Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2003. Die FR stellt fest: Niemand schafft es hierzulande, die Literatur angemessen ins Fernsehen zu bringen, auch Elke Heidenreich nicht. Außerdem erklärt Richard Wagner, warum sich die Osteuropäer lieber Amerika anschließen würden. In der SZ beklagt Timothy Garton Ash eine durch Medien hysterisierte Politik. In der NZZ porträtiert Laszlo Földenyi dieKünstlerin Sophie Calle. Der FAZ erschien eine "Zauberkönigin Courage".

FR, 07.06.2003

Der in Rumänien geborene Autor Richard Wagner erklärt uns in einem überzeugenden Essay, warum Osteuropäer und Amerikaner so gut miteinander können. "Eigentlich möchten sich die Osteuropäer lieber Amerika anschließen. Starke Emigrantengruppen, inklusive das ausgewanderte Ostjudentum, prägen nicht nur das Amerikabild im Baltikum, in Polen, Ungarn oder Kroatien, sie vermitteln auch die Illusion, Einfluss im Weißen Haus erlangen zu können. Schließlich haben Osteuropäer in Amerika in Wirtschaft, Kultur und Politik in viel größerem Umfang Karrieren gemacht als in Westeuropa. Den Osteuropäern ist das individualistische Projekt von der Verwirklichung des persönlichen Glücks näher als die westeuropäische Parole von der sozialen Sicherheit mit ihrer hochgradigen Reglementierungspolitik."

Niemand schafft es hierzulande, Literatur angemessen ins Fernsehen zu bringen, behauptet Ursula März. "Zuviel visueller Manierismus in der Sendung von Denis Scheck. Zuviel nervtötender Lese-Idealismus bei Elke Heidenreich. Zuviel provinzbühnenhafte Schlagabtausch-Dramatik bei Schümer & Dorn. Wenn Scheck im Schnelldurchgang die Bestsellerliste abarbeitet: Ein brillanter Fernsehmoment. Tausend mal besser als ein geziertes Gespräch mit Martin Walser über Robert Walser, bei dem im Hintergrund auf einer weißen Leinwand der Boxer Rene Weller (warum eigentlich er?) aus einem Robert-Walser-Buch vorliest."

Weiteres: In Zimt sieht Renee Zucker eine zwingende Verbindung zwischen Möllemann und den Beatles. Stefan Keim berichtet, dass der Dramatikerpreis der Mülheimer Theatertage wahrscheinlich an Armin Petras und seine Erste-Liebe-Dramödie "zeit zu lieben zeit zu sterben" gegangen ist. Auch wenn der die Urheberschaft bestreitet. Christian Thomas bestaunt Frankfurts neuesten Wolkenkratzer, den irgendwie surrealen meergrünen Galileo der Dresdner Bank. Oliver Fink langweilte sich bei der Podiumsdiskussion zum zehnjährigen Jubiläum der Heidelberger Poetik-Dozentur - trotz so illustrer Gäste wie Alexa Hennig von Lange, Kathrin Röggla und Feridun Zaimoglu. Gemeldet wird, dass Christoph Schlingensief sich über das Angebot freut, den Parsifal 2004 in Bayreuth zu inszenieren und dass Rosemarie Tietze den Münchner Übersetzerpreis erhält.

In Zeit und Bild stellt Steffen Richter die französische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar vor, deren Romane zu ihrem 100. Geburtstag neu aufgelegt werden.

Auf der Medienseite verfasst Steffen Gehrs eine regelrechte Hommage auf Bascha Mika, seit fünf Jahren die Chefredakteurin der taz, "eine kleine nette Frau bei einer netten kleinen Zeitung".

Besprochen werden Peter Zadeks lustvolle Inszenierung der "Mutter Courage" in Berlin, "Ariadne auf Naxos" in der Version von Reinhild Hoffmann an der Berliner Staatsoper, und Bücher, und zwar "Öffentliche Wissenschaft", Oliver Hochadels Schilderung der Entstehung der Physik in der Aufklärung sowie Karl Bloßfeldts "Urformen der Kunst" als faksimiliertes Mappenwerk.

