Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2007. In der Zeit schreibt Fritz J. Raddatz zum fünfzigsten Jahrestag seines Versagens in der DDR. Auch Uwe Tellkamp kann in der FAZ die Zukunft der DDR-Vergangenheit in der Literatur nicht voraussagen. Die SZ porträtiert den Architekten Jürgen Mayer, dessen Bauten ein unerklärliches Hungergefühl auslösen. Im Tagesspiegel fragt sich Thomas Brussig, was die "Kindergartentante in Gestalt des Feuilletons" tun muss, um Debatten auszulösen.

Zeit, 16.08.2007

"Was geschah da in einem, der sein Wissen - also doch wohl: sein Gewissen - abgab wie den Mantel an der Theatergarderobe?", befragt sich Autor Fritz J. Raddatz in einer großen Selbstkritik im Dossier, in der er sein "Versagen als Bürger der DDR" eingesteht, in der er von 1950 bis 1959 freiwillig lebte - wohlwissend um Bautzen und Workuta. "Kein 'Ich wusste davon nichts' ist vorzutragen, mit dem Millionen Deutsche sich exkulpierten nach 1945. ICH wusste - von abgesetzten Stücken, von zurückgezogenen Filmen, von verbotenen Büchern (oft genug 'meine' des Verlags Volk und Welt). Dabei ich die Fußspitze über den Kreiderand streckte, mich freute über ein subversives Gedicht in einer Anthologie, ein Böll-Buch im Verlagsprogramm, über eigene kleine Unverschämtheiten auch. So beschied ich den mich oft bedrängenden SED-Parteisekretär - er war Vertriebsleiter und kam ebenso oft drucksend um mehr 'West-Lizenzen' bittend, weil diese Bücher sich verkauften -, den beschied ich also mit einem 'Sie reden immer von 'der Partei', in die ich eintreten soll - welche meinen Sie eigentlich?' Kümmerliches Aufmüpfen."

Zu lesen ist auch ein Kapitel aus Hanno Rauterbergs demnächst erscheinendem Buch "Und das ist Kunst?!". Darin geht Rauterberg der grassierenden Hilflosigkeit unter Künstlern nach, die im Wettbewerb mit Werbung und Mode zu stehen glauben: "Das Gefühl, vielleicht doch überflüssig zu sein, verfolgt die Maler seit langem. Bereits als die Fotografie im 19. Jahrhundert erfunden wurde, wähnten sich manche in ihrer Existenz bedroht. Auch heute gilt die Konkurrenz als schier unbesiegbar, alle Bilder scheinen längst gemacht. So fügen sich manche Künstler fröhlich in die Selbstaufgabe. Sie malen schwabbelige Comicquallen wie Inka Essenhigh oder Takashi Murakami, oder sie entwerfen schmucke Oberflächenmuster wie Fiona Rae oder Fred Tomaselli. Oft sind es blickdichte Bilder, von einer Perfektion, die jedem Industriestandard gerecht wird."

Weiteres: Hans Neuenfels erzählt, wie er - der seit 33 Jahren Opern inszeniert - zum ersten Mal in seinem Leben nach Bayreuth reiste. Nikolaus Bernau bringt uns auf den neuesten Stand in der Diskussion um das Innere der Berliner Stadtschloss-Fassade. Elisabeth Wellershaus empfiehlt, sich Jean-Claude Galottas Choreografien beim Berliner Tanz im August anzusehen. Evelyn Finger begibt sich auf die Spur der Fledermaus.

Besprochen werden Hector Berlioz' Künstleroper "Benvenuto Cellini" in Salzburg, Robert Thalheimers Film über den deutschen Umgang mit Auschwitz und Oswiecim "Am Ende kommen Touristen", Mike Binders (laut Anke Leweke ebenso kluger wie banaler) 9/11-Film "Die Liebe in mir" und Neuigkeiten aus der Diskothek.

