Im Kino

Fleckige Körper

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Nikolaus Perneczky
28.03.2012. Wir wagen einen Blick ins Fernsehprogramm: Dominik Grafs "Das unsichtbare Mädchen" verlegt die Dynamik italienischer Polizei-Reißer in ein oberfränkisches Kaff namens Eisenstein. Im Kino läuft dagegen James Watkins' "Die Frau in Schwarz: Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe versucht, in die Fußstapfen Peter Cushings und Christopher Lees zu treten.


Die Behauptung, dass das Fernsehen heute das bessere Kino hervorbringt, ist in dieser rigorosen Zuspitzung vielleicht nicht ganz zu halten. In Deutschland aber entsteht das beste Kino mitunter wirklich dann, wenn Dominik Graf für das Fernsehen arbeitet: Unter stetem Zeitdruck entstehen meist ein bis zwei Filme pro Jahr, mit Vorliebe Polizei- und Kriminalfilme bei gelegentlichen Ausflügen ins Essayistische. Die Filmgeschichte, über die Graf selbst im Feuilleton mit viel Herzblut und Kennerschaft schreibt, zumal über deren eher randständige, vom guten Geschmack nicht immer abgesegnete Regionen, schwingt dabei stets mit. Das bislang letzte große, atemberaubende Meisterwerk, "Cassandras Warnung", entstand erst vergangenes Jahr für den guten alten, unter Meisterwerkverdacht gewiss nicht stehenden "Polizeiruf 110". Gerade auf der Berlinale zu sehen war Grafs unbedingt sehenswerter Porträtfilm "Lawinen der Erinnerung" über den 2011 gestorbenen Fernsehautor Oliver Storz.

Dass Graf mit seiner Vorliebe für den grobkörnig-fleckigen 16mm-Film, dem klassischen Independentfilmformat, tatsächlich zu genau jenem Zeitpunkt Kino im Fernsehen macht, an dem das Kino sein klassisches Trägermedium abwirft und mit dem Umstieg auf die Digitalprojektion Fernsehtechnik für sich adaptiert, ist eine Ironie des Zelluloidfilm-Schicksals; eine andere, dass insbesondere deutsche Kinofilme oft schon für Zuschauerzahlen gefeiert werden, die bei einem Fernsehfilm Diskussionsbedarf nach sich ziehen würden. Von daher sei in der Kino-Kolumne des Perlentauchers eine Ausnahme gemacht: An diesem Freitagabend zeigt arte Dominik Grafs neuen 16mm-Kino-Fernsehfilm "Das unsichtbare Mädchen", der auch allen passionierten Kinogängern wärmstens ans Herz gelegt sei.



Die Panorama-Helipkopter-Perspektiven, mit denen der Film beginnt, täuschen ein weites, einsehbares, schier grenzenloses Land vor - Bilder, deren Weite und Klarheit, wie sich herausstellt, nicht zu trauen ist, geht es hier doch vor allen Dingen um das, was hinter (und gegen Ende auch einmal: vor) verschlossenen Jalousien stattfindet, um das, was in Archiven zu finden ist, die in Hinterzimmern und unter verwinkelten Treppengängen schlummern, um das, was unausgesprochen ist und unter den Teppich gekehrt wurde, was im Verschleifen verloren geht wie im Fränkischen oft die Wortenden. Und es geht um klare Grenzen: Eine Demarkationslinie im örtlichen Wirtshaus trennt diejenigen, die in der Angelegenheit eines aufsehenerregenden Kriminalfalls vor einigen Jahren der einen oder anderen Meinung sind, nicht weit weg liegt die Grenze zur tschechischen Republik, mittlerweile leichter durchlässig als früher, aber immer noch, was die ästhetische Textur der Straßen und Häuser betrifft, eine andere Welt, ganz zu schweigen vom hier im Grenzland noch immer laufenden Prostitutionsgeschäft, das im properen oberfränkischen Eisenstein (in "Cassandras Warnung", Randnotiz, hieß ein Ort Murnau) im schlechtesten Ruf steht. Wie das in sauberen Ortschaften der Provinz, wo man Dialekt, Ritterfestspiele und den "Strammen Max" noch pflegt, eben immer so ist: Die schmutzigen Geheimnisse werden ins Unsichtbare gedrängt, die wie willkürlich durchs Land gezogenen Nationalgrenzen sind dabei, man weiß das spätestens seit "Twin Peaks", hilfreich.

