Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2006. Die Welt porträtiert die Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates, die nach einem weiteren Überfall resigniert ihre Kanzlei schließt. Außerdem hat sie schon Jonathan Franzens morgen erscheinenden Erinnerungen an seine ereignislose Jugend in Missouri gelesen. In der SZ preisen die Architekten Almut Ernst und Armand Grüntuch die deutsche Großstadt. Die taz erkennt in Bazon Brock einen Papa Schlumpf-Laokoon. Die FR ist begeistert von Robert Wilsons Schönberg-Inszenierung "Erwartung", die NZZ eher entgeistert von Thomas Ostermeiers "Sommernachtstraum".

Welt, 04.09.2006

Auf den Forumsseiten porträtiert Mariam Lau die Berliner Frauenrechtlerin Seyran Ates, die resigniert ihre Anwaltskanzlei schließt, nachdem sie wieder einmal vom Ehemann einer Mandantin angegriffen worden ist. Die Gewalt gegen Frauen hält sie auch für eine Folge der sozialen Deklassierung türkischer Einwanderer: "'Meine Brüder', erinnert sich Seyran Ates, 'haben mich in der Türkei nicht geschlagen. Wir kannten Armut, aber nicht Gewalt. Mein Vater ist noch damit groß geworden, dass man Frauen und Kinder nun mal zu schlagen hat, das hat er weitergegeben in einer Situation, in der er selber erniedrigt war als Gastarbeiter und umso mehr seine Familie schützen wollte gegen die bösen Deutschen. In der Türkei selbst wird heute offen über häusliche Gewalt debattiert.' Die Mädchen sind erfolgreicher in Deutschland. Dafür rächt man sich an ihnen." (dazu ein Artikel von Ates über das zweierlei Maß, mit dem bei Frauenrechten für Musliminnen gemessen wird)

Schon vor ihrem morgigen Erscheinen haben Jonathan Franzens Erinnerungen "The Discomfort Zone" viel Häme auf sich gezogen, vom "Porträt des Künstlers als junger Esel" ist die Rede, berichtet Wieland Freund, dem das Buch aber ganz gut gefallen hat: "Statt wie Schriftstellerkollege Augusten Burroughs spektakuläre Geschichten von Kindesmissbrauch und Alkoholsucht zu erzählen, berichtet Franzen - wenn auch in spektakulär eleganter Prosa - von einer ereignislosen Jugend im Missouri der Siebziger Jahre: mitten im Land, mitten in der Mittelklasse. Franzen, der ehemalige Deutschstudent, zitiert Karl Kraus: 'Rotwerden, Herzklopfen, ein schlechtes Gewissen: Das kommt davon, wenn man nicht gesündigt hat.'"

Weiteres: Sensationell findet Reinhard Wengierek den "enthemmten, narzisstischen, brutalen und grellbunten" "Sommernachtstraum" von Constanza Macras und Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne. Michael Pilz macht einen Rundgang über die internationale Funkausstellung in Berlin, über der vor allem die Frage schwebte: "Plasma oder LCD?" Constanze Klementz bilanziert das Internationale Tanzfest Berlin. Tilmann P. Gangloff beobachtet einen neuen Trend zum Katastrophenfilm im deutschen Fernsehen. In seinen Wasserstandsmeldungen aus Venedig beweint Peter Zander die magere Präsenz des deutschen Film bei den Filmfestspielen. Johnny Erling meldet, dass China im Jahr 2009 Gastland der Frankfurter Buchmesse werden möchte. Und Peter Dittmar berichtet, dass auf dem Geläden der Pressebüros des früheren Bonner Regierungsviertels eine alte römische Siedlung ausgegraben wird: "Die Bonner Parlamentsjournalisten gingen einst über Leichen."

NZZ, 04.09.2006

Entgeistert hat Barbara Villiger Heilig dem Treiben auf der Schaubühne in Berlin zugesehen, wo Thomas Ostermeiers und Constanza Makras' Inszenierung des "Sommernachtstraums" gegeben wurde. Vor allem zweifelt sie am nüchternen Verstand ihrer Kolleginnen und Kollegen: "Eine gehörige Portion Ouzo müssen die paar deutschen Theaterkritikerinnen und Theaterkritiker intus gehabt haben, als sie Ende Juni in Piräus der Premiere eines 'Sommernachtstraums frei nach William Shakespeare' beiwohnten, zu dem sie von den Veranstaltern - dem Hellenic Festival Athen und der Berliner Schaubühne - eingeladen waren. Anders erklärt sich schwer, wieso sie, in Schreibekstase versetzt und freudig von Superlativ zu Superlativ hüpfend, eine Produktion auf den Theaterolymp hievten, die bei nüchterner Betrachtung eher zum sprachlosen Staunen veranlasst. Ein bekanntes Phänomen: Bei Partys amüsiert sich, wer mitmacht, indem er sich in Gesellschaft betrinkt."

