Efeu - Die Kulturrundschau

Peitschenhiebe in Luft und Raum

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2020. Die nachtkritik sieht Milo Raus Film "Das Neue Evangelium" als heillose Geschichte aus der Perspektive afrikanischer Asylsuchender. Wie unsolidarisch sich viele Theater mit freien Künstlern verhalten, berichtet der Tagesspiegel. Die FAZ bewundert Figuren aus Dynamik und Energie von Rodin und Arp. Die Berlinale wird nun doch ins Netz verlegt, meldet Variety. SZ, Zeit und Standard blicken auf das Beethovenjahr.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2020 finden Sie hier

Bühne

Ausgerechnet Theater drücken sie vielerorts davor, ihren freien Mitarbeitern über Ausfallhonorare etwas von den staatlichen Coronahilfen abzugeben, berichtet Patrick Wildermann im Tagesspiegel. "Leider sind es oft gerade die großen, stattlich geförderten Häuser, die sich auf 'die da oben' berufen und frei nach der Bartleby-Devise verfahren: Ich möchte lieber nicht zahlen. ... Nun bringt es wenig, einzelne Häuser an den Pranger zu stellen. Im Zweifelsfall sind ja auch beide Seiten zu hören. Aber bezeichnend ist doch das Klima extremer Vorsicht, das einem begegnet. Es finden sich nicht viele Künstlerinnen und Künstler, die überhaupt bereit sind, über Geld zu reden. Geschweige denn, dass jemand klagen würde, etwa gegen die 'Höhere Gewalt'-Klausel. Nur verständlich, meint Lisa Jopt [Gründerin des Ensemble Netzwerks]. Schließlich walte 'die Angst vor künstlerischem Liebesentzug'. Wer engagiert mich später noch, wenn ich mich mit dem Theater angelegt habe? Auch der Schauspieler, der anonym bleiben möchte, sagt: 'Sie müssen wissen, dass Theaterleitungen höchst sensibel und nachtragend sind.'"

Szene aus Milo Raus "The New Gospel". Foto: ©Fruitmarket Langfilm IIPM Armin Smailovic


Angelehnt an Pasolinis "Das Evangelium nach Matthäus" und Rosis "Christus kam nur bis Eboli", erzählt der Schweizer Theatermacher Milo Rau in seinem Film "Das Neue Evangelium" die Geschichte von Jesus und seinen zwölf Aposteln. Gedreht hat er in Matera, mit afrikanischen Migranten in Italien. "Es ist eine heillose Geschichte, keine Heilsgeschichte, die Milo Rau erzählt", schreibt Andreas Wilink ohne sich zu einem rechten Urteil durchringen zu können in der nachtkritik. "Er nimmt die Frohe Botschaft des Nazareners beim Wort und stellt sich in den Dienst der sozialen Revolte, für die Jesus - auch - stand, und einer Theologie der Befreiung. Vom Vorspann mit seinen Gestalten, die in einen Sandalenfilm passen, 'Ben Hur', 'Quo Vadis' oder 'Das Gewand', wechselt es geradezu natürlich und notwendig in die Gegenwart: zu Aktivisten, Asylsuchenden, Feldarbeitern, die oft als Illegale unter miserablen Bedingungen ackern, dürftig entlohnt werden, elendig in Ghetto-Baracken hausen, die zudem immer kurz vor der Räumung durch die Polizei stehen. Auch diese afrikanischen Erniedrigten und Beleidigten könnten sagen: Wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere - Fraß für die Arenen anderer römischer Spiele."

In der FAZ sympathisiert Bert Rebhandel mit dem Regisseur, auch wenn er die Umsetzung eher skizzenhaft findet und manchmal ungewollt folkloristisch. Immerhin möchte Rau "die lokalen Probleme verstehen, um das Evangelium einer neuen Deutung zu öffnen". Das zeigt sich schon an der Wahl seiner Darsteller, Migranten, die aus Afrika kommen und sich in Italien als Erntearbeiter verdingt haben: "Einer von ihnen spielt nun Jesus als den Propheten einer sozialen Revolution. Er heißt Yvan Sagnet, er stammt aus Kamerun ... Seine Apostel findet Yvan/Jesus unter den ausgebeuteten und rechtlosen Menschen, die sich mit 'Sklaven' vergleichen. Milo Rau begab sich bei den Dreharbeiten mitten hinein in die Auseinandersetzungen in Italien um den richtigen Umgang mit den Geflüchteten. Er hat bei Räumungen und Demonstrationen gefilmt, vieles an seinem Jesus-Film ist dokumentarisch". Sehen kann man den Film im Stream.

