9punkt - Die Debattenrundschau

Die Religion in Geiselhaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2020. Der Terrorismus ist nur die Spitze des Eisberges des politischen Islam, schreibt Alice Schwarzer in der Welt und wirft Medien und Politik vor, dass sie ihn viel zu lang gewähren ließen. Im Gegenteil: Der Terror ist eine Folge des Kolonialismus, versichert dagegen die postkoloniale Philosophin Elsa Dorlin ebenfalls in der Welt. Trump mag nächste Woche wegen seines Versagens in der Coronakrise abgewählt werden, aber der Trumpismus wird bleiben, meint der italienische Journalist Fabio Ghelli in der taz. Und voilà: Künftig wird die deutsche Presse nicht mehr nur von Google, sondern auch vom Staat subventioniert, meldet dpa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.10.2020 finden Sie hier

Europa

Nach der Enthauptung Samuel Patys gab es in Frankreich neue Attentate. Ein Islamist brachte in einer Kirche in Nizza drei Menschen mit dem Messer um.

"Der Terrorismus ist nur die Spitze des Eisberges des politischen Islam. Letzterer treibt sein Unwesen seit einem Vierteljahrhundert auch in Deutschland - wo Politik und Medien ihn lange gewähren ließen. Aus Angst vor dem Vorwurf des 'Rassismus' und argumentierend mit der 'Religionsfreiheit'", schreibt Alice Schwarzer in der Welt, bereits auf Nizza reagierend: "Seit vielen Jahren berichtet Emma über die Klagen von Lehrerinnen über 'islamistisch indoktrinierte Schülerinnen und Schüler', die sie 'ausbuhen', wenn sie zum Beispiel Röcke tragen, die über dem Knie enden. Das alles hat sich lange angekündigt. Seit Mitte der 1990er Jahre, dem Start der islamistischen Offensive in Europa, unterwandert der politische Islam systematisch die westlichen Sitten, den Rechtsstaat und die Bildungsinstitutionen. Dieser Islamismus ist kein Glaube, sondern eine Ideologie - und nimmt die Religion in Geiselhaft. Die Mehrheit der aufgeklärten MuslimInnen in unserem Land ist das erste Opfer dieser Fanatiker. Auch und vor allem sie haben wir im Stich gelassen."

"Die Attentate haben nichts mit dem Islam zu tun, sondern sind faschistischer Terror. Dieser Terror wiederum füttert nationalistische und islamophobe Denkweisen", meint dagegen die französische postkoloniale Philosophin Elsa Dorlin im Welt-Interview mit Ute Cohen. Der Terror in Frankreich habe nicht religiöse, sondern soziale Ursachen, ist sie überzeugt: "Seit Jahren engagiert sich der französische Staat gegen islamistischen Terror, einerseits durch seine Ausnahmegesetzgebung, andererseits durch einen Verteidigungsdiskurs, der die Einheit und Werte der französischen Republik betont. Bürger muslimischer Kultur und Konfession werden dabei aber in einem Status ewiger Ausländer im Inland gehalten, auf denen ein diskriminierender Verdacht lastet. Das hat mit der französischen Kolonialgeschichte zu tun. Frankreich hat seine Vergangenheit bislang nicht in eine konstruktive Debatte verwandeln können." Wobei anzumerken ist, dass Muslime, wenn sie in Frankreich geboren sind, genauso Franzosen sind wie alle anderen!

Man sollte die Islamisten genauso wenig wie Rechtsextreme als "Opfer einer ungerechten Welt verharmlosen", schreibt Nadia Pantel in der SZ: "Gäbe es nicht die Zeichnungen, wäre der Anlass zu töten ein anderer. Der Islamismus baut auf Feindbildern auf. Zu ihnen gehören der europäische Rechtsstaat und seine Repräsentanten sowie Andersgläubige, besonders Juden. Genauso wie Schwule und Lesben. Und die Mehrheit der Muslime, die sich weigert, sich dieser Weltsicht unterzuordnen." Pantel findet es "irritierend", wie viele da wegsehen.

In Britannien gibt es eine "Gleichberechtigungs- und- Menschenrechtskommission" (EHRC, hier ihre Selbstdarstellung), die rechtlich bindende Empfehlungen aufstellen darf. Sie hatte die Antisemitismusvorwürfe gegen die Labour-Partei untersucht und das Verhalten der Partei unter ihrem früheren Chef Jeremy Corbyn kritisiert. Corbyn hat die Ergebnisse noch gestern heruntergespielt: Das Ausmaß des Problems sei "aus politischen Gründen dramatisch übertrieben" worden. Nun hat die aktuelle Führung Corbyns Mitgliedschaft in der Partei suspendiert, berichtet Daniel Zylbersztajn in der taz: "Unter siebzig Fällen, welche die EHRC als Beispiele heraushob, konnte in 23 Fällen direkte Einmischung aus dem Büro des Führungsstabs um Corbyn nachgewiesen werden, um Vorwürfe des Antisemitismus unter den Teppich zu kehren oder sie abzubügeln, nachdem sie Aufsehen erregt hatten. So habe die Parteiführung von einer 'unberechtigten Klage' gesprochen, als es darum ging, dass Jeremy Corbyn ein antisemitisches Graffiti gutgeheißen hatte, auf dem karikierte Juden mit Hakennasen Monopoly auf dem Rücken von Arbeitern spielten." Hier kann man den Bericht der Kommission lesen.

