9punkt - Die Debattenrundschau

Ausgerechnet wir Männer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2019. In der Irish Times macht Fintan O'Toole einen genialen Vorschlag: Es gibt eine Partei, die Boris Johnsons No-Deal-Kurs ein für alle Mal stoppen könnte, Sinn Fein. Im Tagesspiegel verteidigt Jan-Werner Müller die linke Idee von Identitätspolitik. Die taz bringt ein Gespräch mit dem Berliner Psychologen und Sozialarbeiter Kazim Erdogan über die Probleme von Männern türkischer Herkunft. Der Guardian macht eine Beobachtung im Kandidatenfeld für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Es ist vielfältiger denn je - aber kein einziger von ihnen ist nicht religiös.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.08.2019 finden Sie hier

Europa

Es gibt eine irische Partei, die den von Boris Johnsons No-Deal-Brexit ein für alle Mal stoppen könnte, und das ist Sinn Fein, schreibt Fintan O'Toole in einem ziemlich verrückt klingenden aber logischen Artikel in der Irish Times: Sinn Fein stehen nämlich sieben Sitze im House of Commons zu, die die Partei nicht einnimmt, weil sie nicht auf die Queen schwören will. Aber die Partei könnte die Sitze zusammen mit einer Anti-Brexit-Koalition in Nordirland neu zur Wahl stellen lassen. Sinn Fein würde die Sitze also nicht selbst einnehmen und dennoch triumphieren: "Sinn Fein hat keine Stimme in Westminster, das heißt, dass die gesamte Anti-Brexit-Mehrheit in Nordirland im House of Commons zum Schweigen verdammt ist. Und Sinn Fein hat sehr geringen Einfluss auf die Brexit-Politik in Dublin. Hier könnte die Partei in einem kühnen Schachzug eine elektrisierende Wirkung auf den Lauf der irischen und britischen Gechichte entfalten und im gleichen Atemzug ihr Image einer Protestpartei in eines der Verantwrotung verwandeln."

In Dänemark haben sich die Rechtspopulisten radikalisiert - und wurden von den Wählern abgestraft. Man könnte paradoxerweise daraus schließen, dass die Rechten die Mitte stabilisieren, weil sie die Wähler zu Abwehr mobilisieren. Nur leider geht diese Rechnung nicht auf, schreibt Thomas Steinfeld in der SZ: "Denn die Volkspartei verlor, um beim Beispiel Dänemark zu bleiben, auch deswegen so viele Stimmen, weil die (heute regierenden) Sozialdemokraten zu erklärten Ausländerfeinden geworden waren und also das innenpolitische Programm der Populisten übernommen hatten."
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Ideen

Der Politologe Jan-Werner Müller verteidigt im Tagesspiegel die Idee einer linken Identitätspolitik: "Wer Minderheiten vorwirft, sie würden ja immer nur narzisstisch von sich reden, verbietet den Stigmatisierten de facto, über ihr Stigma zu sprechen. Hannah Arendt bemerkte einmal, wenn man als Jüdin angegriffen werde, müsse man sich als Jüdin wehren. Eine Verteidigung, die sich sofort ins Allgemeine zurückzieht, lässt es gar nicht zu, besondere Umstände und Gründe eines Unrechts zu erkennen."
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Medien

Im Spiegel antwortet Martin Doerry auf Vorwürfe des Irish Times-Korrespondenten Derek Scally, er hätte bei der Enthüllung der gefälschten Identität von Marie Sophie Hingst - die Bloggerin hatte sich Holocaust-Opfer als Vorfahren erfunden und nach der Enthüllung offenbar das Leben genommen, unsere Resümees - die psychische Verwirrtheit Hingsts nicht berücksichtigt: "Er behauptet, ich hätte übersehen, in welcher katastrophalen psychischen Verfassung Frau Hingst gewesen sei. Was er dabei übersieht, ist die Tatsache, dass Frau Hingst vor der Publikation des Artikels keineswegs verzweifelt und niedergeschlagen war, sondern souverän, kämpferisch und entschlossen. Er ist ihr erst begegnet, als ihre fiktive Identität zusammengebrochen war."

Der Einstieg des Finanzinvestors KKR bei Springer, der den Konzern auf Wunsch von Mathias Döpfner und Friede Springer maßgeblich steuern soll, scheint zu klappen, meldet Caspar Busse auf sueddeutsche.de: "Am Freitag teilte die Firma aus New York mit, dass bis Donnerstagabend bereits knapp 19,2 Prozent des Grundkapitals das Übernahmeangebot angenommen haben." Wenn bis heute Nacht 20 Prozent zusammengekommen sind, kann der Prozess weitergehen: Dann "gibt es eine weitere Frist von zwei Wochen, in der alle übrigen Aktionäre, die bisher nicht getauscht haben, ihre Aktien KKR andienen können. Der Finanzinvestor bietet 63 Euro je Aktie." Das wird dann wohl auch heißen, dass die Springer-Zeitung Die Welt profitabel werden muss (unser Resümee vom 10. Juli.)

