Heute in den Feuilletons

Gleichsam natürliches Ziel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2008. Kiran Nagarkar, Autor von "Gottes kleiner Krieger", macht den westlichen Medien in der SZ den Vorwurf, sie hätten sich in der Berichterstattung über Mumbai nur für die weißen Opfer interessiert. Der Tagesspiegel untersucht das Bild des Terroristen im Bollywood-Kino. Und die Berliner Zeitung findet: Das Internet ist ganz schön wild. Gottseidank gibt es aber die Printpresse.

NZZ, 03.12.2008

Der indische Schriftsteller und Kritiker Ranjit Hoskote sucht nach den Ursachen für die Terrorattacken in Mumbai, das seiner Meinung nach den verschiedensten Extremisten ein Dorn im Auge ist: "Das muntere Fortbestehen des multireligiösen Nachbarstaats Indien ist eine direkte Infragestellung von Pakistans Anspruch, die natürliche und einzige Heimat aller südasiatischen Muslime zu sein. Viertens schließlich muss man sich die ganz besondere, tiefsitzende Wut vor Augen führen, welche die Vertreter solch rückständiger Ideologien - seien sie nun militant islamistisch oder hinduistisch-nationalistisch geprägt - gegenüber einer Stadt wie Mumbai empfinden müssen: einer Stadt mit kosmopolitischem Ethos, deren üppig hybride, empfängliche und erfinderische, schamlos transnationale Kultur sie in den letzten zwei Dekaden zum gleichsam natürlichen Ziel für engstirnige Fanatiker jeder Couleur werden ließ."

Weiteres: Georges Waser meldet den Turner Prize für den britischen Künstler und Filmdozenten an der Frankfurter Städelschule Mark Leckey, dessen Comic-Arbeiten immerhin niemanden beleidigten.

Besprochen werden die Schau "Les Yeux enchantes" mit surrealistischen Zeichnungen im Kunstmuseum Basel, eine Ausstellung über Linz als "Kulturhauptstadt des Führers", Biografien von Mustafa Kemal Atatürk und seiner Ehefrau Latife sowie Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 03.12.2008

Gar nicht einverstanden ist Gesine Borcherdt mit dem Turner Prize für den britischen Küsntler Mark Leckey, dessen Felix-the-Cat-Arrangements sie vor allem "naseweis und harmlos" findet: "Die Entscheidung der Turner-Preis-Jury für Mark Leckey demonstriert einmal mehr, dass die in den letzten Jahren so oft heraufbeschworene künstlerische Suche nach Identität und Utopien an einem traurigen Tiefpunkt angekommen ist: Nämlich an der Vermeidung eigener Standpunkte, um stattdessen eine durch Entertainment und Konsumkultur erfolgte Gehirnwäsche als 'neue Entwicklung in der zeitgenössischen Kunst' zu feiern."

Weiteres: In Times mager schnürt Hans-Jürgen Linke Hilfspakete. Besprochen werden eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg, die "Tannhäuser"-Inszenierung an der Deutschen Oper, John Birkes Stück "Armes Ding" an den Münchner Kammerspielen, Mei Hongs "Carmina Burana"-Choreografie in Darmstadt, Susanne Langes neue Übersetzung des "Don Quijote", Svenja Flaßpöhlers Verteidigung der Eifersucht "Gutes Gift".

Tagesspiegel, 03.12.2008

Sebastian Handke erzählt, wie Bollywood mit dem Terrorismus umgeht. "Tatsächlich: Der Terrorist im Innern gilt im indischen Film - anders als die oft als groteske Karikaturen daherkommenden Schurken jenseits der Landesgrenzen zu Pakistan oder China - als Mensch mit Motiven. Wut und Rache sind ein auffallend dominantes Thema im indischen Kino, aber nur wenige der angry young men erfuhren so viel Verständnis wie der fehlgeleitete Terrorist von heute. Für diese mitunter sogar sehr differenzierte Zeichnung des Terroristen als Filmheld gibt es auch nüchterne Gründe. Einerseits achtet die Zensur des Vielvölkerstaats zunehmend darauf, dass das extrem wirkungsvolle Massenmedium Kino keine religiöse oder ethnische Gruppe als grundsätzlich schlecht darstellt. Andererseits gibt es in den indischen Filmdynastien überdurchschnittlich viele Moslems."

Berliner Zeitung, 03.12.2008

Das Internet ist unvermeidbar geworden, meldet Roland Mischke auf der Medienseite, Gottseidank gibt es aber die Printpresse, die die Leser durch diese revolutionären Zeiten begleitet: "Die größte Herausforderung sehen die Forscher in Umgangsregeln und Werten. Noch gelten Printmedien als seriöser als das Internet. Vor diesem Hintergrund sollten Zeitungen ihre Leser begleiten, um gut in die Webgesellschaft hineinzufinden. Hand in Hand kommt man leichter durch den Info-Dschungel, und davon profitieren beide."