Besprochen werden außerdem die Henze-Oper "Das verratene Meer" im Streaming der Wiener Staatsoper (nmz), Evy Schuberts und Lydia Haiders filmische Horrorfantasie "Am Ball" über den Wiener Akademikerball (nachtkritik) und gestreamte Aufführungen für Schüler und Lehrer des Berliner Theaters an der Parkaue (taz).
Archiv: Bühne

Film

Nach langem Beharren darauf, im Februar live stattzufinden, knickt die Berlinale laut einem Variety-Bericht von Elsa Keslassy und Lea Barraclough nun doch ein: Das Festival werde aus bekannten Gründen weitestgehend digital stattfinden. "Ein Mini-Festival mit einigen Weltpremieren ist für Juni geplant." Zwar "hatte die Berlinale angedacht, das Festival stattdessen im April als physisches Event stattfinden zu lassen. Doch die Bundesregierung, die das Festival zum großen Teil finanziert, wollte sich darauf nicht einlassen, solange unklar ist, ob sich die Covid-19-Zahlen bis dahin verbessert haben. ... Zudem würde eine Festivalausgabe im April mit dem Starttermin von 'No Time to Die' kollidieren. Variety hat erfahren, dass die örtlichen Kinobetreiber zurückhaltend damit waren, das Festival Säle buchen zu lassen, in denen sie lieber den hocherwarteten 'James Bond'-Film zeigen möchten."

So ähnlich blickten wir lange Zeit auch auf die Leinwand: George Clooneys "The Midnight Sky" läuft jedoch nur im Heimkino.

Was in den letzten 20 oder mehr Jahren in Hollywood Rang und Namen hatte, wandert derzeit geschlossen zum Streaming ab, fällt Peter Körte von der FAS nach der Sichtung von George Clooneys Netflix-Film "The Midnight Sky" auf. Dessen "Gediegenheit" hätte ihn laut Körte auch als Berlinale-Eröffnungsfilm empfohlen. Was bedeutet das für das Kino? Entscheidend sei, "wie lange Netflix seine Ausgabenpolitik durchhalten will. Bislang hat man angesichts wachsender Abonnentenzahlen großzügig investiert. Das hatte immer auch eine symbolische Funktion: Man leistet sich einen Scorsese, einen Fincher, einen Spike Lee, und man bekommt drei Oscars für Cuaróns 'Roma'. Ob das ein langfristiges ästhetisches Konzept ist oder eine eher kurzfristige Akquisitions- und Imagekampagne, lässt sich schwer beurteilen." Für den Standard bespricht Dominik Kamalzadeh den Clooney-Film.

Weitere Artikel: Claudius Seidl (FAZ) und Kerstin Decker (Tagesspiegel) gratulieren Armin Müller-Stahl zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Steve McQueens "Small Axe" (critic.de), Danielle Lessovitz' "Port Authority" (taz), Darius Marders "Sound of Metal" (NZZ), die chronologisch montierte Neufassung von Gaspar Noés Skandalfilm "Irréversible" von 2002, der ursprünglich rückwärts erzählt wurde (taz, SZ) und Olli Dittrichs bei der ARD online stehende Persiflage "House of Trumps" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Yassin Musharbash erinnert in der Zeit an den Thrillerautor John le Carré (weitere Nachrufe hier und dort). In der NZZ trauert Bernd Noack um das Wort "Fräulein". Die Jury des Tagesspiegel hat die besten Comics des Jahres gekürt. Auf Platz Eins gelandet ist Martin Panchauds "Die Farbe der Dinge".

Besprochen werden unter anderem Jay H. Gellers "Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie" (FR), Antanas Škémas "Apokalyptische Variationen" (NZZ), Christian Berkels "Ada" (NZZ) und eine Neuauflage von Ethel Florence Lindesay Robertsons unter dem Pseudonym Henry Handel Richardson veröffentlichtem Roman "Maurice Guest" (FAZ).

