, der in immer mehr Sprachen übersetzt wird."

Außerdem: das polnische staatliche Fernsehen plant einen Themenkanal "Geschichte". Im Gespräch mit der Polityka beteuern die Macher: "Das Programm wird ein Ort von Debatten von Historikern sein. Eine unkritische Darstellung der von der Regierung lancierten Geschichtspolitik wollen wir nicht."
Archiv: Polityka

Babelia (Spanien), 26.08.2006

Schluss mit dem Genie-Kult! Der holländische Architekt Felix Claus spricht über seine Zusammenarbeit mit dem Architekten Kees Kaan und "die Tragödie der gegenwärtigen Architektur: Viele Architekten, die solide, professionelle Arbeit leisten könnten, versuchen um jeden Preis genial zu sein. Wir sind lieber gut als interessant. Der öffentliche Raum verkörpert unsere Vorstellung von Freiheit. Eine gute Stadt ist besser als ein gutes Haus. In Holland kehren die Leute in die Städte zurück. Sie haben genug von Schwimmbad, Garage, Hund - sie entdecken die Vorzüge des Lebens in einem Stadtviertel wieder, wo man zu Fuß zur Schule gehen kann. Die Stadt ist immer noch der beste Ort, an dem man leben kann, die Vorstädte bringen uns um."

Den Mund durchaus voll nimmt der französische Komponist Michel Legrand, der u. a. für Jean-Luc Godard, Claude Lelouch, Louis Malle und Robert Altmann gearbeitet hat: "Heutzutage kann ich nirgendwo einen guten Filmkomponisten entdecken, es bleiben bloß noch John Williams und Ennio Morricone, obwohl ich den in der letzten Zeit manchmal langweilig finde. Die Musik der Avantgarde ist eine Sackgasse. Atonale, serielle, experimentelle Musik, das ist alles tot. Das Werk von Leuten wie Boulez oder Stockhausen kommt mir oft wie der reinste Betrug vor. Zum Glück merken wir allmählich, wie wir hier über den Tisch gezogen werden. Die Musik der Zukunft wird sich, glaube ich, derjenigen der großen Meister der Vergangenheit annähern."
Archiv: Babelia

Economist (UK), 25.08.2006

Es geht den Zeitungen an den Kragen, behauptet der Economist im Aufmacher. Eine Zukunft ohne Zeitungen, in der Regierungen, Körperschaften und Menschen nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, und in der sich der Journalismus in die Welt der stubenhockender Blogger zurückgezogen hat, brauche man sich deshalb allerdings nicht ausmalen. Eher wie folgt: "Eine Elite-Gruppe von seriösen und online überall verfügbaren Zeitungen, unabhängige, von karitativen Organisationen unterstützter Journalismus, Tausende von eifrigen Bloggern und gut informierten Bürger-Journalisten: Allen Anzeichen nach wird die nationale Konversation, wie Arthur Miller die aufgeklärte Zeitungsöffentlichkeit nannte, lauter denn je sein." Welchen Schwierigkeiten die Zeitungen auf dem Weg in diese Zukunft begegnen, schildert der Economist in einem Sonderbericht.

Auch der Economist legt den Finger auf die "Grassnarbe" und registriert bei der Lektüre von Günter Grass' Autobiografie verwundert, wie sehr sich die Schilderung der Kriegserlebnisse von der der Nachkriegserlebnisse unterscheidet. "Was auffällt ist, dass seine Kriegserinnerungen nicht überzeugend wirken. In der Tat ist dieser Teil des Buches farblos und voller Stereotypen. Viele der Szene könnten - und der Verdacht lässt sich nicht beseitigen, dass es auch so ist - genauso gut Grass' zahlreichen Kinobesuchen entsprungen sein. (?) Der Zweifel bleibt: Wie kann es sein, dass seine Erinnerung von diesen wenigen Monaten des Kampfes dem Leser so schwach vorkommt?"

