Heute in den Feuilletons

Auf dieser Position bleibe ich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2010. Thilo Sarrazin beherrscht die Debatte. Für Necla Kelek in der FAZ liefert er eine korrekte Beschreibung der deutschen Zustände. In der Welt erklärt er selbst, warum seine Intervention als sozialdemokratisch zu verstehen sei. Außerdem: Die FR ist begeistert von der Architekturbiennale in Venedig, wo Rem Kohlhaas laut SZ die Exzesse des Denkmalschutzes bekämpft. Im Economist warnt Jay Rosen die Zeitungen: Drucken bringt Geld, hat aber keine Zukunft.

Welt, 30.08.2010

In einem langen Interview mit der Welt am Sonntag erklärt Thilo Sarrazin noch einmal seine Thesen zu Einwanderung, Integration, Bildung und insistiert unter anderem, dass "gemessene" Intelligenz zu "50 bis 80 Prozent erblich" sei. Auf die Frage, ob er nicht Angst habe, Beifall von NPD-Anhängern zu bekommen, antwortet er: "Ich bin genau das, als das ich mich in meinem Buch bezeichne: ein Verfechter eines modernen, nach vorne weisenden Sozialstaates, der für maximale Chancengleichheit und ein vernünftig zu verwirklichendes Maß an sozialer Gerechtigkeit ist. Auf dieser Position bleibe ich und lasse mich davon auch nicht durch Beifall aus der falschen Ecke verdrängen. Das ist meine innere Überzeugung."

Im heutigen Feuilleton erzählt "Avatar"-Regisseur James Cameron im Interview, warum er zusammen mit Indianern in Brasilien gegen den Bau eines Staudammes protestiert: "Ich konnte mich deren Sache nicht verweigern, nachdem ich Jahre meines Lebens an einem Film gearbeitet hatte, der exakt ihre Situation schildert." Trauriges über die Entwicklung der deutschen Sprache hörte Eckhard Fuhr bei der Verleihung der Goethe-Medaillen in Weimar an Agnes Heller, Fuad Rifka und John M. Spalek.

Besprochen werden eine Meta-Literaturausstellung zu Goethes Wilhelm-Meister-Romanen im Frankfurter Goethe-Haus, eine Ausstellung über die Brücke-Malermodelle Fränzi und Marcella im Sprengel Museum in Hannover und einige CDs.

Aus den Blogs, 30.08.2010

(Via Kenanmalik) Die Freidenkerin Susan Jacoby schreibt auf Big Questions Online in einem Artikel pro Ayaan Hirsi Ali ein paar quellwasserklare Sätze, die wohl auch den meisten wohlmeinenden Feuilletonisten hierzulande Magenfalten bereiten würden: "I am an atheist with an affinity for non-fundamentalist religious believers whose faith has made room for secular knowledge. I am also a political liberal. I am not, however, a multiculturalist who believes that all cultures and religions are equally worthy of respect. And I find myself in a lonely place in relation to many liberals, political and religious, because I cannot accept a multiculturalism that tends to excuse, under the rubric of 'tolerance,' religious and cultural practices that violate universal human rights."

Via (Mediadigital) Der Journalismusprofessor Jay Rosen benennt in einem Blog des Economist das Dilemma der Printpresse: "The print edition provides most of the revenues, but it cannot provide a future. I know of no evidence to show that young people are picking up the print habit. So if the cost of abandoning print is too high, the cost of sticking with it may be even higher, though slower to reveal itself. That's a problem."
Stichwörter: Hirsi Ali, Ayaan, Rosen, Jay

NZZ, 30.08.2010

Joachim Güntner resümiert noch einmal die Argumente für und gegen Google Street View. Dabei will er bemerkt haben, dass Frauen mehr zu verbergen haben: "Eine davon, nach ihren Gründen gefragt, antwortete: 'Weil ich dann nicht mehr lügen kann.' Für sie wäre die Information über ihre Wohnlage ein weiteres Detail, das, mit anderen Informationen vernetzt, ihr Leben durchsichtig macht." (Auch in den journalistennahen Ständen wird Intelligenz offenbar nur zu 50 bis 80 Prozent weitervererbt.)