Allerhand schmutzige Geheimnisse rumoren in "Das unsichtbare Mädchen", sie ziehen ihre Kreise von der oberfränkischen Provinz bis zur höchsten Münchner Politkaste: Da wäre Kommissar Tanner (Ronald Zehrfeld), aus Berlin nach Eisenstein versetzt, der im Verdacht steht, auf kleine Mädchen zu stehen. Da wäre sein oberfränkischer Vorgesetzter Wilhelm Michel (Ulrich Noethen, der dem fränkischen Idiom hier ein Denkmal setzt), der karriereförderliche Gefälligkeitsdienste an sexuelle Gefälligkeiten koppelt und mit einer Voreingenommenheit, einer an umstrittene FBI-Methoden erinnernden Skrupellosigkeit und mit einer Nibelungentreue Richtung München ans polizeiliche Werk geht, dass man an schmutzigste Polizeifilme der 70er denkt, während einen gleichzeitig das blanke Grausen packt. Da ist der Luzi-Club jenseits der tschechischen Grenze, in dem Wünsche erfüllt werden, deren Erfüllung justiziabel ist. Da ist die schlichtweg nicht lebensfähige, wie ins Leben geworfene Kleinstadt-Prostituierte Inge-Maria (Silke Bodenbender), deren Tochter Sina seit 10 Jahren vermisst ist und vom damals frisch nach Eisenstein versetzten Michel auch ohne Leichenfund kurzerhand für tot erklärt wurde. Da ist der verbitterte pensionierte Polizeimann Altendorf (Elmar Wepper), der an Michels Variante nicht glauben wollte und von ihm deshalb gegängelt wurde. Da ist ein bayerischer Innenminister, der den Posten des Ministerpräsidenten anvisiert und ein gesteigertes Interesse daran hat, dass auch weiterhin hinter fränkischen Häusermauern verborgen bleibt, was bislang bestens verborgen geblieben war. Und da ist die plötzlich ermordete Eva (Christine Zart), die im Fall Sina ebenfalls an offizielle Wahrheiten rüttelte und nun Tanner sich in Ermittlungen stürzen lässt, die ihn selbst bald Kopf und Kragen kosten könnten.



Eine Welt der schmutzigen Geheimnisse, die überschäumen, schließlich in pure Gewalt eskalieren: Seine Vorliebe für den italienischen Polizeithriller der 70er Jahre hat Dominik Graf stets betont, dass man einen solchen nun auch in den schmalen Kiesgassen zwischen oberfränkischen Dorfhäusern situieren kann, ist zumindest neu. Ähnlich wie die Vorbilder reale Ereignisse mit Genretopoi vermengten, sehr kompromisslos ihre Wut über institutionellen Filz und Korruption in Filme gossen und hochgradig verkommene Charaktere mit effektvoller Präzision in eine dynamische Genrefilmmechanik einsetzten, verbindet auch Graf hier das Vorbild des realen Mordfalls "Peggy" mit einer am Genrefilm geübten handwerklichen Präzision, die die Spielfreude und die Lust an der stellenweise auftretenden Unsauberkeit zu ihrem Recht kommen lässt, und mit einer guten Portion Wut, die sich weniger artikuliert, sondern viel eher aus dem Bauch kommt, über zynische Granden des Politbetriebs, die für sich ein Menschenrecht auf Karriere postulieren.

Dazwischen: Immer wieder großartige, einzelne Momente. Eine Hotelzimmerschlägerei, die man gesehen haben muss, um sie zu glauben. Eine absurde Sexszene mit großartig irritierend einmontierten Inserts - eine ganze kleine Hommage an Nicolas Roegs berühmt montierte Bettszene aus "Wenn die Gondeln Trauer tragen". Und eine wunderbar delirant wirkende Tanzsequenz gegen Ende, wie es bei Graf ja auch immer wieder Tänze gibt, in denen Menschen loslassen, ihre Haare wirbeln lassen, ganz verlebte, ausgebrannte, 16mm-fleckige Körper werden.

Das Ende schließlich mündet in ein Duell, aufgebaut wie ein großer Showdown aus einem Italowestern. Zwei Männer ziehen durch die Stadt, die Fenster werden verschlossen. Ein Schuss mitten durchs Herz: Italien liegt ab jetzt in Oberfranken, großes Kino.