NZZ, 16.08.2007

Die pakistanische Journalistin Shehar Bano Khan blickt am 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Pakistans kritisch auf ihre Regierung: "Dieses theoretisch unabhängige, politisch aber kolonisierte Volk kennt keine Erinnerung an eine glorreiche Zeit. Jede Dekade der Unabhängigkeit war geprägt von politischer, kultureller und sozialer Strangulation. Statt von britischen Kolonialherren wird das Land mittlerweile von der einheimischen Oligarchie kolonialisiert. Wenig hat sich dabei verändert. Der Islam, den sich die Politiker bei der Staatsgründung auf die Fahne geschrieben hatten, wird heute vom Regime Präsident Musharrafs dazu benützt, die eigenen Machtansprüche zu legitimieren." Die "Talibanisierung" des Landes hält sie für ein Mythos: "Die einzige Person, um derentwillen in ganz Pakistan Tausende auf die Straße gingen, war der suspendierte und mittlerweile wieder ins Amt gesetzte Oberste Richter Mohammad Iftikhar Chaudhry..., der im Jahr 2006 suo moto mehr als 6000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land aufgegriffen hatte."

Auf der Kinoseite erinnert Heinz Kersten an den verstorbenen Schriftsteller Ulrich Plenzdorf. Rezensiert wird der neue Film des französischen Regisseurs Laurent Tuel "Jean-Philippe", eine "Hommage"an die Rocklegende Johnny Hallyday.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung zum Mailänder Architekten und Designer Gio Ponti im Palazzo Reale und Bücher, darunter Bruno Kleins "Gotik" und Jean Echenoz' Roman über "Maurice Ravel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 16.08.2007

Der Schrifsteller Uwe Tellkamp stellt Fragen über Fragen, was die DDR wohl gewesen sei: "War sie eine Pädagogische Provinz, die ihr Anliegen, Erziehung des Menschen zum höheren Zweck, mit Lehrern bewerkstelligte, die, einst gestrafte Söhne, zu strafenden Vätern wurden? Ein paternalistisches Projekt also? Bei Wohlverhalten Belohnung, bei Abweichung 'die Instrumente'? War sie ein Groß-Kombinat namens Brot & Lügen?" Eine einfache Antwort wird, so Tellkamp, auch und gerade die Literatur nicht geben können: "Je ferner dies Ländchen im Maelstrom aus Zeit und Geschichte sinkt, desto mehr wird es, glaube ich, Züge eines Turmbaus in Atlantis annehmen. Die literarische Zukunft unserer Vergangenheit ist offen."

Weitere Artikel: Gina Thomas war dabei, als auf dem Gelände des Flughafens von London Heathrow Demonstranten, begleitet von großem Polizeieinsatz, gegen die Eröffnung einer weiteren Startbahn demonstrierten. In der Leitglosse referiert Lorenz Jäger eine Anekdote, die berichtet, wie der jüngst verstorbene Holocaust-Forscher Raul Hilberg einmal - ein einziges Mal - weinen musste. Wolfgang Sandner hat die US-Musikertalentschmiede Tanglewood nahe Boston besucht, in der sich beim sommerlichen Festival auch das Boston Symphony Orchestra und Dirigent James Levine auf ihre Europa-Tournee vorbereiten. Anton Thuswaldner informiert über ein Salzburger Dichtergespräch mit Richard Ford und Jeffrey Eugenides, bei dem es viel um Politik ging. Den Nachruf auf den Theatermann Dieter N. Schmidt hat Andreas Rossmann geschrieben. Edo Reents erinnert zum dreißigsten Todestag an Elvis Presley. Auf der letzten Seite informiert Thomas Thiel über die Skepsis, die die Geschichtswissenschaft Wikipedia entgegenbringt. Dieter Bartetzko porträtiert Georg Aßkamp, Direktor des Römermuseums in Haltern am See, und zwar anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Luxus und Dekadenz". Ein nicht genannter Autor stellt Isabel Fischer vor, die Flamencotänzerinnen und -tänzer zeichnet.