Weitere Artikel: Der Psychoanalytiker Arno Gruen beantwortet in der Serie zum Thema die Frage "Was ist eine gute Religion?". Beat Stauffer berichtet von einem Projekt zur Vergangenheitsverarbeitung im algerischen Oran. Marc Zitzmann hat einen Rundgang durch das neue Pariser Musee du Quai Branly (Website) für außereuropäische Kunst unternommen - und findet die Konzeption rückwärtsgewandt. Besprochen wird Robert Wilsons Inszenierung von Arnold Schönbergs "Erwartung" in der Berliner Staatsoper.

SZ, 04.09.2006

Im Interview mit Frank Thinius plädieren die Berliner Architekten Almut Ernst und Armand Grüntuch, die Gestalter des Deutschen Pavillons bei der Architekturbiennale in Venedig, für den Abschied von der hiesigen Liebe zum Landleben. "Die deutschen Großstädte haben Qualitäten, die uns gar nicht so bewusst sind. Die Offenheit und soziale Durchmischung etwa sind im Vergleich zu Städten in anderen Ländern sehr groß. Ebenso die Nutzungsvielfalt. Es gibt noch nicht diese Segregation wie woanders, etwa durch Gated Communities, also bewachte Wohngebiete."

Weiteres: Vor dem Bayernbesuch Benedikt XVI. zieht Alexander Kissler eine sympathisierende Zwischenbilanz des bisherigen Pontifikats, und erklärt den Prunkverzicht zum wichtigsten Ziel des Papstes. Susan Vahabzadeh meldet ebenfalls aus Venedig, wo sie Edgar Reitz' vierte "Heimat", Stephen Frears' The Queen" und Alain Resnais' "vollkommen durchdachten" Film "Coeurs" gesehen hat. Susanne Bausinger berichtet von den griechischen Schwierigkeiten, das seit den siebziger Jahren geplante Akropolis-Museum, wo auch das zu restituierende Parthenon-Fries untergebracht werden soll, fertig zu bekommen. Norditalien richtet sich mit großen Projekten wie dem Umbau des Stahlwerks in Sesto San Giovanni auf die Dienstleistungsgesellschaft ein, kolportiert Henning Klüver.

Besprochen werden Robert Wilsons Aufführung von "Deafman Glance" und "Erwartung" in der Berliner Staatsoper (beide "Inkunabeln der experimentellen Moderne", schwärmt Wolfgang Schreiber), Tschechows "Drei Schwestern" und Michel Houellebecqs "Plattform" auf dem Edinburgh Festival, Thomas Wartmanns Film über Transvestiten in Bombay "Between the Lines", eine Freud- Ausstellung im italienischen Gorizia, und Bücher, darunter Helmut Strizeks Studie der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda und Burundi, Andreas Wirschings unter das Motto "Abschied vom Provisorium" gestellte Geschichte der BRD 1982-1990 sowie Shashi Tahoors "kluger Unterhaltungsroman" "Bollywood" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 04.09.2006

In seinem Weblog verfolgt Jörg Lau weiter die rätselhaften Umstände der Entlassung des iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo. Nach vier Monaten Haft im berüchtigten Evin Gefängnis hat der Regime-Kritiker in einem Interview ein seltsames Geständnis gemacht: "In diesem Interview sagte Jahanbegloo, Geheimdienstmitarbeiter gegnerischer Staaten hätten an Seminaren teilgenommen, die er im Ausland gegeben habe. Diese Agenten hätten ihn und seine Expertise über Iran zu feindlichen Zwecken benutzen wollen. Er sagte, eine vergleichende Studie über die osteuropäischen Zivilgesellschaften und den Iran, die er für den transatlantischen Thinktank German Marshall Fund anfertigen wollte, hätte benutzt werden sollen, um den Umsturz im Iran zu planen." Laus Einschätzung: "Das Transskript des 'Geständnisses' von Ramin Jahanbegloo lässt keinen anderen Schluss zu, als dass wir Zeugen einer öffentlichen (Selbst-)Vernichtung eines hervorragenden Intellektuellen werden".

TAZ, 04.09.2006

Henrike Thomsen kommentiert Bazon Brocks "Lustmarsch durchs Theoriegelände" der gerade in Berlin angekommen ist: "Bazon Brock ist ein Papa Schlumpf-Laokoon im Ringen mit den Schlangen der Geschichte, der Kunst und des Unterbewusstseins. Sein Projekt einer 'schweren Entdeutschung' hat etwas Rührendes, das als veraltet und gestrig abzutun wäre, respektierte man nicht im Hintergrund die Biografie, das Kindheits-Trauma, gegen das sich Phoenix Phlebas erhob und gegen das Bazon bis heute anredet."

Weiteres: Niklaus Hablützel schwärmt von Robert Wilsons Aufführung "Deafman Glance", das er als "Aufschrei gegen jede Konvention des Gefühls" vernommen hat. Aus Venedig berichtet Cristina Nord von der Retrospektive der Filmfestspiele, die sich in diesem Jahr dem sowjetischen Unterhaltungskino widmet.

Und Tom.

