Bücherbrief

Rätselhafte magnetische Beben

10.09.2010. Im Monat September: Muhammas el-Bissati erzählt von einer Tagelöhnerfamilie in Ägypten, Jonathan Franzen von Vorzeigeeltern im Amerika der Bush-Jahre und Roberto Bolano von zwei gefallenen Engeln in Rom. Bei den Sachbüchern dominierte die Debatte um Thilo Sarrazin. Außerdem warnt Elisabeth Badinter vor der Vermutterung der Frau, und Claude Lanzmann schreibt seine Memoiren.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2010, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2010.


Literatur

Roberto Bolano
Lumpenroman
Carl Hanser Verlag 2010, 14,90 Euro



Diesen letzten aus dem Nachlass veröffentlichten "Lumpenroman" des großen und viel zu früh verstorbenen Chilenen Roberto Bolano nahmen die Kritiker ehrfürchtig wie eine Reliquie auf. Ein kurzer Roman ist es, von gerade mal 110 Seiten, der von einem Geschwisterpaar in Rom erzählt, die aus ihrem eintönigen Leben -sinnlosem Konsum, Fernsehen und ein bisschen Sex - ausbrechen wollen. Aber offenbar hat er es in sich, nämlich "schlechterdings alles Essentielle der vergangenen Jahrtausende", wie Adam Soboczynski in der Zeit staunt. Wundervoll und wunderschön findet auch Christopher Schmidt in der SZ die Erzählung und ihre "dunkel leuchtende, phosphoreszierende Poesie". In der NZZ bewundert Andreas Breitenstein den Autor, der ein neues Jahrtausend der Literatur habe anbrechen lassen: "Von der Wahrheit seiner Bücher werden wir noch lange zehren."

Jonathan Franzen
Freiheit
Roman
Rowohlt Verlag 2010, 24,95 Eur



Fast neun Jahre hat Jonathan Franzen an seinem Roman "Freedom" laboriert, gegen Schreibblockaden und Depressionen angekämpft, aber schließlich mit seiner Familiensaga aus dem Amerika der Bush-Ära doch noch das literarische Großereignis geschaffen, auf das alle gewartet hatten. Oder zumindest fast. Zumindest in den USA herrscht große Begeisterung, gleich zweimal wurde der Roman in der New York Times gefeiert, von Sam Tanenhaus und Michiko Kakutani (auch wenn Franzen mit letzterer herzliche Abneigung verbindet). Hierzulande hat er vor allem Felicitas von Lovenberg in der FAZ begeistern können, die diesen Roman noch besser findet als "Die Korrekturen": "lässiger, leichter, weniger offensichtlich auf Wirkung bedacht". Lothar Müller sieht in der SZ vor allem ein großes Trostbuch für den "zerzausten, erschöpften, an sich selbst irre gewordenen amerikanischen Liberalismus". Deutlich schwächer fiel die Begeisterung bei taz und FR aus, auch wenn sie das Buch immer noch mit großer Sympathie aufnahmen. Nur Ursula März in der Zeit schmähte den Roman: Das sei keine Weltliteratur, sondern weltweit verkäufliche.

Muhammas el-Bissati
Hunger
Roman aus Ägypten
Lenos Verlag 2010, 17,50 Euro



Immer wieder gibt es Bücher, die werden eigentlich nur von der kosmopolitischen NZZ besprochen, Muhammad el-Bissatis Roman "Hunger" gehört dazu. Der ägyptische Romancier erzählt darin die Geschichte einer Tagelöhnerfamilie, die sich mehr schlecht als recht durch die Tage schlägt und deren Hoffnungen und Ziele sich selten auf mehr als etwas Brot richten. Anders allerdings als Knut Hamsun, erklärt Angela Schader, erzählt Bissati jedoch nicht vom Hunger als individueller Krise, sondern als alltäglicher, schwerer und dumpfer Last. Gut, gibt Schader zu, Weltliteratur wie Hamsuns von Siegfried Weibel kürzlich neu übersetzter Roman "Hunger" ist das nicht, aber Weltgeltung darf der Roman ihrer Meinung nach schon beanspruchen.