Nochmals in der Welt blickt Deniz Yücel auf die lange Tradition der türkischen Satirezeitschriften und Karikaturen, die erst mit dem Durchbruch des Internets und durch Erdogan in die Krise geriet: "Lange bevor der heutige Staatspräsident Erdogan zum großen Angriff auf alle Medien startet und durch Repression und Übernahme eine weitgehend gleichförmige Medienlandschaft aufbaut, trifft es die Satiriker. 2005 verklagt er, damals noch als Regirungschef, Musa Kart, den Karikaturisten der Tageszeitung Cumhuriyet, weil dieser ihn als Katze gezeichnet hatte. Als die Penguen darauf mit einem Cover reagiert, das Erdogan als Frosch, Elefant und weiteren Tierfiguren zeigt, verklagt Erdogan auch die Satirezeitschrift wegen Beleidigung. Es sind seine ersten aufsehenerregenden Maßnahmen gegen unliebsame Berichterstattung, denen später viele weitere folgen sollen und zugleich die ersten Anflüge des Dauerbeleidigtseins, das später zu seinem Markenzeichen wird."
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Geschichte

Die geplante Gedenkstätte für die polnischen Opfer des deutschen Kriegs vor 1945 sollte auch die deutsch-polnischen Beziehungen und Entwicklungen nach 1945 widerspiegeln, fordert der polnische Publizist Adam Krzeminski in der Welt: "Am deutsch-polnischen Dialog nahmen über Jahrzehnte Zigtausende engagierte Menschen teil. Nach 1956 entstand in den westdeutschen Medien - und später auch in der DDR - eine regelrechte 'Polen-Welle'. Man entdeckte den polnischen Film, polnische Musik und das polnische Theater für sich. Die Nachbarn waren nun kein unmündiges Heloten-Volk mehr, sondern mögliche Partner in der Aufweichung des Kalten Krieges. Der Rapacki-Plan einer atomfreien Zone in Mitteleuropa wurde von Adenauer zwar verworfen. Aber mit der 'Solidarnosc' und der 'Solidarität mit Polen' in den 80er Jahren entstand doch eine filigrane deutsch-polnische Interessengemeinschaft von unten, die 1989 auch politisch umgesetzt wurde." Er plädiert für einen Bogen Warschau Berlin nach dem Modell der Berliner Luftbrücke.

In München ist das Sudetendeutsche Museum (Website) eröffnet worden, das Niklas Zimmermann für die FAZ begeht: "Die Ausstellung verschweigt nicht, dass die immer stärker mit der NSDAP verbundene Sudetendeutsche Partei (SdP) 1938 bei den letzten freien Gemeindewahlen in der Tschechoslowakei neunzig Prozent der Stimmen in den Sudetengebieten erhielt. Über den Aufstieg der SdP und ihres Parteichefs Konrad Henlein hätte man gern mehr erfahren." Zwei weitere Museen - im nordböhmischen Aussig und in der Dauerausstellung der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin - werden der Vertreibung gedenken, so Zimmermann. Die SZ berichtete bereits am 12. Oktober über das Münchner Museum.
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Gesellschaft

Simon Strauß zweifelt in der FAZ, ob die jetzt neu beschlossenen Corona-Maßnahmen, die den Kulturbetrieb wieder besonders hart treffen, rechtlich standhalten werden: "Wenn jetzt beispielsweise die Theaterintendantin eines nicht-staatlichen, also weisungsunabhängigen Bühnenhauses auf die Idee kommt, beim Gericht einen Eilantrag gegen die Verordnungen einzureichen und recht bekommt und ihr andere betroffene Branchen folgen, könnten die Notstandsregelungen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen."

Jetzt rächen sich eben die "Kompromisse", die im Sommer bezüglich der Corona-Pandemie eingegangen wurden, um die Wirtschaft zu retten, schreibt Slavoj Zizek in der NZZ. Er will Corona mit Marx heilen: "Man muss aus marxistischer Perspektive - und das ist meine - allen Mut zusammennehmen, um diese Hoffnungslosigkeit offen annehmen zu können und einen radikalen sozioökonomischen Wandel ins Auge zu fassen: endlich eine direkte 'Politisierung' der Wirtschaft mit einer weit stärkeren Rolle des Staates und gleichzeitig einer weit grösseren Transparenz der Staatsapparate gegenüber der Zivilgesellschaft."