Eine wichtige Stabilisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat das Bundeskabinett beschlossen, meldet unter anderem Stefan Fischer in der SZ: "Autoradios müssen künftig den Empfang digitaler Signale ermöglichen... Für Befürworter der digitalen DAB+-Ausstrahlung von Radio ist die Entscheidung ein wichtiger Schritt." Die Öffentlich-Rechtlichen wünschen DAB+ in Autos, weil Radio meist von Berufstätigen gehört wird und somit den Altersdurchschnitt des Publikums senkt.
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Gesellschaft

Philipp Daum führt für die taz ein schönes und ausführliches Gespräch mit dem Berliner Psychologen und Sozialarbeiter Kazim Erdogan, der eine Vätergruppe für Männer türkischer Herkunft gegründet hat: "Ich habe in der Vätergruppe einmal 35 Zettel verteilt, darauf stand ein Satz: Schreibe bitte auf, was für dich Ehre bedeutet. Nach einer halben Stunde hat keiner ein einziges Wort schreiben können. Also haben wir das mündlich gemacht. Alle gaben ähnliche Antworten. Ehre ist, was meine Vorfahren mir erzählt haben: 'Du bist ein Mann, du hast Ehre. Du musst sie schützen. Die Ehre deiner Tochter, deiner Mutter.' Ich habe sie gefragt: Warum haben ausgerechnet wir Männer diesen Begriff auferlegt bekommen? Wir stellten gemeinsam fest, dass das ein Begriff ist, der innen hohl ist."

De Meldung klingt ja gut: Die Katholische Kirche will ein Meldesystem für Fälle sexuellen Missbrauchs einrichten. Aber Jan Weber von hpd.de ist misstrauisch: "Dabei solle in jeder Diözese eine Anlaufstelle für die innerkirchliche Meldepflicht für Missbrauchsfälle eingerichtet werden. Danach sind dann ab Januar 2020 alle Kleriker und Ordensleute verpflichtet, den kirchlichen Behörden 'unverzüglich alle ihnen bekannt gewordenen Berichte über Missbrauch zu melden'. Wem da irgendein Hinweis darauf fehlt, dass auch staatliche Stellen wie zum Beispiel Staatsanwaltschaften oder die Polizei informiert werden sollen … der wird erfolglos suchen. Denn man möchte das ganz unter sich regeln."
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Politik

An alle Liebehaber der Israel-Boykottbewgung BDS, besonders auch in der taz, richtet Ulrich Gutmair eine kleine Richtigstellung: Es geht BDS nicht um 1967, sondern um 1948: "Der BDS-Bewegung geht es nicht um das Ende der Besetzung dieser Gebiete. Sie will keine Zweistaatenlösung. BDS will das ganze Land. Die Gründung eines jüdischen Staats im Jahr 1948 ist die 'Menschenrechtsverletzung', die BDS beseitigen will. Eine der Forderungen im Gründungsdokument von BDS, in dem 'Aufruf vom 9. Juli 2005', wie er von der deutschen BDS-Kampagne zitiert wird, lautet entsprechend, die 'Besetzung und Kolonisierung arabischen Lands' sei zu beenden. Dort ist nicht die Rede von der 'Besetzung und Kolonisierung arabischen Lands seit Juni 1967 einschließlich Ost-Jerusalems', wie dieser Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft auf Wikipedia zitiert wird."

Fast trocken liest sich in der SZ Paul-Anton Krügers und Dunja Ramadan Bilanz des seit acht Jahren wütenden Syrien-Krieges, der ein fast völliges Verschwinden des Westens als politischem Akteur bedeutet: "Das Regime hat sich dank russischer und iranischer Hilfe stabilisiert und kontrolliert heute wieder knapp zwei Drittel des Landes, darunter die wichtigsten Großstädte, die Küste, die Grenze zu Libanon und Jordanien. Eine politische Lösung, die aus Sicht des Westens und der Rebellen lange noch mit einer Perspektive verbunden war, Assads Herrschaft doch noch zu beenden, wird es allenfalls noch zu Putins Konditionen geben und mit Zustimmung Irans - beide wollen das Assad-Regime erhalten."

Guardian-Korespondent David Smith macht eine wichtige Beobachtung beim Blick auf die Kandidaten für die amerikanische Präsidentschaftswahl 2020: "Die amerikanische Präsidentschaftswahl 2020 hat das vielfältigste Kandidatenfeld in der Geschichte hervorgebracht. Es gibt Frauen, Farbige, offen Schwule. Es gibt Milliardäre, Sozialisten und einen Selbsthilfeguru. Die Sicht des Senators von Vermont Bernie Sanders auf Religion ist nicht sehr klar, aber insgesamt gibt es keinen Atheisten, von dem man wüsste. Ungläubige bleiben in der amerikanischen Politik sehr rar."
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