"Ich war damals 17 Jahre alt und fand es prima, zu streiken." Im Magazin spricht der Schauspieler Peter Sodann unterhaltsam über seine Rolle beim Arbeiteraufstand in der DDR und die neue Art des betenden Kommunisten. Kerstin Friemel berichtet, wie sich in der Enklave Orania Buren zusammengeschlossen haben, die ihren Kindern Afrikaans beibringen, keine Schwarzen dulden und sich im neuen Südafrika benachteiligt fühlen.

SZ, 07.06.2003

Timothy Garton Ash (mehr hier) wähnt sich in der Matrix. In seinem Essay prangert er das Bündnis aus Medien und Politik an, das in erster Linie damit beschäftigt ist, "die meisten Leute die meiste Zeit für dumm zu verkaufen. (...) Keiner kann mehr die Augen davor verschließen, dass sich die demokratische Politik des 21. Jahrhunderts in einer Medienwelt der virtuellen Realität entfaltet, in der Auftritt und Schein den Vorrang vor der Wirklichkeit genießen. Das zeitgemäße Genre der Politik ist weder das Faktum noch die Fiktion, sondern die "Faktion": Dokumentieren und Dramatisieren in einem, rund um die Uhr. Es ist nicht die Welt des Newspeak, sondern der News- Konzerne. Und sie wird nicht beherrscht von einer totalitären Bürokratie, sondern von einem vertraulichen, habituellen Zusammenspiel von Politikern, Spin-Doktoren, PR-Experten und Journalisten der Medienkonzerne, ein Spiel, das in London so funktioniert wie in Berlin, Paris oder Washington." Sein Tipp: den Gegner auf eigenem Terrain schlagen und Journalist werden. Ein besserer natürlich.

Die 50. Biennale in Venedig steht an, und Holger Liebs beschreibt, wie aus dem "ziemlich müden, konformistischen Salon etablierten Kunstschaffens" das Zentrum der Gegenwartskunst geworden ist. Außerdem stellt die SZ zehn Biennale-Künstler vor, die man nach Meinung der Redaktion auf keinen Fall verpassen sollte.

Weitere Artikel: Ulrich Kühne hing fasziniert an den Lippen des Chaosforschers Heinz-Otto Peitgen, als der in München in mitreißender Manier über sein Metier sprach. Alexander Kissler reflektiert anlässlich des Todes von Jürgen Möllemann über die Verlagerung der Todeserfahrung in das Fernsehen. "Die Toten werden in die Augen der Zuschauer hinein beerdigt". Peter Geimer kommentiert in der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von Elfride und Martin Heidegger an Erhard Kästner aus dem Jahr 1955. Fritz Göttler gibt nicht dem Deutschen Filmpreis die Schuld, dass es bei der Verleihung keine Überraschungen gab, sondern eher dem ereignisarmen deutschen Film. Jens Bisky hat beinahe exklusiv einen kurzen Blick in die Memoiren von Hillary Clinton riskieren dürfen. Burkhard Müller meldet die Verleihung des Helen- und Kurt-Wolff-Preises an Margot Bettauer Dembo für ihre Übersetzung von "Sommerhaus, später" von Judith Hermann.

Auf der Medienseite informiert uns Hans-Jürgen Jakobs, wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück die ARD und ZDF düpierte. Andrian Kreye meldet, dass die beiden Chefredakteure der New York Times wegen des Skandals um gefälschte Artikel nun zurückgetreten sind. " jja" und "chk" berichten, dass der Machtkampf zwischen Bernd Eichingers Constantin Film und dem Schweizer Investor Highlight nun beendet ist.