Aus den Blogs, 03.12.2008

Dass es auch ein paar Journalisten gibt, die sich etwas selbstkritischere Gedanken über ihren Berufsstand machen, erfährt man jedenfalls nicht im Print, sondern im Internet, hier von Thomas Knüwer: Das "Ineinanderfallen der medialen Meinungsvielfalt ist weder wünschenswert noch zuträglich für die Gesellschaft. Doch es droht traurige Realität zu werden. Wollen wir es verhindern, reicht es nicht, allein die Schuld auf Verlagsmanager, Werbekunden und das böse Internet zu schieben. Wir Journalisten haben uns nicht mal ansatzweise ausreichend an die neue Zeit angepasst. Soll unser Berufsstand weiterhin eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, müssen viele, viele Kollegen eine geistige 180-Grad-Wende vollführen."
Stichwörter: Internet, Meinungsvielfalt

TAZ, 03.12.2008

"Garbage Collection" überschreibt Stefan Heidenreich seine Überlegungen zu morgen eröffnenden Art Basel/Miami Beach, und hofft auf eine Wiederauferstehung der bereits totgesagten Kunstkritik. "Zuletzt wurde von allen Seiten ihr Ende ausgerufen. Kuratoren galten als die Agenten des Kommenden. Sie setzten Themen und Impulse. Kritiker dagegen hatten sich dem erratischen Willen des Marktes unterzuordnen. Ihre Unwichtigkeit durften sie bei Großausstellungen kompensieren, die ihnen regelmäßig Anlass zu Festen kollektiver Nörgelei boten. Die prekäre Bezahlung trägt ein Übriges zu ihrem Bedeutungsverlust bei. Wer vom Schreiben über Kunst leben wollte, verdingte sich zuletzt am besten als Katalog-Werbeschreiber oder gleich direkt bei einem erfolgreichen Künstler, um Gebrauchsanleitungen zur Hängung und Pflege seiner Werke zu verfassen."

Ebenso anregend wie vorbildlich findet Shirin Sojitrawalla die neue Bestenliste "Weltempfänger" der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika, deren erste Ausgabe von Aravind Adigas "Der weiße Tiger" angeführt wird. Rolf Lautenschläger informiert darüber, dass der Architekt Philipp Oswalt neuer Direktor des Bauhauses Dessau wird und damit Omar Akbar ablöst. In tazzwei überlegen Arno Frank und Svenja Bergt in einem Pro und Contra, ob die "tendenziell volkstümelnde" Initiative der CDU, ein "Bekenntnis zur deutschen Sprache" ins Grundgesetz aufnehmen zu wollen, nicht auch etwas für sich habe. Auf den Tagesthemenseiten vermeldet Julia Grosse die völlig skandalfreie Vergabe des diesjährigen britischen Turner-Preises an den Videokünstler Mark Leckey.

Besprochen wird Woody Allens neue Komödie "Vicky Cristina Barcelona" über eine Liebe zu dritt.

Und hier Tom.

Welt, 03.12.2008

Jörg-Dieter Kogel war vom Scheich von Dubai zum Arabisch-deutschen Kulturdialog eingeladen worden und singt dem Gastgeber ein Ständchen: "Nicht nur aufgeklärt ist der Scheich, auch spendabel wie in der Geschichte nur die Renaissancefürsten, und unter den arabischen Herrschern ist er eine solitäre Erscheinung". Claudia Herstatt stellt die Leiterin der nächsten Dokumenta vor, die Amerikanerin Carolyn Cristov-Bakargiev. Der britische Turner-Preis geht an Mark Leckey, berichtet Sebastian Borger, der sich in der Tate Modern auch die Ausstellung der Kandidaten für die Shortlist angesehen hat. Iris Berben und ihr Sohn Oliver erklären im Interview, warum sie so gern zusammenarbeiten.

Besprochen werden Woody Allens Film "Vicky Cristina Barcelona" (Scarlett Johannsson wird von Penelope Cruz "geradezu an die Wand gespielt", schreibt ein begeisterter Peter Zander), Sidi Larbi Cherkaouis Choreografie "Sutra" mit tanzenden Shaolin-Mönchen und ein Konzert von Alice Cooper.

Im Forum zeigt sich Naomi Wolf entzückt von der neuen Außenministerin Amerikas, Hillary Clinton, die durch ihre "weltweiten Reisen, die sie im Interesse von Frauenfragen unternommen hat", besonders gut auf den Job vorbereitet sei.