Klaus Böldl
Der nächtliche Lehrer
Roman
S. Fischer Verlag 2010, 16,95 Euro



Klaus Böldl hat seine Anhänger. Für Christoph Schröder zum Beispiel ist er "vielleicht der meistunterschätzte deutschsprachige Autor der Gegenwart". In der taz empfiehlt er Böldls Roman "Der nächtliche Lehrer" als ein großes Manifest der Vereinzelung, dem er vor allem entnimmt, dass sich unsere Gesellschaft nur individualistisch gibt, in Wahrheit aber durch und duch konfektioniert ist. Ulrich Rüdenauer stockte in der FR mitunter der Atem, so karg, existenziell und so zwangsläufig schildere Böldl hier eine "unerschütterliche Abfolge von Lebensmomenten". Allerdings ist er sich nicht sicher, ob er diesen nächtlichen Lehrer, der sich in der schwedischen Provinz immer weiter in sich selbst und in die Natur zurückzieht, für gleichmütig oder gleichgültig halten soll. Im Deutschlandradio ist Meike Fessmann nicht ganz überzeugt, ob der Autor mit seinen Figuren genauso viel anzufangen weiß wie mit seinen Landschaften.

Thomas Hettche
Die Liebe der Väter
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2010, 16,95 Euro



Ob das nun ein Glück war, dass Thomas Hettches Roman in dem Moment erschien, als das Bundesverfassungsericht die Rechtlosigkeit lediger Väter beendete? Seitdem ist "Die Liebe der Väter" als Roman zum Sorgerechtsurteil in aller Munde gewesen, und viele KritikerInnen meinen das durchaus positiv: Jens Jessen schwärmt in der Zeit von einem "großen Werk in Tiefe und Weite der Gedanke". Sandra Kegel nennt den Roman in der FAZ einen "Glücksfall" und erkennt seine Raffinesse gerade in der Einseitigkeit, aus der heraus der Ich-Erzähler von seinem verfahrenen Verhältnis zur entfremdeten Tochter erzählt. Begeistert ist auch Martin Lüdke in der FR, der die Geschichte "wahrhaft herzerwärmend" findet. Skepsis dagegen bei Cristina Nord in taz, die sich an Prospekte von Väteraufbruch e.V. erinnert fühlt, totale Ablehnung bei Christopher Schmidt in der SZ, der böse auf Larmoyanz und "winselnden Kulturpessimismus" erkennt.

Hilary Mantel
Wölfe
Roman
DuMont Verlag 2010, 22,95 Euro



Die Geschichte ging bisher nicht besonders gnädig mit Thomas Cromwell um, dem ebenso protestantischen wie machiavellistischen Lordsiegelbewahrer am englischen Hofe, der für Heinrich VIII. den Bruch mit Rom, die Auflösung der Klöster sowie die Ehe- und Scheidungsangelegenheiten regelte. Dem katholischen Utopist Thomas More, der auf Veranlassung Cromwells gehängt wurde, waren bisher die Sympathien sicher. Nicht so bei Hilary Mantel. In ihrem historischen Roman "Wölfe" erzählt sie - auf 780 Seiten - vom Machtkampf dieser beiden Männer und macht Cromwell zu ihrem Helden, hart durchaus, aber nicht diabolisch. More dagegen wird bei ihr zum mitleidlosen Frömmler, zum Vertreter der morschen vatikanischen Ordnung. Mantel hat für ihren Roman den Booker-Preis 2009 erhalten, die Besprechungen im Guardian und in der Times waren durchaus freundlich, aber die deutschen Kritiker sind regelrecht begeistert. "Ein Wunder von einem Roman", jubelte Markus Gasser in der FAZ, als hätten Virginia Woolf und T. S. Eliot, Stanley Kubrick und Martin Scorsese zusammen den Historienroman neu geschrieben. Joachim Käppner findet in der SZ das Szenario gewagt, aber nicht unplausibel, vor allem aber soghaft: "Es ist stimmig, authentisch, nimmt die Welt ernst, die es beschreibt."