Thomas Groh

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Keine Ausflüchte, sondern ein richtiger Schluss - ohne lose Fäden, ohne Kehrtwende oder mise-en-abyme in letzter Sekunde: "Die Frau in Schwarz" ist der seltene Fall eines Films, der es versteht, einen tonal ambivalenten und erzählerisch dennoch definitiven Endpunkt zu setzen. Außer dem treffsicheren Ausgang ist dem britischen Regisseur James Watkins aber so gut wie nichts geglückt an diesem durchwegs formelhaften Horrorverschnitt der Sorte haunted house. "Die Frau in Schwarz" besteht aus lieblos abgespulten Gemeinplätzen des Genres, die zudem ohne ersichtlichen Grund aus der Mottenkiste gegriffen wurden. Als reiner Genrefilm rangiert er im unteren Mittelfeld der aufpolierten Konfektionsware; andere Hinsichten oder Lesarten bieten sich - so oft das Spukhaus in der Vergangenheit ("Poltergeist", "The Shining") historische Traumata und Ähnliches beherbergt hat - hier einfach nicht an.

Außer natürlich der Umstand, dass Hammer Film Productions, eine über Jahrzehnte stilprägende Londoner Genrefilmschmiede, mit "Die Frau in Schwarz" ein Comeback versucht. Auf der hauseigenen Homepage kann man nachlesen: "Not in production since the 1980s, Hammer has now been aggressively reinvigorated through new investment in the development and production of film, television and digital-platform content." Hammer ist heute Teil des Unterhaltungskonzerns Exclusive Media, der über zwei Ecken dem niederländischen Fernsehmoloch Endemol (notorischer content: "Big Brother", "Wer wird Millionär?", "Traumhochzeit") gehört. Wie die unsägliche Sprache der zitierten Pressemitteilung schon vermuten lässt: kein gutes Omen.

Sollte "Die Frau in Schwarz" ein Maßstab für die projektierte Erneuerung des so genannten Hammer Horror sein, so muss die Prognose pessimistisch ausfallen. Wenig haben Watkins und sein Team herüber zu retten vermocht aus dem goldenen Zeitalter - sie haben es, allem Anschein nach, erst gar nicht versucht. Betont maß- und geschmackvoll kommt ihr Film daher, ohne outriertes Spiel, knallende Ausstattung und analog knirschende Effekte (mit der Ausnahme einer lobenswerten Szene, in der das titelgebende Gespenst wie auf Schienen uns entgegen fährt). An ihre Stelle treten die mittelprächtigen production values britischer TV-Historienfilme, in eine kompetent abgemischte graublaue Farbskala getüncht und luftdicht abgepackt.



Die Entfernung zur eigenen filmgeschichtlichen Abkunft könnte größer kaum sein. Doch halt, die größte Kluft hat sich noch gar nicht aufgetan: Wo einmal die distinguierten Herren (Peter) Cushing und (Christopher) Lee ihren okkulten Neigungen fröhnen durften, wird heute der Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe als Kaufanreiz aufgeboten. Und der ist, um das Wenigste zu sagen, kein natürlicher Schauspieler. Je länger "Die Frau in Schwarz" dauert, desto schwieriger wird es, sich der Tragik zu erwehren, in die Radcliffes Bemühungen, sich von seiner Lebensrolle zu emanzipieren, ein ums andere Mal münden. Nicht nur erwachsen soll er sein, sondern verheiratet bzw. verwitwet und Vater eines vielleicht sechsjährigen Jungen; ein Mann, der seit Jahren der im Kindsbett verstorbene Frau nachtrauert, sich an ihre Stelle wünscht. Da kann die Maske noch so großzügig fahle Gesichtsfarbe auftragen - den dem Tod Verfallenen wird dem pausbäckigen Harry noch der gewogenste Fan nicht abnehmen. So gut sich diese rein instrumentelle Castingentscheidung mit dem Berechnenden der ganzen Unternehmung verträgt, so schlecht geht die Rechnung am Ende auf. Wobei, das Ende ist, wie anfangs vermerkt, immer noch das beste an der Sache.

Nikolaus Perneczky

Das unsichtbare Mädchen - Deutschland 2011 - Regie: Dominik Graf - Darsteller: Ronald Zehrfeld, Elmar Wepper, Ulrich Noethen, Tim Bergmann, Silke Bodenbender - Länge: 105 min. (Freitag, den 30.3. um 20.15 Uhr auf arte)

Die Frau in Schwarz - Großbritannien / Kanada 2012 - Originaltitel: The Woman in Black - Regie: James Watkins - Darsteller: Daniel Radcliffe, Ciarán Hinds, Liz White, Janet McTeer, Shaun Dooley - Länge: 95 min.