Außerdem gibt Tell Buchtipps für den Gabentisch - für den Erwerb empfehlen wir natürlich unseren Onlinebuchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Le Carre, John

Musik

Heute vor 250 Jahren wurde Beethoven getauft. Die FAZ feierte den Komponisten schon gestern. SZ-Kritiker Reinhard J.Brembeck sieht in Beethovens Musik den Umbruch der Zeit eingeschrieben, etwa im "Zerbrechen von Sicherheiten und Formen. ... Anfangs füllt Beethoven, so wie noch alle Komponisten vor ihm, eine gegebene Form. In den späten Stücken sind die Formen nur mehr als vom Komponisten zerbrochene Gespinste auszumachen. Das bei ihm oft brutale Zerbrechen, Durchbrechen, Stauchen und Überladen alter und ausgedienter Formen zeigt einen Komponisten, der auf die Zerfallserscheinungen in Politik, Religion, Philosophie, Gesellschaft reagiert. Weil Beethovens Welt nach und nach jeden religiösen, metaphysischen und philosophischen Halt einbüßte, wird schon bei ihm und nicht erst bei Richard Wagner die Musik zu einem Surrogat, zu einer Ersatzreligion."

Beethoven haderte mit Gott und Glauben, sagt Jan Assmann, der zum Thema kürzlich ein Buch geschrieben hat, im Zeit-Gespräch. Anders als Schubert hat Beethoven in seinen Messvertonungen zwar keine Sätze gestrichen, die ihn skeptisch machten, aber "auch die Stelle 'Ich glaube an die heilige katholische Kirche' zerstört er. Das macht er raffiniert. Während Sopran und Alt leise singen: '... und an die heilige katholische Kirche ...', auf Latein natürlich, lässt er Bass und Tenor dazu laut immer wieder 'Credo! Credo! Credo! Credo!' rufen, sodass man den eigentlichen Text gar nicht verstehen kann. Beethoven hat also nichts gestrichen, er hat nur unhörbar gemacht, was er nicht mochte."

Stefan Ender blickt im Standard auf das von Corona überschattete Beethovenjahr 2020 zurück. Helmut Mauró sichtet für die SZ neue Bücher über Beethoven. Stefan Schickhaus führt in der FR durch 100 Jahre Beethoven-Aufnahmen. Elmar Krekeler sichtet für die Welt Niki Steins vom Ersten online gestelltes Biopic über Beethoven. Und Dlf Kultur hat ein großes Beethoven-Portal.

Weiteres: Sehr traurig zeigt sich Jazzmusiker Nils Landgren in der SZ-Reihe mit Kulturschaffenden zur Coronakrise darüber, dass er diesen Winter nicht in Deutschland spielen kann. Clemens Haustein berichtet in der FAZ, dass das Ensemble Capella de la Torre mit Studio4culture eine eigene Streamingplattform gegründet hat, die auch anderen Klangkörpern offen stehen soll. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Judith Weir. Außerdem führt Lücker für VAN durch verschiedene Interpretationen von Dvořáks Neunter. Unter anderem der Standard meldet, dass der Chorleiter Gotthilf Fischer gestorben ist.

Besprochen werden ein neues Solo-Album von Paul McCartney (ZeitOnline, Tagesspiegel), Ryan Adams' Album "Wednesdays" (SZ) und die Wiederveröffentlichung des deutschen Funkpunk-Klassikers von Familie Hesselbach, deren "unbändige Energie" tazler Aram Lintzel sofort wieder erwischt. Wir höre rein:

Archiv: Musik

Kunst

Die Fondation Beyeler hat 110 Werke von Auguste Rodin und Hans Arp einander gegenübergestellt. Und siehe da: Der abstrakte Arp hat viel gelernt vom figürlichen Rodin, stellt FAZ-Kritiker Stefan Trinks fest, zwischen Rodins "Büste von Marie Fenaille auf einer Säule, der Kopf nach links geneigt" und Arps "Daphne" hin und her blickend. "Abermals ist hier die direkte Fortsetzung Rodin'scher Formideen zu bemerken: Lässt dieser bei der Büste der Marie Fenaille die Arme fort und setzt sie auf einen abstrakt schlanken Säulenkörper, schmiergelt Arp seinen Torsi zusätzlich die Armstümpfe fast bis zur Unsichtbarkeit ab und poliert sie dadurch zu Peitschenhieben in Luft und Raum. Aber auch derartige 'Figuren' nur noch aus Dynamik und Energie hatte Rodin längst schon durchgespielt, wenn er etwa 1882 im 'Torse d'Adele' den gekurvten Körper in einen einzigen gespannten Bogen verwandelt."

Besprochen werden außerdem "La maison imaginaire", ein gemeinsames Kunstprojekt der Keramikerin Aiko Watanabe, des Lyrikers Jürg Halter und des Malers Uwe Wittwer, im Genfer Musée Ariana (NZZ) und eine Online-Ausstellung mit russischen Impressionisten des Museums Barberini in Potsdam (Tagesspiegel/Potsdamer Nachrichten)
Archiv: Kunst