Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2006. Im Spiegel ruft Götz Aly die EU zur Organisation einer Gegenveranstaltung zu einer im Iran geplanten Konferenz von Holocaustleugnern auf. In der Welt warnt Mario Vargas Llosa vor umgekehrtem Rassismus in Lateinamerika. Die NZZ hofft auf die Effekte der in Japan eingeführten weiblichen Thronfolge. In der Berliner Zeitung meditiert der Historiker Moshe Zimmermann über das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft im Jahr 1972. In der SZ schildert Ibrahim Al-Hariri, wie die Angst vor Al Sarkawi im Irak zur Obsession wird.

Spiegel Online, 20.01.2006

Der Iran bereitet eine Konferenz über den Holocaust vor, zu der auch Holocaustleugner wie Horst Mahler eingeladen werden sollen. Im Interview mit Alexander Schwabe warnt der Hiostoriker Götz Aly (mehr hier und hier) vor dieser Kombination historischen Irrsinns mit der Macht eines Staatsapparats: "Wir sind, was den Iran betrifft, im Augenblick Zeugen eines politischen Prozesses, in dem aus Vorurteilen, die es in jeder Gesellschaft massenhaft gibt, eine Staatsideologie wird. Das Ressentiment verkoppelt sich mit den Möglichkeiten staatlicher Macht." Aly regt eine Gegenkonferenz an: "Das könnte die Europäische Union tun. Über den Holocaust hinaus sollte man weitere Geschichtsbilder thematisieren, die zu Hass, Mord und zur Verweigerung des Existenzrechtes von Millionen von Menschen geführt haben. Was in Iran momentan passiert, ist uns aus der europäischen Geschichte so fremd nicht. Wir müssen nur 60, 70, 90 Jahre zurückgehen, dann rückt uns ganz nah, was uns heute als verrückt und aberwitzig erscheint."

NZZ, 20.01.2006

Die japanische Regierung will per Gesetz eine weibliche Thronfolge in Japan möglich machen und so ein Signal für die Frauen im Land setzen, berichtet Florian Coulmas. Das scheint dringend nötig zu sein: "Dass sie trotz dem jetzt schon zwanzig Jahre alten Antidiskriminierungsgesetz noch viel weiter von Gleichstellung entfernt sind als ihre Kolleginnen in anderen Industrieländern, verbittert nicht nur viele Frauen; sie kriegen auch keine Kinder mehr. Japans Bevölkerung, das zeigen die letzten Zahlen, hat zwei Jahre früher als noch vor wenigen Monaten prognostiziert begonnen zu schrumpfen. 2005 überstieg die Zahl der Todesfälle die der Geburten um 10.000. Wenn die Frauen weiterhin so gebärunfreudig sind, wird die Depopulation rasch an Fahrt gewinnen."

Ein Schiedsgericht hat der Erbengemeinschaft um Maria Altmann fünf der berühmtesten Gemälde Gustav Klimts im Schätzwert von 200 Millionen Euro zugesprochen. Der Prozess, der sich über mehr als sechs Jahre hinzog, wirft kein gutes Licht auf Österreich, findet Paul Jandl. "Wiederholt hat Randol Schoenberg, Enkel des Komponisten Arnold Schönberg und Anwalt Maria Altmanns, den 'Formalismus' der österreichischen Seite kritisiert. Als Maria Altmann schon vor sieben Jahren auf dem Postweg Verhandlungsbereitschaft signalisiert hat, wurde ihr Brief von der zuständigen Ministerin Elisabeth Gehrer gar nicht erst beantwortet. Die Ministerin steht jetzt, nach dem Schiedsspruch, mit einer moralisch höchst beschädigten Restitutionspolitik da. Auf versöhnliche Gesten schon während des Verfahrens glaubte man verzichten zu können. Jetzt ist der Katzenjammer groß."

Weitere Artikel: In der Reihe über "Paris, gestern und heute", schlendert Marc Zitzmann durch Passy. Hubertus Adam schildert, wie Großbritannien sich an das Arts & Crafts Movement erinnert. Die Schließung des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt scheint abgewendet, berichtet Joachim Güntner, doch zeige der Fall, dass es den Sexualwissenschaften in Deutschland "nicht gelungen ist, sich als reguläres Fach mit eigenem Abschluss an den Hochschulen zu etablieren".