FAZ, 03.12.2008

Kirsten Kruthaup trifft die drei Teenager Klara Reinacher, Mina Bowling und Tanutscha Glowasz, die in dem Film "Prinzessinnenbad" noch 16 waren und jetzt 18 sind und sich beruflich orientieren müssen. Martin Kämpchen erkennt im indischen "Schlendrian" einen Teil der Probleme, die den Anschlag in Bombay möglich gemacht haben. In der Glosse stellt Christian Geyer fest, dass in unseren Krisenzeiten Ratgeber und Sachbücher besser gehen als Fiktion und Eskapismus. Karen Krüger meldet, dass in Ankara gegen den ehemaligen Bremer Hochschulrektor Ronald Mönch ermittelt wird, weil er bei einer Podiumsdiskussion in Brüssel gesagt hatte, "dass sich der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk nach heutigen Maßstäben vor Gericht für Kriegsverbrechen verantworten" müsste. Joseph Anton Kruse erklärt, wie die von Heinrich Heine aus seinem Memoirenmanuskript barsch herausgeschnittene Cousine Therese wieder aufgetaucht ist. Tina Thomas porträtiert den Turner-Preisträger Mark Leckey. Einen Vortrag des Politologen Manfred G. Schmidt über ökonomische Gründe für den Untergang der DDR hat Til Huber in Frankfurt gehört. Matthias Hannemann hat die Inuit auf Grönland aufgesucht, die sich die Unabhängigkeit von Dänemark wünschen. Angelos Chaniotis schreibt zum Tod des Historikers Fritz Gschnitzer.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass die Renten bei ARD und ZDF sicher sind, da die beiden Anstalten ihre 4 Milliarden Euro Vermögen nicht bei Lehman hinterlegten. Und die Fernsehmoderatorin Tina Mendelsohn beschreibt, wie angesichts von Finanzkrise, Anschlägen in Bombay und Ursula von der Leyen eine Welt für sie zusammenbricht.

Besprochen werden eine für Wolfgang Fuhrmanns Begriffe arg misslungene "Tannhäuser"-Aufführung, von der Hausherrin Kirsten Harms an der Deutschen Oper Berlin inszeniert, eine Amico Aspertini-Ausstellung in Bologna, die Ausstellung antiker Kunstwerke aus einer norddeutschen Privatsammlung in Stendal, Woody Allens neuer Film "Vicky Cristina Barcelona" und Bücher, darunter Bernd Neumanns Biografie "Franz Kafka - Gesellschaftskrieger".

SZ, 03.12.2008

Kiran Nagarkar, Autor von "Gottes kleiner Krieger", erzählt, wie er die Terroranschläge von Bombay in seinem Tübinger Hotelzimmer erlebte, wo er sich gerade aufhielt, und macht den westlichen Medien den Vorwurf, dass sie sich ausschließlich für die weißen Opfer der Attentate interessiert hätten: "Ein Wort noch für die ausländischen Medien und ihre anchor men, für die die Welt im Westen anfängt und endet: Reiche vergehen, Supermächte werden zu Underdogs. Irgendwann wird China oder ein anderes Land ganz oben sein. Hört endlich auf das, was euch Jesus Christus und Kant sagten: 'Behandle Deinen Nächsten, wie Du selbst behandelt werden möchtest.' Wenn Ihr das nicht tut, werden sie euch genauso behandeln, wie ihr sie behandelt habt."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff zieht zehn Jahre nach der Washingtoner Erklärung über von Nazis geraubte Kunst Bilanz über die Rückgabepolitik und -willigkeit der Museen - und sie fällt, wie er an Beispielen zeigt, nicht immer positiv aus: "eine nationale Debatte über Schuld, Sühne und Moral in Kunstmuseen wäre wünschenswert. Und vielleicht ein Raubkunstgesetz wie in Österreich - damit die Frage, ob Raubkunst zurückgegeben wird, nicht mehr allein vom jeweils betroffenen Museums abhängt." Im Aufmacher unternimmt Bernd Graff einen Ausflug in die vor fünfzehn Jahren kursierenden Utopien des Cyberspace und der Cyberborgs, die inzwischen Realität und somit langweilig geworden sind. Alexander Menden stellt ganz kurz den neuen Turner-Preisträger Mark Leckey vor. Franziska Augstein spekuluiert über Sinn, Zweck und Gestalt eines Einheitsdenkmals, das zu allem Überfluss am Berliner Schlossplatz entstehen soll. Heinz Schlaffer schreibt zum Tod Tode Germanistin Dorothea Hölscher-Lohmeyer. Gemeldet wird, dass die Amerikanerin Carolyn Christov Bakargiev die Documenta 2012 leiten soll.

Besprochen werden Woody Allens neuer Film "Vicky Cristina Barcelona", eine Ausstellung über die Schicksale Münchner Juden, die in die Türkei emigriert waren, im Jüdischen Museum München, Ludger Vollmers Opernfassung von Fatih Akins Film "Gegen die Wand" und die Ausstellung "Gandhara - Das buddhistische Erbe Pakistans" in Bonn.