Auf der Kinoseite berichtet Rüdiger Suchsland vom Filmfestival in Locarno. Verena Lueken freut sich in der Glosse über die Erfolge regelmäßiger Previewabende, bei denen ein Frankfurter Kino Filme zeigt, deren Titel zuvor nicht genannt werden. Martin Kämpchen meldet, dass Hollywood jetzt auch Bollywood-Filme produziert.

Besprochen werden die von Bernd Eichinger produzierte Comic-Verfilmung "Fantastic Four 2", die Insbrucker Inszenierung von Georg Philipp Telemanns Oper "Der geduldige Sokrates" unter Rene Jacob. Daneben gibt es auch Rezensionen zu den ersten Oktavheften aus der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe und auf der Kino-Seite zu einem Fotoband mit dem Titel "schauplatz: berlin".

Welt, 16.08.2007

Die Longlist des Deutschen Buchpreises ist bekannt gegeben worden und Elmar Krekeler verblüfft über die Vielfalt auf hohem Niveau. Zum 30. Todestag von Elvis Presley feiert Thomas Lindemann die Comic-Biografie "Elvis", an der unter anderen Titus Ackermann, Reinhard Kleist Isabel Kreitz mitgearbeitet haben, mithin die Creme de la Creme der deutschen Szene. Bernhard Mackowiak berichtet über ein Projekt Berliner Uni-Tüftler, den ersten Verstärker der Rockgeschichte nachzubauen.

Besprochen werden eine Ausstellung des italienischen Meisterstechers Giovanni Battista Piranesi im Berliner Kupferstichkabinett, Rene Jacobs Inszenierung von Telemanns Oper "Der geduldige Socrates" (mit famosen Koloraturen von Inga Kalna als Xanthippe) in Salzburg sowie auf der Filmseite Robert Thalheims Film über Auschwitz und Oswiecim "Am Ende kommen Touristen", Simon Groß' Debütfilm "Fata Morgana" und Mike Binders New-York-Film "Die Liebe in mir".

FR, 16.08.2007

Der deutsch-polnische Schriftsteller Artur Becker kommentiert die politische Lage in Polen. Verena Mayer beobachtet Szenen am Berliner Arbeitsgericht in Zeiten von Hartz IV. Harry Nutt meditiert in der Kolumne Times mager über die Kittung der Risse im Holocaust-Mahnmal. Christian Twickel stellt die neue Zeitschrift Kosmoprolet vor. Besprochen wird ein Konzert der HR-Sinfoniker bei den "Proms" in London. Auf der Medienseite kommentiert Daland Segler neue Schleichwerbungsvorwürfe gegen die ARD-Serie "In aller Freundschaft".

Tagesspiegel, 16.08.2007

"Wenn die schönen Debatten wichtiger wären und die wichtigen Debatten schöner, dann gäbe es in Deutschland eine Debattenkultur, um die wir zu beneiden wären", glaubt der Schriftsteller Thomas Brussig. Nur leider sieht es in der Realität anders aus. Meist werden unwichtige U-Debatten (Grass, Schießbefehl, Holocaustmahnmalgraffitischutz) auf exzellentem rhetorischen Niveau geführt, die wichtigen E-Debatten (Pisa und Rütli, Qualität der Lebensmittel) entfalten weniger Glanz. "Nun ist es aber nicht so, dass U-Debatten in den Chefredaktionen designt und hernach inszeniert werden. Bestimmte Themen haben ein Erregungspotenzial - und über das herrscht so lange Ungewissheit, bis die Erregung da ist... Es ist mit den Debatten ein bisschen wie im Kindergarten: Wenn die Kindergartentante in Gestalt des Feuilletons in die Hände klatscht und ruft 'Kommt, wir spielen jetzt ein bisschen Klimadiskussion!', winken die Kinder den einen Tag ab, während am nächsten alle begeistert aufspringen und mitspielen. Es ist etwas höchst Unberechenbares, was den Ausbruch von Debatten angeht. Nur Goebbels-Vergleiche, die funktionieren immer."