Auf der Filmseite schreibt Jürgen Kasten zum 100. Geburtstag der Schauspielerin Lilian Harvey. Besprochen werden Rob Marshalls Film "Memoirs of a Geisha" (mehr), Bent Hamers Verfilmung des Charles-Bukowski-Romans "Factotum" und Woody Allens Film "Match Point" (mehr).

Auf der Medien- und Informatikseite gibt es heute mehrere Artikel über Journalismus in Krisenzeiten. Ras. stellt ein Buch von Hugh Miles über Al-Dschasira vor und beschreibt die Folgen des Kriegsstresses in den Medien: Tote, Druckversuche, einseitige Berichte, Falschinformationen und Rücktritte. Ulrich Saxer berichtet über die Ergebnisse einer Studie mit empirischen Befunden zum europäischen Kriegs- und Krisenjournalismus.

TAZ, 20.01.2006

Als eine "intensiv leuchtend komponierte Ausstellung, eine der schönsten, die man in Baden-Baden je sah" bejubelt Georg Patzer die Schau "Female" mit Arbeiten der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas (Bilder) in der dortigen Kunsthalle. "Jedes einzelne Porträt zeigt eine Persönlichkeit. Dumas' grobe Zeichnung trifft einen Kern, ohne, wie in Karikaturen, zu überspitzen oder zu vergröbern. Mit kleinem malerischem Aufwand zeigt sie eine Verschmitztheit, eine Verschattung, eine innere Ruhe, ein Misstrauen, ein Zögern."

In ihrem Bericht von den Herrenmodeschauen in Florenz und Mailand fragt sich Katrin Kruse, wie der belgische Designer Martin Margiela aussieht, der sich noch nie der Öffentlichkeit gezeigt hat. Tobias Rapp stellt in "Zwischen den Rillen" den "Beardo House" von Lindstrom & Prins Thomas vor, in dem sich Krautrock neben Italo-Disco findet, sowie CDs von Gomma 3 und DJ Naughty.

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 20.01.2006

Der israelische Historiker und Deutschland-Experte Moshe Zimmermann meditiert anlässlich von Steven Spielbergs "Munich"-Film über den historischen Moment des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft: "Das palästinensische Attentat im olympischen Dorf von München gab den Israelis seinerzeit die Möglichkeit, die zwei effektivsten historischen Feindbilder - das des Arabers (beziehungsweise des Palästinensers) und das des Deutschen - zusammen zu führen und zu aktivieren. In der israelischen Wahrnehmung des Geschehens vom September 1972 überschatteten diese Feindbilder sowohl die Versäumnisse der eigenen Sicherheitsdienste als auch die Rolle der Sowjets und ihrer Handlanger beim Attentat. Sie lenkten auch von der Haltung des US-amerikanischen IOC-Präsidenten Avery Brundage ab, der schon als IOC-Mitglied anlässlich der Olympischen Spiele von Berlin 1936 nicht für jüdische Anliegen - etwa den Boykott der Nazi-Spiele - zu gewinnen war."

Welt, 20.01.2006

In Bolivien ist mit Evo Morales ein Indio zum Präsidenten gewählt worden. Mario Vargas Llosa warnt vor linksromantischer Begeisterung und umgekehrtem Rassismus: "Lateinamerikas Probleme ins Raster von Ethnie und Hautfarbe zu pressen, wie es diese Demagogen tun, ist absolut unverantwortlich. Die dummen Vorurteile gegen Indios, wie sie bestimmte Lateinamerikaner, die sich als weiß bezeichnen, pflegen, werden nur umgekehrt, der Indio frönt seinen Stereotypen über 'die Weißen'. Isaac Humala, Vater zweier Präsidentschaftskandidaten im April in Peru, hat jüngst vor einer peruanischen Abendgesellschaft zum besten gegeben, was geschehe, sollte einer seiner Abkömmlinge an die Macht gelangen: Peru, so sagte er, wäre dann ein Land, wo einzig 'kupferhäutige Andenbewohner' die vollen nationalen Rechte hätten. Der Rest - weiß, schwarz, gelb - seien 'Staatsangehörige' mit gewissen Rechten. Hätte ein 'weißer' Lateinamerikaner solche Ideen zum besten gegeben, er wäre, und dies zu Recht, von internationalem Zorn verfolgt worden."