Besprochen werden Peter Zadeks "tändelnde, kraftlose, unentschlossene und kokette" Variante der "Mutter Courage" in Berlin, Adrian Nobles Inszenierung von Ibsens "Brand" mit Ralph Fiennes für die Royal Shakespeare Company in London, eine intelligent präsentierte Schau mit Bildern Luc Tuymans in der Pinakothek der Moderne, Philipp Himmelmanns auf Dauer zu simple Wiederbelebung von Igor Strawinskys Oper "The Rake's Progress" in Dresden, die kaum veränderte Neuauflage der einst heftig umstrittenen Ausstellung zur Münchner NS-Vergangenheit, und Bücher, darunter Walter Moers' vergnüglicher Roman "Rumo & Die Wunder im Dunkeln", die Werkauswahl von Marguerite Yourcenar anlässlich ihres hundertsten Geburtstages nebst der Neuauflage der Biographie von Josyane Savigneau sowie Harry Kelseys Porträt von "Sir John Hawkins", dem Sklavenhändler Ihrer Majestät Elisabeth I. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende hebt Martin Walser (Bücher) an zu erzählen (und fährt hier fort), was der Bodensee für ihn bedeutet: Erinnerungen, die notwendige Unterfütterung des Wissens. "Als ich die Niagarafälle anstaunte, fielen mir zuerst die Bilder aus dem Niagara-Film mit Marilyn Monroe und Joseph Cotton ein. Dann fiel mir der Rheinfall ein. Und wenn mir der Rheinfall einfällt, dann fällt mir der Schulausflug zum Rheinfall ein. Auf dem Weg von der Haustür zum Ausflugsomnibus holte ich im offenen Holzverschlag eines benachbarten Hofes den Riegel Schokolade, den ich mir am Tag zuvor für nicht ehrlich erworbenes Geld gekauft und im Reisig des Nachbars zur Bereicherung meines Ausflugsproviants versteckt hatte. Daran erinnerten mich die tosenden Wasser der Niagarafälle. Den Marilyn Monroe/Josef Cotton-Film lieferte das Gedächtnis. Da könnte man kramen, wer war der Regisseur, wie war jetzt gleich wieder die Handlung. Gedächtniskrust. Kein bißchen Mehrwert. Aber der Schulausflug an den Rheinfall und der Schokoladenriegel im Reisverschlag: das sind Erinnerungen, denen ist man anheim gegeben."

Schwer, die restlichen Autoren der Beilage zu nennen, wenn alle Artikel im Netz anonym sind. Etwa die Erinnerungen eines Mittdreißigers an die Achtziger, als die Arbeit für den Nachwuchs langsam knapp wurde und deshalb das BIZ erfunden wurde. Oder die Geschichte von Günter Ullmann, der es bis zur Wende auf 14 unveröffentlichte Buchmanuskripte gebracht hatte. Oder der Abgesang auf Berlin, eine Stadt so arm und normal "wie jede andere verarmte Großstadt in Osteuropa auch". Robert Plant von Led Zeppelin spricht über Drogen, Sex und Rock'n Roll - und Archäologie.

TAZ, 07.06.2003

Zum Tagesthemenschwerpunkt macht die taz heute die durch das Statistische Bundesamt erneut bestätigte Vergreisung der Republik (in Zahlen). Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid sieht im knappen Interview keine befriedigende Lösung des Problems. "Die Altersstruktur wird eine Dauerbaustelle bleiben, an der auch künftige Generationen laufend arbeiten müssen." Barbara Dribbusch beleuchtet die Überalterung unter verschiedenen Perspektiven und prophezeit einen verlangsamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Mareke Aden beschreibt die Probleme der armen Länder, wenn das Durchschnittsalter in den kommenden 50 Jahren wie vorhergesagt um 12 Jahre steigen wird.