SZ, 16.08.2007

Till Briegleb macht Appetit auf den Berliner Architekten Jürgen H. Mayer, den er in seinem Atelier besucht: "Die meisten seiner Häuser erinnern ans Essen. Expo-Hallen in Dänemark zeigen Umrisse, als seien sie angebissen, eine Mensa in Karlsruhe folgt der Idee von zwei aufgeklappten Toastscheiben, zwischen denen sich Honigfäden ziehen. Die Fassade seines Bürgerhauses in Ostfildern weckt mit beige-brauner Verkleidung Lust auf Schoko-Sahne-Torte, und in Sevilla baut der Schwabe mit einem Büro in Berlin gerade eine riesige Platzüberdachung in Form von Pilzen."

Weitere Artikel: Schon lange herrschte in Washington das antimoderne und antistädtische Ressentiment, zuletzt verkörpert von George Bush. Nun könnte die Metropole zurückschlagen, meint ein hoffnungsfroher Andrian Kreye, denn allein drei Kandidaten könnten sich aus New York präsentieren: "der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani, die derzeitige Senatorin Hillary Clinton für die Demokraten und als unabhängiger Außenseiter der amtierende New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg". Karl Bruckmaier schreibt zum 30. Todestag von Elvis Presley. Als Sensation kommentiert Willibald Sauerländer die Meldung, dass der deutsche Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens zum Direktor des "Getty Research Institute for the History of Art and the Humanities" in Los Angeles, der reichsten Kunstinstitution der Welt, ernannt wurde. Vorabgedruckt wird ein Vorwort Sibylle Lewitscharoffs zu einem Jean-Paul-Bändchen in der von der SZ vertriebenen "Edition Bibliotheca Anna Amalia". Christine Dössel schreibt zum Tod des nordrhein-westfälischen Kunstfunktionärs und Theaterförderers Dietmar N. Schmidt.

Auf der Filmseite werden Claude Berris Film "Zusammen ist man weniger allein" und Robert Thalheims Film "Am Ende kommen Touristen" besprochen. Rainer Gansera unterhält sich mit Robert Thalheim und den Produzenten seines Films, der die Geschichte eines Zivildienstleistenden in der Auschwitzgedenkstätte erzählt, über die Schwierigkeit, an diesem Ort zu drehen. Anke Sterneborg war dabei, als Hou Hsiao-Hsien eine Retro seiner Filme in Berlin eröffnete.

Besprochen werden außerdem die "Bakchen" des Euripides beim Edinburgh Festival, ein Konzert Daniel Barenboims und seines "West-Eastern Divan Orchestra" in Salzburg und Bücher, darunter Kathrin Passigs "Lexikon des Unwissens" und ein Band mit Gedichten Hugo Balls (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 16.08.2007

Uwe Rada berichtet von Protesten deutscher und amerikanischer Wissenschaftler gegen die Verhaftung des Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm, der wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet worden war. "Namentlich der Vorwurf einer intellektuellen Urheberschaft ist es, der in der Wissenschaftsszene für Unruhe sorgt. In einer Erklärung von Teilnehmern der Jahrestagung der American Sociology Association in New York heißt es: 'Wir verwahren uns aufs Schärfste gegen den unglaublichen Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten.'"

Weitere Artikel: Tobias Rapp stellt ein Buch über die Geburt des Teenagers vor, "Teenage - The Creation of Youth Culture" von Jon Savage. In seiner DVD-Kolumne widmet sich Ekkehard Knörer Pasolinis Episodenkomödie "Große Vögel, kleine Vögel". Tilman Baumgärtel erinnert an Eddie Mesa, den Elvis der Philippinen. In China ist Elvis dagegen nie angekommen, behauptet Susanne Messmer. Auf der Meinungsseite schließt Klaus Walter die Debatte um HipHop ab: "Im Diskursdickicht um vermaledeite Kampfbegriffe wie Kultur, Identität und Stolz wird ein schwammiger Multikulturalismus zum Wegbereiter für reaktionären Ethnopluralismus."

Besprochen werden Robert Thalheims Spielfilm "Am Ende kommen Touristen" und Chris Abanis Roman "GraceLand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.