FR, 04.09.2006

Robert Wilson hat mit seinen zwei Bühnenklassikern "Deafman glance" und "Erwartung" in der Berliner Staatsoper einen Jubel ausgelöst, wie Georg-Friedrich Kühn ihn dort lange nicht mehr erlebt hat. "Kraft bekommt die Aufführung von der überwältigenden Bühnenausstrahlung Anja Siljas. Ihr knöchellanger schwarzer Mantel (Kostüme: Moidele Bickel) ist nun geöffnet und gibt den Blick frei auf ein weißes Kleid - den "Weg", nach dem sie sucht, ausgelegt als gezackter Streifen auf dem schwarzen Bühnenboden. Stromlinienförmig geföhnt ist ihr graues Haar. Sie selbst bewegt sich auf der Bühne wie eine Art Zeiger. Die Wilsonsche Ikonografie lässt sie als lebende Statue erscheinen. Die Bühnenpräsenz Anja Siljas macht die gelegentliche Brüchigkeit ihrer Stimme weitgehend vergessen."

Weiteres: Jamal Tuschick war dabei, als der aus Dresden stammende Schriftsteller Ingomar von Kieseritzky zum neuen Stadtschreiber Bergens gekürt wurde. Stefan Schickhaus vergleicht das Eröffnungs- und Abschlusskonzert des insgesamt 142 Aufführungen umfassenden Rheingau-Musik-Festivals. In Times mager prophezeit Hans-Jürgen Linke, dass "polizeiliche Ermittlungen" in dieser Saison der beliebteste Grund für Bahnverspätungen sein werden.

Eine Besprechung widmet sich Thomas Ostermeiers und Constanza Macras' "partykrachermäßiger" Version des "Sommernachtstraums" in der Berliner Schaubühne.

FAZ, 04.09.2006

Bei den Filmfestspielen in Venedig zeigt sich Michael Althen von Alfonso Cuarons Zukunftsthriller "Children of Men" nach P.D. James sehr angetan. Er entdeckt darin "eine erschreckend plausible Vision, in der alle Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung als Albtraum wahr werden". Der Film schildert eine totalitäre und kinderlose Welt, in der eine schwangere illegale Einwanderin auftaucht: "Die Erinnerung ans Kinderkriegen ist in diesem Horrorszenario so fern, dass die werdende Mutter ihren Helfer darüber aufklären zu müssen glaubt, dass eine Schwangerschaft neun Monate dauert. So wandelt sich der Zukunftsthriller allmählich zur Erlösungsgeschichte, in der man bis zur letzten Minute den Atem anhält, weil er so hautnah inszeniert ist und vor allem die zeitgemäßen Implikationen dieser Geschichte so unter die Haut gehen."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing hält die Tatsache, dass die unter anderem muslimische Frauen verteidigende Anwältin Seyran Ates jetzt aufgrund von Drohungen ihre Kanzlei aufgegeben hat, für ein Symptom der gescheiterten multikulturellen Gesellschaft. In einem ausführlichen Gammelfleisch-Artikel klärt Franziska Bossy über die wichtigen Unterschiede zwischen "Döner "und "Drehspieß nach Dönerkebab Art" auf. Christian Schwägerl blickt in die Zukunft, und zwar dahin, wo es den Berliner Großflughafen "Berlin Brandenburg International" dann vielleicht wirklich einmal gibt. (Immerhin eine Website gibt es schon!) Paul Ingendaay hat literarische Menschenrauberzählungen gelesen, die dem Fall Kampusch ähneln. Vermeldet wird eine Petition von Wissenschaftlern, die den Planeten Pluto zurückhaben möchten.

Auf der letzten Seite hält uns Dieter Bartetzko über die aktuellen Absurditäten im Krisenfall Dresdener Waldschlösschenbrücke auf dem Laufenden. Christian Schwägerl porträtiert die erfolgreiche Unternehmerin und Mittlerin zwischen den Kulturen Yue-Sai Kan (Informationen in englischer Sprache). Arezu Weitholz hat zu der Frage recherchiert, wovon eigentlich deutsche Popmusiker leben. ("Einen kenne ich, der ist jetzt Hausvermieter, der zweite ist Tontechniker im Eventbereich, da ist noch viel los.")

Besprochen werden Anders Thomas Jensens Film "Adams Äpfel", ein Brecht-Abend mit elf jungen Suhrkamp-Autoren im Berliner Ensemble, Constanza Macras' und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum", Robert Wilsons Inszenierung von Schönbergs "Erwartung" an der Staatsoper Unter den Linen und der Abschluss des Rheingau Musik Festivals mit Mozarts komplettierter großer c-Moll-Messe.

Auf der Neue-Sachbücher-Seite gibt es unter anderem Rezensionen zu naturwissenschaftlen Büchern übers Rechnenkönnen und übers Träumen, zu Martin Doerrys Band mit Gesprächen mit Überlebenden des Holocaust "Nirgendwo und überall zuhaus". Besprochen wird auch Evelyn Grills Roman "Der Sammler" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).