Im Feuilleton beklagt Katrin Kruse in der Reihe über Die Zukunft der Arbeit, dass der Dandy und damit der Müßiggang aus der Mode verschwunden ist. Arno Frank berichtet, dass Bertelsmann wegen Napster in den USA auf 17 Milliarden Dollar Schadenersatz verklagt worden ist. Oliver Pfohlmann hat in den neuen Ausgaben von Akzente und text + kritik geblättert, die sich der Person und dem Werk W. G. Sebalds widmen. Ira Mazzoni versteht nicht ganz, warum die Ausstellung zum "Nationalsozialismus in München" zunächst geschlossen wurde, um dann unverändert wieder aufzuerstehen. Bis auf den Röhm-Dolch ist offensichtlich alles an seinem alten Platz. Tilman Baumgärtel gesteht seine Begeisterung für den neuesten Teil des Nintendo-Konsolenspiels Zelda und seine Bewunderung für Shigeru Miyamoto, den genial-kindlichen Entwickler dieser "Ilias des Computerspiels".

Auf der Medienseite schreibt Gisela Sonnenburg über die Rachepläne Gerd Heidemanns, ehemaliger Stern-Reporter und vor zwanzig Jahren zentrale Figur im Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher.

Im tazmag zieht Bettina Gaus eine unkonventionelle Bilanz des Krieges und der Kriegsbilanzen (kurze Geschichte der Krisenberichterstatter) überhaupt. Sie plädiert dafür, neben militärischen auch politische und emotionale Faktoren zu berücksichtigen. "Alle drei Bereiche sind eng miteinander verknüpft. Die Unterhaltung mit einer verarmten Bäuerin kann sehr viel informativer sein als ein Interview mit einem General. Ihre Antwort auf die Frage, ob ihr Vieh von hungrigen Soldaten requiriert wurde oder ob es verendete, nachdem es Wasser aus vergifteten Brunnen trank, liefert nicht nur Aufschluss über Kriegsmethoden und über die Versorgungslage der Armee - sie lässt auch Rückschlüsse auf die Gefühle zu, die diese Frau bewegen. Langfristig mögen diese Gefühle für die politische Zukunft eines Landes und dessen Stabilität folgenreicher sein als der Verlauf so mancher angeblichen 'Entscheidungsschlacht'."

Der Gradmesser für das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen (Überblick zur Zusammenarbeit) wird nicht bei den Gipfeltreffen sichtbar, behauptet Uwe Rada in der gekürzten Fassung seines Vortrags an der Harvard University, sondern in der Provinz. ."Hier liegt sie, die Werkstatt Europa, entlang einer 465 Kilometer langen Grenze, jener Oderneißegrenze zwischen Stettin und Zittau, die zwar jeder aus dem Geschichtsbuch kennt, kaum einer aber aus eigener Anschauung. Einer Region, die in der Wahrnehmung sowohl der Deutschen als auch der Polen nur als Peripherie vorkommt, nicht aber als das faszinierende Laboratorium, das sie in Wirklichkeit ist."

Außerdem erzählt Nike Breyer die Geschichte eines modernen Talismans: der erste Kinderschuh.

Schließlich Tom.

NZZ, 07.06.2003

In der Beilage "Literatur und Kunst" untersucht Laszlo F. Földenyi (mehr hier) die "Selbstbildnisse" der französischen Aktionskünstlerin Sophie Calle (mehr hier und hier). Calle wurde durch Aktionen berühmt, während derer sie tagelang ahnungslose Menschen verfolgt und ihr Tun dokumentiert hat. Für "Schatten" hatte sie die Schraube noch zwei Windungen weitergedreht: Sie bat ihre Mutter einen Privatdetektiv anzuheuern, der sie einen Tag lang verfolgen sollte. Sobald sie den Mann bemerkte, bat sie einen Freund nun seinerseits den Detektiv zu verfolgen, den sie wieder um an Orte ihrer Erinnerung führte. "Am Ende bestand die Dokumentation aus drei Teilen: aus Sophie Calles minutengenauen Aufzeichnungen, den gleichfalls minutengenauen Aufzeichnungen und Fotos des Detektivs sowie den Fotos des Freundes über die beiden." "Schatten" meint Földenyi, ist ein "eiskaltes, genau berechnetes Werk - wie übrigens alle Werke Sophie Calles. Der Plan jedoch, der ihm als Grundlage dient, ist durch und durch wahnwitzig. Um wessen Schatten handelt es sich? Und wer ist wessen Schatten? Oder werden Schatten auf Schatten projiziert? Und entsteht aus diesem Zusammenspiel - Schattenspiel - das Selbstbildnis des 'Ich'? Ich selbst deute diese Detektivgeschichte als Frage Sophie Calles, wie man die eigene Existenz auf frischer Tat ertappen könne. Wo sind die Beweise für meine Existenz? Wie kann ich mich selbst aufspüren? Was ist vom Ich sichtbar, wenn sich ein völlig fremder Blick darauf richtet?"