Weitere Artikel: Auf Zeit Online plädiert auch Georg Dietz, die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato zitierend, "für eine andere Gesellschaft, eine andere Form von Markt und Marktwirtschaft, eine andere Form und Funktion von Staat, der positiv, konstruktiv, innovativ gedeutet wird, als 'unternehmerischer Staat'." In der SZ erklären Florian Cramer, Professor für Bildkultur und Wu Ming 1, Mitglied des Schriftsteller- und Kulturtheoretiker-Kollektivs Wu Ming, die Verschwörungswelt von QAnon.
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Medien

Voilà: die deutsche Presse wird subventioniert werden. Wieder wird auf die großen Haufen geschissen, so wie es laut dem aktuellen Bericht über den "Medienmäzen Google" auch die Google News Initiative hält (unser Resümee). Von Google werden Medien wie die FAZ, die Zeit und der Spiegel unterstützt. Auch der Staat wird künftig 220 Millionen Euro in die Finanzierung von Presse stecken, die Höhe der Subvention "soll an die Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften gekoppelt werden", meldet dpa (hier in der taz). "Rund 59 Prozent der Fördersumme soll auf Abonnementzeitungen entfallen, rund 11 Prozent auf Abonnementzeitschriften und rund 30 Prozent auf Anzeigenblätter mit einem redaktionellen Anteil von mindestens 30 Prozent. Voraussetzung für die Zahlung sei, dass die Verlage Investitionen ins Digitale nachweisen können."

Dramaqueen Glenn Greenwald, der einst half, die Snowden-Enthüllungen ans Licht zu bringen, und dann von dem Ebay-Gründer Pierre Omidyar das investigative Magazin The Intercept geschenkt bekam, verlässt dieses Haus nun nach scharfem Streit mit der Redaktion. Es sei von seinen Kollegen zensiert worden, weil sie einen Joe-Biden-kritischen Artikel nicht hätten veröffentlichen wollen, schreibt er in einem eigenen Blog. Den "zensierten" Artikel publiziert er hier. Es geht um E-Mail-Enthüllungen der New York Post zu Biden und seinem Sohn Hunter. Und hier die knappe Erklärung der Redaktion von The Intercept: "We have the greatest respect for the journalist Glenn Greenwald used to be."

In den letzten Tagen scheinen die Behauptungen über Joe Biden und seinen Sohn Hunter nochmal eine größere Rolle zu spielen. Viel retweetet wird ein Artikel von NBC News über eine "fake intelligence Firm", die diese Behauptungen gestreut habe.

Außerdem: In der SZ treten Joachim Käppner und Ralf Wiegand ihrem ehemaligen Kollegen Hans Leyendecker zur Seite, der vor seiner SZ-Zeit der wichtigste investigative Reporter des Spiegel war und von der dortigen Wahrheitskommission beschuldigt wird, er sei in den Recherchen zu Wolfgang Grams und Bad Kleinen zumindest fahrlässig einer falschen Quelle aufgesessen - Leyendecker hatte in einem spektakulären Spiegel-Titel 1993 behauptet, der RAF-Terrorist Grams sei von der Polizei regelrecht hingerichtet worden.
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Politik

Trump mag nächste Woche wegen seines Versagens in der Coronakrise abgewählt werden,aber der Trumpismus wird bleiben, meint der italienische Journalist Fabio Ghelli in der taz. Ghelli hat aus der Erfahrung mit Silvio Berlusconi gelernt: "Was ist Berlusconis Geheimnis? Der Starpolitologe Giovanni Sartori hat sich in den letzten Jahren seines Lebens intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Schon vor Beginn seiner politischen Laufbahn, schrieb Sartori, schaffte es der Medienmogul und Politentertainer, aus einer Zuschauerschaft eine Wählerschaft zu machen, die seine Abneigung gegenüber dem Staat, den Gesetzen und den Regeln des politischen Fairplay teilt. Diese Wählerschaft machte sich dann vom Leader unabhängig. Sie unterstützte zunächst den Aufstieg der neuen Anti-Establishment-'Fünf Sterne Bewegung' und feierte später den Erfolg des Rechtsaußen-National-Populisten Matteo Salvini."

Im SZ-Gespräch mit Sonja Zekri sieht der Politologe Daniel Ziblatt nur eine Chance dafür, dass es nach der US-Wahl nicht zu Gewalt kommt: "Dass Trump eine überwältigende Niederlage erleidet, die keinen Raum für Zweifel und Spielereien lässt. Aber werden die Medien warten, bis das Ergebnis feststeht? In einem Informationsvakuum könnte Trump sich als Sieger präsentieren, ohne dass jemand diese Lesart in Zweifel zieht. Wie reagiert Joe Biden? Alles ist sehr instabil. Diese Wahl wird nicht glatt ablaufen. Aber letztlich bin ich zuversichtlich, dass Trump bei einem Sieg Bidens aus dem Amt scheiden wird, auch wenn er auf dem Weg viel Lärm verursachen wird."

Außerdem: In seinem Blog erklärt Richard Herzinger, warum die Demokratien auf nukleare Abschreckung nicht werden verzichten können.
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