"Angesichts künstlerischer Meisterwerke perlt der Champagner um so prickelnder." Kino und Museum sollten zusammenwachsen, meint Klaus Honnef, nachdem er die Retrospektive zum Regisseur Erich von Stroheim im Rheinischen Landesmuseum Bonn gesehen hat. "Abermals übernimmt das Museum in Deutschland eine Pilotfunktion. Denn schon vor 30 Jahren ebnete es mit einer systematischen Folge von Ausstellungen und Katalogen dem technischen Medium Fotografie den Weg in die Sphäre der Kunst. Nach den Plänen der neuen Leitung des Bonner Museums, die das Haus nach einer langen Phase des Umbaus und der Orientierungslosigkeit auch neu justieren muss, soll der Ausflug in die Geschichte des Films kein Einzelfall sein. Und der professionell ausgestattete Kinosaal, der das Kommunale Kino der Stadt beherbergt, bietet die Voraussetzung, Museum und Kino einander anzunähern und langfristig zu verschmelzen."

Wieland Freund stellt Redneragenturen vor, die geübte Rhetoriker wie Hans-Dietrich Genscher, Valery Giscard d'Estaing oder Richard von Weizsäcker vermieten. Peter Dausend verfolgt die Abschiedsvorlesung des Berliner Politikwissenschaftlers Elmar Altvater. Im Magazin erklärt Christian Putsch, warum religiöse Führer in Indien die 19-jährige Tennisspielerin Sania Mirza fürchten.

Besprochen werden das dritte und "vielleicht beste" Soloalbum "Recital. Opera arias in 4 languages" des mexikanischen Tenors Rolando Villazon, ein Konzert der kanadischen Band "The Musical Box", die mit einer detailgetreuen Rekonstruktion der berühmten Genesis-Show zum Album "The Lamb Lies Down On Broadway" von 1974 auf Tour sind, und das Stück "Area 7 - Matthäusexpedition" des "genialen Plünderers" Christoph Schlingensief im Wiener Burgtheater.

FR, 20.01.2006

In einem Flatiron Letter hilft Marcia Pally George Bush, die Beziehung zu den amerikanischen Juden zu verbessern, die laut Umfragen die Irakpolitik mehrheitlich ablehnen. "In dieser Kolumne möchte ich Bush helfen, sein Judenproblem zu lösen. Die meisten mögen ihn einfach nicht. Lösung: Bush muss den israelisch-palästinensischen Konflikt beenden. Warum? Die Rückkehr/Bekehrung/Auslöschung der Juden lässt sich zur Zeit nur schwer durchführen, weil Israel in der Levante liegt und voller Palästinenser ist. Aber wenn Bush Erfolg hätte, wären die Juden froh, denn ihr Land wäre frei von Arabern, und die Evangelikalen wären froh, denn die Juden würden nun bald bekehrt/ausgelöscht. Wie soll Bush vorgehen? Genau nach dem Plan von Mahmoud Ahmadinedschad. Im vergangenen Monat hat er vorgeschlagen, die Juden aus der Levante zu entfernen und in Europa oder Nordamerika neu anzusiedeln. Ich möchte diese Idee präzisieren und die ehemalige DDR für die Neuansiedlung vorschlagen."

Weitere Artikel: Peter Rutkowski porträtiert den Karikaturisten und Zeichner Hans Traxler, der morgen den Göttinger Satirepreis "Elch" verliehen bekommt. Sylvia Staudte informiert über neue Pläne der Frankfurter Schirn Kunsthalle und ihres Direktors Max Hollein. Und in Times mager denkt Hilal Szegin über Gegenwart und Futur von Wettervorhersagen nach.

Besprochen wird die Ausstellung "Peitsche der Erinnerung" der auch international erfolgreichen Künstler Jonathan Meese und Daniel Richter im Kunsthaus Stade, die archäologische Funde zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten gemacht haben.