Jonathan Safran Foer
Tiere essen
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2010, 19,95 Euro



Hochmoralisch und überfällig sei dieser literarische Anstoß Jonathan Safran Foers zu einem radikalen Wandel im Esserverhalten der Menschen, da sind sich die Rezensenten einig. Nein, Foer lässt nicht den "Larifari-Besserverdienenden-Ökoboheme" heraushängen, versichert Peter Unfried in der taz, er liefere vielmehr eine "brillante Mischung aus Recherchejournalismus und Tatsachenbericht". Andrea Köhler referiert in der NZZ empathisch die Berichte Foers, nach denen Tiere bei vollem Bewusstsein getötet würden, während das Pfund Fleisch in den USA genauso wenig koste wie eine Flasche Bier. Jay Rayner vom Guardian fand das Buch eher sentimental. Und Michiko Kakutani ärgerte sich in der New York Times über Foers Übertreibungen: Etwa wenn der Autor schreibe, die Fastfood-Kette Kentucky Fried Chicken sei "wohl die Firma, die die Summe des Leidens in der Welt mehr vergrößert habe als jede andere in der Geschichte". Aaron Gross von Farm Forward sah das in der Huffington Post naturgemäß anders. Ein Interview mit Foer führte unter anderem die FAZ.


Sachbuch


Thilo Sarrazin
Deutschland schafft sich ab
Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
DVA, München 2010, 22,99 Euro



Thilo Sarrazin hätte mit seiner Diagnose einer gescheiterten Integrationspolitik neuen Schwung in die Debatte bringen können. Aber er machte es den Zeitungen leicht, diesen Punkt zu ignorieren. Sie beschäftigten sich fast ausnahmslos mit seinen fragwürdigen Thesen zu Vererbung, Intelligenz und der genetischen Beschaffenheit verschiedener Kulturen. Hier ein kurzer Überblick: In der FAZ nannte Christian Geyer es ein "antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage", in der FAS zeigte Frank Schirrmacher, auf welche - zum Teil bereits diskreditierten - Wissenschaftler sich Sarrazin in seinem Buch stützte. In der FR attestierte Arno Widmann Sarrazin einen "Wahn von der eigenen Überlegenheit". In der taz schrieb Ulrike Herrmann: seine Analysen "sind Eugenik". In der SZ rief Matthias Drobinski: unwissenschaftlich, nicht objektiv. "Viel Schwarzmalerei, aber wenig Anstößiges" entdeckte Joachim Güntner in der NZZ, bis er zu Kapital 8 kam, in dem er alle sogenannten bildungsfernen Schichten diffamiert fand. In der FAZ sprang Necla Kelek Sarrazin zur Seite: Sie hält den Vorwurf des Rassismus für ein "Ablenkungsmanöver". In der Welt fragte Monika Maron: "Warum attestieren wir Sarrazin nicht mangelnde Kompetenz in der Vererbungstheorie und sprechen endlich offen über das, was viele beunruhigt: die zunehmende Konfessionalisierung der Gesellschaft, die unbezahlbaren Transferleistungen, die Bildungsdefizite und Kriminalität muslimischer Jugendlicher?"

Edouard Glissant
Das magnetische Land
Das Wunderhorn Verlag 2010, 16,80 Euro



Seit sechzig Jahren denkt und schreibt Dichterphilosoph und Wissenschaftspoet Edouard Glissant über das Aufeinandertreffen der Kulturen nach. Inzwischen ist er mit seinen 82 Jahren zu alt, um strapaziöse Reisen zu unternehmen, deshalb ist seine Frau, die Künstlerin Sylvie Sema. für ihn auf die Osterinseln gereist und hat ihn per Handy mit Interviews, Videos und Legenden von der Insel versorgt. Wir erfahren von den monumentalen Moai-Statuen, vom ersten König Hotu Matua, den sagenhaften Bootsreisen der Pazifikvölker und einem rätselhaften magnetischen Beben. In der SZ schwärmt Joseph Hanimann von Glissants Meditationsskizzen als "reinen Prosagedichten". In der NZZ ist Martin Zähringer sehr beeindruckt von Glissants Erzählungen, die ihm die Unterschiede zeigen zwischen einer kontinentalen Kultur der Systeme, Rationalität und Schriftkultur und einer von nomadischen Lebensformen, mündlichen Traditionen und dynamischem Denken geprägten archipelischen Welt.