Weiteres: Gabrielle Alioth blickt ins krisengebeutelte Irland - einst Reiseziel Heinrich Bölls und Inspirationsquelle für sein "Irisches Tagebuch". Besprochen werden die Vorstellungen des Zürcher Balletts mit den Choreografien von Heinz Spoerli und Hans van Manen, Toshio Hosokawas Werk "Woven Dreams", das beim Lucerne Festival vom Cleveland Orchestra aufgeführt wurde sowie der Start der seit 30 Jahren bestehenden Baseler Kaserne als Kunst- und Kulturhaus in die Jubiläumssaison.

FR, 30.08.2010

Ganz feierlich zumute wurde Christian Thomas beim Gang über die Architektur Biennale, die in diesem Jahr von der großartigen Kazuyo Sejima ausgerichtet wurde: "Einerseits mag der Biennalebesucher dabei zusehen, dass die Stadt das größte Gesamtkunstwerk ist, das sich die Menschheit tagtäglich leistet. Zugleich aber demonstriert ein im Grunde so betörender Ort wie die venezianischen Giardini, dass alles urbane Leben ein Extrem darstellt, eine Notlage und Zumutung, zugleich die einzige Hoffnung - jedoch eine auf permanent schwankendem Boden."

Weiteres: In Times mager verarbeitet Sylvia Staude das Interview des Ökonomen Patrick Chovanec aus Forein Policy über die Realität von Nordkorea. Besprochen werden Mozarts Klavierkonzerte von Jewgenij Kissin, Lars Gustafssons und Agneta Blomquists Handbuch "Alles, was man braucht", der neue Comic "Fräulein Rühr-mich-nicht-an" von Hubert und Kerascoët sowie Heinrich Steinfests letzter Detektiv-Cheng-Krimi "Batmans Schönheit" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 30.08.2010

Heute ist der Tag der Gabriele Goettle! Diesmal lässt sie in ihrer Reportage Jürgen Horn erzählen, den ehrenamtlichen Leiter des Kreuzberger Kulturzentrums für Obdachlose und Arme, "Gitschiner 15": "Dadurch, dass wir ein so vielfältiges Angebot haben, bekommen wir keine Fördermittel. Würden wir hier nur malen, wäre es ein Atelier für Obdachlose, das wird gefördert. Wenn wir lediglich ein Cafe für Obdachlose hätten, wären wir ein förderungswürdiges Obdachlosencafe usw. Aber für das breite Spektrum, das wir zur Verfügung stellen - und auch stellen möchten - gibt es keine Förderung. Das ist in der Bürokratie einfach nicht vorgesehen."

Ulrike Herrmann und Alke Wierth nehmen in der tazzwei einige von Thilo Sarrazin angeführte Statistiken unter die Lupe und finden Ungereimtheiten: Etwa "Sarrazins Behauptung, dass ausgerechnet unter den Muslimen der kriminelle Nachwuchs von morgen heranwächst. Zwar weist die Berliner Kriminalitätsstatistik bei jugendlichen Intensivtätern eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Nichtdeutschen aus. Doch die von Sarrazin als so integriert gelobten Osteuropäer stehen dort an erster und die Vietnamesen an dritter Stelle."

Und Tom.

SZ, 30.08.2010

Matthias Drobinski liefert auf der Politischen-Buch-Seite eine eher oberflächliche Kritik des Buchs von Thilo Sarrazin: "Das Buch gehört .. zum Genre der Niedergangsliteratur, die auch deshalb beim Leser solchen Anklang findet, weil der Niedergang in wohlhabenden Gesellschaften zur latenten Angst der Menschen gehört."