SZ, 20.01.2006

Im Juni 2003 kehrte der Schriftsteller Ibrahim Al-Hariri aus dem Exil in den Irak zurück. Die SZ druckt seine Aufzeichnungen nach der Rückkehr ab. "Seitdem das Phänomen 'Al-Sarkawi' existiert, leiden viele Iraker Todesangst, nicht nur Kommunisten, Demokraten, Liberale und Freidenker, Schiiten und Sunniten. Auch ich lebe in ständiger Furcht. Dabei habe ich mich mit dem Tod längst angefreundet, immerhin bin ich fast siebzig. Allerdings bedrückt mich der Gedanke, dass ich wie ein Huhn abgestochen werden könnte. Was, wenn der Schlächter stümpert? Oder das Messer stumpf ist? Diese Überlegungen peinigten mich mehr als der Gedanke, von Sarqawis Gesellen hingemetzelt zu werden. Übrigens kamen natürlich auch andere Terrorcliquen in Frage, die 'Neo-Sarkawisten', zum Beispiel oder die ewigen Saddam-Anhänger. Ich war so besessen, dass ich begann, mich für verschiedene Enthauptungsmethoden zu interessieren. Ich erkundigte mich bei den Metzgern im Viertel nach dem schnellsten Verfahren. Sie reagierten verstört, denn eigentlich bin ich für meine Friedfertigkeit bekannt. Ich habe in meinem Leben nicht mal ein Huhn geschlachtet."

Weitere Artikel: Alex Rühle untersucht Weltbild und Sprache in der Ratgeberliteratur für Arbeitslose. Tobias Timm kommentiert den gestern vom Bundestag beschlossenen Abriss des Berliner Palasts der Republik. Meldungen berichten über die einstweilige Verfügung gegen wikipedia.de wegen Nennung des Klarnamens des 1998 zu Tode gekommenen Hackers "Tron", die dessen Eltern erwirkt haben, den Diebstahl einer 38 Tonnen schweren Skulptur von Richard Serra und die erste Beratung des Bundestages über die Umbenennung der Deutschen Bibliothek.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Richard Fleischhut im Kieler Stadt- und Schiffahrtsmuseum, die er zwischen 1905 und 1939 vornehmlich auf Kreuzfahrtschiffen aufnahm, eine Inszenierung von Brechts "Madre Coraggio" im Mailänder Piccolo Teatro, die Liebeskomödie "Ein Trauzeuge zum Verlieben", der Dokumentarfilm "The Graffiti Artists" von James Bolton und Bücher, darunter Walter Kappachers Toskana-Roman "Selina", ein Sammelband zu dem klassischen Philologen Wolfgang Schadewaldt und der "Fast-Roman" "Wir bleiben in der Nähe" von Tilman Rammstedt. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 20.01.2006

Wolfgang Günter Lerch analysiert im Aufmacher die Beweggründe für die antiisraelischen Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad. Heinz Berggruen erzählt, wie er einmal David Rockefeller kennen lernte. Kerstin Holm berichtet vom Erfolg des russischen Horrorfilms "Wächter des Tages". In der Leitglosse amüsiert sich Nils Minkmar über die "netteste europapolitische Rede aller Zeiten", die gestern in Berlin vom französischen Ministerpräsidenten de Villepin gehalten wurde. Verena Lueken gratuliert David Lynch zum Sechzigsten. Alexandra Kemmerer stellt die erste Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Deutschlands, Petra Bahr, vor. Martin Halter verfolgte ein Basler Symposion über das LSD. Andreas Rossmann unternimmt einen Gang über die Kölner Möbelmesse, wo ihm vor allem Neu-Editionen von Bauhausklassikern begegneten. Und Peter Richter sieht sich ebendort die "Ideal Houses" von Dieter Rams und einigen Jungdesignern an.

Auf der Medienseite berichtet Reinhard Olt über den Skandal, den der renommierte Autor Paul Lendvai mit der Enthüllung der Namen von ungarischen Stasi-IMs auslöste, die ihn einst bespitzelten.

Auf der letzten Seite erzählt der emeritierte Zivilrechtler Thilo Ramm über die Schwierigkeit, eine Beihilfe für eine eigentlich erfolgreiche Behandlung seines Prostatakrebs' zu bekommen. Jürg Altwegg schreibt über die verspätete Hannah-Arendt-Rezeption in Frankreich, die jüngst in "650 unsäglichen Seiten" einer Arendt-Biografie von Laure Adler gipfelte. Und Christian Geyer erzählt, wie die Bild-Zeitung den Deutschen-Bank-Vorstand Josef Ackermann mit der Frage "Wie erklären Sie einer Verkäuferin mit 1500 Euro im Monat, dass Ihre Leistung 500mal soviel wert ist?" in Verlegenheit brachte.

Besprochen wird die Ausstellung "China - The Three Emperors 1662 - 1795" in London.