Elisabeth Badinter
Der Konflikt
Die Frau und die Mutter
C.H. Beck Verlag 2010, 17,95 Euro



Mit ihrer Streitschrift "Der Konflikt" (Leseprobe hier) war die französische Feministin Elisabeth Badinter zwar auf vielen Kanälen vertreten und gab Interviews, aber eine Debatte hat sie trotzdem nicht wirklich entfacht. Wogegen Badinter anschreibt, ist der wachsende Druck, der auf Frauen im Namen der guten und natürlichen Mutterschaft ausgeübt wird, der sie drängt, so lange wie möglich das Kind zu stillen, die Windeln wieder zu waschen und den Brei selber zu kochen. Eine Allianz aus Ökologen und Reaktionären sieht Badinter am Werk, die die Frauen an Heim und Herd fesseln und in Frankreich Verhältnisse wie in Deutschland, Italien und Japan einführen wolle. In der taz stellt sich Barbara Vinken, selbst Autorin eines Buchs über den Mythos der "Deutschen Mutter", ganz auf Badinters Seite, gibt aber zu bedenken, dass hierzulande der Konflikt zwischen Frau und Mutter längst zugunsten der Mutter entschieden ist. In der Zeit besprach Susanne Mayer das Buch zwar mit großer Achtung für die Aufklärerin und messerscharfe Aufklärerin Badinter, führte als Gegenargument dann aber ausgerechnet das womöglich leidende Kindeswohl ins Feld.

Hrsg.: Michael Gemperle, Franz Schultheis, Berthold Vogel
Ein halbes Leben
Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch
UVK Universitätsverlag Konstanz 2010, 39,90 Euro



Persönliche Einblicke in unsere heutige Arbeitswelt verspricht die Interviewsammlung "Ein halbes Leben" von Berthold Vogel, Michael Gemperle und Franz Schultheis. Gemeinsam mit 50 weiteren Sozialwissenschaftlern besuchten sie Arbeitnehmer in Deutschland, Österreich und der Schweiz, um mit ihnen über ihre Berufe, Alltagssorgen und Zukunftsängte zu sprechen. Harry Nutt bezeichnet die Interviewsammlung in der FR als "hinreißendes Lesebuch", welches keinen Wirbel um Statistiken mache, in dem die Interviewer vielmehr verstehend zuhörten. Der Rezensent weist dieses "verschmähte Archiv der Arbeitswelt" ausdrücklich als Pflichtlektüre für alle aus, die in unserer Gesellschaft Verantwortung für Arbeitsplätze tragen. Zur weiteren Information: Mit dem Tagesspiegel sprach Berthold Vogel über den neuen Belastungsdruck der Mittelschicht, und der Deutschlandfunk interviewte Franz Schultheis im Rahmen der Sendung "'...und dem Chef die goldene Uhr'".

Claude Lanzmann
Der patagonische Hase
Erinnerungen
Rowohlt Verlag 2010, 24,95 Euro

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Claude Lanzmanns Film "Shoah" hat eine ganze Generation Intellektueller geprägt. Er entstand etwa zur Zeit des Historikerstreits in Deutschland, wenige Jahre vor dem Mauerfall. Das Bild vom Holocaust hat sich durch diesen Film, der auch die Erkenntnisse Raul Hilbergs weitertrug, für viele Jahre gefestigt. Aber Lanzmann war schon über fünfzig Jahre alt, als er den Film machte, betont Micha Brumlik in der taz, der das eingehende Kapitel über den Film mit Aufmerksamkeit gelesen hat - und den Rest des Buchs über Lanzmanns aufregendes Leben ebenso. Die Freie Universität Berlin direkt nach dem Krieg kommt darin vor, das Paris der Existenzialisten - mit Sartre und Lanzmanns zeitweiliger Geliebter Simone de Beauvoir als Hauptfiguren - und Israel. Der Mann ist nicht ganz frei von Eitelkeit, aber seine Erinnerungen sind fesselnd, schließt Brumlik. Franziska Augstein zieht in der SZ ein ähnliches Resümee. Und Grete Götze staunt in der FR über Lanzmanns unerschöpfliche Radikalität.