Außerdem ist zu lesen, wie grandios Alaska sich darauf versteht, seine geografische Randlage in Regierungssubventionen umzusetzen, dass sich britische Arbeitgeber zu Recht über unqualifizierte Schulabgänger beklagen und - im Nachruf - wie sinnlich der kürzlich verstorbene General Alfredo Stroessner, Nachkomme deutscher Vorfahren und Diktator Paraguays von 1954 bis 1989, im einzigen Interview, das er je gab, das Wort "Ordnung" aussprach.
Archiv: Economist

Point (Frankreich), 24.08.2006

In seinen Bloc-notes kommentiert Bernard-Henri Levy die Affäre um Günter Grass spätes Geständnis, in der SS gewesen zu sein. John Irving tut ihm Leid, der diesen "Helden", diesen "moralischen Kopf" und dieses "Vorbild" noch immer bewundere. "Wenn Grass ein Vorbild bleibt, dann aufgrund jenes ehernen Gesetzes, das nie oder kaum in Zweifel gezogen wurde: Amnesie ist Schicksal; es gibt Erinnerungslücken, die schwarze Löcher sind, Abgründe, in denen das Schlimmste herumwirbelt und über einen hereinstürzt; eine Lüge dieses Kalibers, eine einzige, und sei sie auf die Kleinigkeit eines 'Jugendirrtums' reduziert, ist wie ein finsteres Strahlen, ein Tumor, der auf ein Leben ausstrahlt und darin seine Metastasen verbreitet. (...) Günter Grass, dieser fette Fisch der Literatur, dieser durch sechzig Jahre der Pose und Lüge tiefgefrorene Butt, der plötzlich in der Hitze einer verspäteten Wahrheit in seine Bestandteile zerfällt. Diese Form des Auftauens hat einen Namen: sie ist buchstäblich ein Eisbruch, ein debacle."
Archiv: Point

Wired (USA), 01.09.2006

Mit der traditionellen Popkritik geht's bergab geht, aber das Internetmagazin Pitchfork feiert Riesenerfolge und ist seinerseits verantwortlich für den Erfolg einiger Indierock-Bands. Der Grund dafür: Pitchfork nimmt die Musik noch ernst, schreibt Dave Itzkoff: "Während die Website Hunderte von Kritiken über Indierockbands brachte, widmeten ihnen die Mainstream-Medien immer geringere Aufmerksamkeit. MTV war inzwischen bekannter als Reality-TV-Sender und sendete kaum noch Musik. Rolling Stone setzte Filmstars und Teenie-Pop-Performer auf seine Cover, während es die Musikkritiken drastisch kürzte - die meisten sind nur noch einen Absatz lang, und die größeren Kritiken haben gerade noch fünf Absätze. So öffnete sich für Pitchfork ein Weg, um das Vertrauen und die Verehrung einer rocksüchtigen Leserschaft auf der Suche nach zuverlässigen Filtern zu gewinnen."
Archiv: Wired

New York Times (USA), 27.08.2006

Alaa Al Aswanys Roman "The Yacoubian Building" (Leseprobe), ein Gesellschaftsporträt des heutigen Kairo, ist in Ägypten ein Bestseller. Die Verfilmung rief die Zensur auf den Plan, und Lorraine Adams weiß auch, warum: "Das Buch wurde gefeiert wegen seiner tabubrechenden Beschreibung von Homosexualität. Aber schwule Protagonisten gab es schon in den Romanen von Machfus und in ägyptischen Filmen. Was den Erotizismus von Aswanys Roman so provozierend macht, ist vielleicht eher die Art wie er, vergleichbar mit Milan Kunderas 'Buch vom Lachen und Vergessen' die staatliche Tyrannei durch sexuelle Lust und Verzweiflung spiegelt. Aber wo Kundera eine selbstreflexive Erzählform sucht, die das Wesen der Literatur in Frage stellt, ist Aswany (der sein Geld als Zahnarzt verdient) ein sozialer Realist."

Der Fall von John Robert Lennons Roman "Happyland" lässt Rachel Donadio am Mumm der Verlage zweifeln. Lennons Buch über die Allmachtsfantasien einer millionenschweren Puppenfabrikantin wurde von mehreren Verlagen abgelehnt. Grund: Die Hauptfigur hat ein reales Vorbild. Unverständlich, meint Donadio: Nicht nur sei's "selten, dass eine nicht-öffentliche Figur eine solchen Fall gewinnt", die hier Betroffene habe gar keine Lust zu klagen. "Happyland" erscheint nun als Fortsetzungsgeschichte in Harper's Magazine.

Weitere Artikel: Meghan O?Rourke lobt Claire Messuds "The Emperor?s Children" (Leseprobe) als gänzlich unamerikanischen Roman über Amerika. Wyatt Mason vergleicht den zweiten (Leseprobe "Voyage Along the Horizon") mit dem jüngsten ("Your Face Tomorrow") Roman von Javier Marias. Und Adrian Desmond riecht den Bekehrungseifer in David Quammens Darwin-Biografie "The Reluctant Mr. Darwin": Hallo Kreationisten!
Archiv: New York Times