Dietrich Seybold zeichnet die Geschichte der Celan-Rezeption in Deutschland nach, die vor allem die Geschichte eines Verstehens-Problems ist: "Das Dilemma lag ... darin begründet, das die nötigen Voraussetzungen zum präzisen Verständnis Celans in Bereichen lagen, die er aus Selbstschutz abschirmte, mit dem Effekt, dass er die Möglichkeit präzisen Verstehens 'in der Sache' denjenigen vorbehielt, die ihm nahestanden. 'Verstehen' bedeutete in einem solchen Fall die Fühlungnahme mit einer intimen, privaten Welt, und es konnte nicht bedeuten, 'durch Einsatz wissenschaftlicher Methoden und Kenntnisse und minuziöses Vorgehen der Schwierigkeit dieser Texte Herr zu werden'."

Weitere Artikel: Michael Brenner denkt über Europa und das Judentum nach. Er hat keinen Zweifel daran, "dass eine vor zehn Jahren herrschende optimistische Grundstimmung unter Europas Juden in Besorgnis umgekippt ist". "Werden Juden in Europa heute als 'Störenfriede' empfunden, die einem friedliebenden Europa seine neu entdeckte Freude für den Pazifismus verderben wollen? Und gibt es nicht eine zumindest stille Übereinkunft, dass ohne Israel heute der Frieden im Nahen Osten ein Kinderspiel wäre?" Ute Frevert meditiert über Karriere und Wandel des Leitbegriffs "guter Europäer", den vermutlich Nietzsche geprägt hatte. Besprochen werden Bücher, darunter eine Werkausgabe von Jura Soyfer und eine kommentierte Ausgabe der Gedichte Paul Celans (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton berichtet Markus Jakob über verschiedenen Veranstaltungen im Rahmen der Design-Biennale "Primavera del Diseno" in Barcelona. Peter A. Fischer schildert die Verjüngungskur des Bolschoi-Theaters. Und Ursula Pia Jauch schreibt zum morgigen 100. Geburtstag von Marguerite Yourcenar (mehr hier).

Besprochen werden die Ausstellung "Volksaufstand oder Konterrevolution? Der 17. Juni 1953 und die Künstler" in der Berliner Akademie der Künste und Peter Zadeks Inszenierung der "Mutter Courage" am Deutschen Theater in Berlin: "Warum eigentlich erfüllt uns dieser Theaterabend mit Mut?" fragt Barbara Villiger Heilig.

FAZ, 07.06.2003

"Im deutschen Theater ist die 'Courage' neben dem 'Faust' wohl das deutscheste Stück: der 'Faust' für Oberlehrer, die 'Courage' von einem Oberlehrer", erklärt Gerhard Stadelmaier. Und nun das: Eine "aberwitzig fremde Frau" taucht da plötzlich auf in Zadeks Inszenierung am Deutschen Theater. "Weder Mutter noch Courage. Eher Hexe, Zigeunerin, Seherin aus einem fernen Land. Die locker eng anliegenden gescheitelten Haare pechschwarz, als seien sie eine dunkle, herrliche Krone. Zauberkönigin Courage (...) Ihre dunkel glühenden Augen, ihr zu einem unglaublichen Schmerzenslächeln nervös weich gemeißelter Mund scheinen wie Löcher in alles Gewesene und Kommende hinein zu albträumen." Diese Courage, so Stadelmaier, "ist eine einzige Ungeheuerlichkeit. So spielt die grenzenlose Schauspielerin Angela Winkler die Courage: als Anti-Courage - gegen die Kopfnicker im Parkett. Aus der Beweis-Trine wird ein Monster, das die Rolle wie in einem bengalischen Feuer verglühen lässt." Der kann schreiben!