Rem Kohlhaas widmet sich in seiner Ausstellung bei der Architekturbiennale Venedig den Exzessen des Denkmalschutzes, berichtet Laura Weißmüller: "Koolhaas spitzt deswegen die These seiner Ausstellung nicht nur dahingehend zu, dass bald möglicherweise noch gar nicht Gebautes unter Schutz gestellt werden könnte; er spricht schon von einem 'Regime des Denkmalschutzes', das regelmäßig moderne Entwicklungen hemme." Seine Idee, die Fondaco die Tedeschi in Venedig zur Shopping Mall zu machen, mag Weißmüller dennoch nicht zustimmen.

Weitere Artikel: Im Aufmacher liest Thomas Steinfeld den neuesten Erzählungsband von John Grisham, "Das Gesetz". Michael Moorstedt erzählt Nachrichten aus dem Netz über lokale Dienste von Facebook und über Ebooks. Christian Wernicke trifft den amerikanischen Bürgerrechtler John Lewis, der die Tea-Party-Bewegung als Affront gegen die Ideen Martin Luther Kings ansieht. Peter Münch besucht das umgebaute Israel Museum in Jerusalem. Christoph Haas würdigt die dreißigste Ausgabe des Erlanger Poetenfestes (mehr hier).

Besprochen werden die Ausstellung "Durch Labyrinthe" in Barcelona und das Eröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker mit Beethoven und Mahler (das der neue Intendant Martin Hoffmann gleich in mehrere Kinosäle übertragen ließ).

FAZ, 30.08.2010

Voll und ganz hinter Thilo Sarrazin und seine Thesen seine Thesen (mehr hier) stellt sich die Soziologin Necla Kelek. Den "gesunden Menschenverstand" ruft sie dabei ebenso zu Hilfe, wie sie die Sarrazin-KritikerInnen von links wie rechts scharf kritisiert. Alles nur Ablenkungsmanöver, weil man sich vor der Analyse drücken wolle. "Der Ökonom Sarrazin errechnet, dass aus 750.000 Arbeitsmigranten aus der Türkei fast drei Millionen geworden sind, deren erwerbsfähiger Teil zu vierzig Prozent von Sozialleistungen lebt, sagt, das sei volkswirtschaftlich eine miese Bilanz, und überlegt, ob Zuwanderung, wie sie stattfindet, nicht falsch ist. Das ist kein Grund, sich über den Autor zu empören, sondern wir müssen die Politiker, die dieses Ergebnis zu verantworten haben, fragen, ob sie im Interesse dieses Landes regiert haben." (In der FAS von gestern fand Frank Schirrmacher zwar die biologistische Stoßrichtung von Sarrazin falsch, die Debatte über Bildung und Kultur und Einwanderungspolitik aber wichtig.)

Weitere Artikel: Sandra Kegel berichtet vom Suhrkamp-Sommerfest im Literarischen Colloquium in Berlin. In der Glosse schildert Jürg Altwegg die Entfremdung zwischen Nicolas Sarkozy und der katholischen Kirche wegen der brutalen Roma-Politik des französischen Präsidenten. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru Aufsätze über die ökonomische Entwicklung der Länder Osteuropas. Über Proteste Petersburger Intellektueller gegen eine Gedenktafel für den zensurfreudigen ehemaligen KP-Chef der Stadt Grigori Romanow informiert Kerstin Holm.

Besprochen werden Cristina Colonnas Inszenierung von Antonio Vivaldis Oper "Ottone in villa" bei den Innsbrucker Festwochen, Saisoneröffnungskonzerte der Philharmoniker und des Konzerthauses in Berlin, ein Konzert von The XX in Köln, eine Ausstellung des Fotografen Götz Diergarten in der Weserburg Bremen, die Designentwurf-Ausstellung "Fighting the Box" in der Centrale electrique in Brüssel und Bücher, darunter Stephen Hawkings und Leonard Mlodinows Welterklärungsversuch "Der große Entwurf" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).