Verena Lueken berichtet von der größten Krise, die New York seit der Depression erlebt hat. "New York steht vor der Pleite. Im städtischen Haushalt klafft ein Loch von 3,8 Milliarden Dollar, das Bloomberg stopfen muss, wenn er am 1. Juli ein ausgeglichenes Budget präsentieren will, wie das Gesetz es verlangt." Bürgermeister Michael Bloomberg, "dessen Privatvermögen das Haushaltsdefizit um etwa eine Milliarde Dollar übersteigt", macht sich mit seinen Sparvorschlägen außerordentlich unbeliebt. "So hatte er kürzlich angekündigt, den Turnus der Müllabfuhr zu reduzieren", jedoch nicht in Manhattan, sondern in der armen Bronx.

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch berichtet, dass Christoph Schlingensief in Bayreuth den "Parsifal" inszenieren wird. Andreas Platthaus missbilligt die Reaktionen in Zeitungen und Politik auf den Tod Jürgen Möllemanns. Caroline Neubaur berichtet von einer Tagung in Stuttgart, die sich dem Problem der Beendigung einer Psychoanalyse widmet. Aro. berichtet von Protesten gegen Kölns Kahlschlagpolitik in der Kultur. Michael Stolleis schreibt zum hundertsten Geburtstag des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber, Georg Imdahl zum Fünfundneunzigsten des Sammlers L. Fritz Gruber. Auf der Medienseite schildert Heinrich Wefing den dramatischen Abgang von New York Times-Chefredakteur Howell Raines und seinem Stellvertreter.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten schreibt Felicitas von Lovenberg zum hundertsten Geburtstag von Marguerite Yourcenar. Und Paul Ingendaay steuert eine Erzählung bei: "If you can't give me love". Hier der Anfang: "Senor Campos ist einsam. Morgens geht er in die stille Küche, steckt eine Scheibe Weißbrot in den Toaster und wartet, was geschieht. Mit dem Auswurfmechanismus des Toasters stimmt etwas nicht, so dass die Scheiben zu kräftig ausgeworfen werden. Senor Campos denkt: Fällt der Toast auf die linke Seite des Toasters, wird der Tag gut. Fällt er nach rechts, wird der Tag schlecht. Manchmal bleibt die Scheibe auch in der metallenen Schiene des Toasters hängen. Dann weiß Senor Campos nicht, was er denken soll, und macht die Technik oder das Weißbrot verantwortlich..."

Besprochen werden Bücher, darunter Patrick Mauries' "Kuriositätenkabinett (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr), die Filmkomödie "Ganz und gar", die Ausstellung "London 1753" im British Museum, und eine "Ariadne" an der Lindenoper, die Eleonore Büning zu der Frage veranlasst: Wer denkt noch an einen Thielemann, wenn er diesen Luisi hört? (Fabio Luisi war vor nicht allzu langer Zeit mit Hilfe von Klaus Wowereit aus seinem Vertrag als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper hinausintrigiert worden.)

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite werden CDs besprochen von Radiohead, Fleetwood Mac, Nigel Kennedy und Kroke, Lisa Germano und Chick Corea.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans Christoph Buch ein Gedicht vom Goethe vor: Zueignung.

"Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt,
Versuch' ich wohl euch diesmal fest zu halten?
Fühl' ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert
..."