9punkt - Die Debattenrundschau

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30.12.2019. In Amerika wird nach einer ganzen Serie von Anschlägen über Antisemitismus diskutiert. Sehr enttäuscht äußert sich Ai Weiwei in der SZ über den Westen und dessen Rückgratlosigkeit gegenüber China. Aber immerhin: "Die deutsche Wirtschaft hat klar angekündigt, dass ihre Zukunft in China liege. Das ist sehr ehrlich." In der FAZ bestreitet Richard Schröder, dass bei der Wiedervereinigung so viele Fehler gemacht wurden, wie oft behautet. Die taz rät, auf die Vorteile einer vernetzten Medizin und einer persönlichen digitalen Gesundheitskarte zu verzichten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.12.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Die jüngsten Anschläge auf Angehöriger orthodoxer jüdischer Gemeinden in New York wurden nicht von weißen Rechtsextremisten begangen, sondern von Schwarzen. Im jüngsten Fall - eine Macheten-Attacke auf ein Hanukka-Fest mit fünf Verletzten - handelte es sich laut New York Times offenbar um einen psychisch gestörten Einzeltäter. Der Anschlag auf einen koscheren Supermarkt vor einigen Wochen wurde von einer Gruppe von "Black Hebrew Israelites" begangen (unser Resümee von Yascha Mounks Artikel zu diesem Fall).

"Wer die Diversität von Antisemitismus nicht sehen will, ist nicht ernstzunehmen", schreibt Benjamin Wittes im Atlantic zu den jüngsten Attacken. "Menschen, ob jüdisch oder nicht, die ihre Stimme zum Antisemitismus erheben, aber dabei versäumen, über den Antisemitismus im eigenen Lager zu sprechen, sollte man mit Misstrauen begegnen. Leute, die mehr daran interessiert, das Problem des Antisemitismus als Waffe zu benutzen, als das Problem selbst anzugehen, werden den Blick allzu leicht abwenden, wenn die falschen Leute von den falschen Mördern aus den falschen Gründen umgebracht werden." Die Historikerin Deborah Lipstadt schreibt im Atlantic ebenfalls über den neuen Antisemitismus.

Auch der umstrittene New-York-Times-Kolumnist Bret Stephens spielt in einem etwas rätselhaften Artikel über "jüdisches Genie" auf das Supermarkts-Attentat an. Der Artikel hat in den sozialen Medien einen Empörungssturm ausgelöst (mehr im Guardian), weil Stephens in einer ersten Version auf eine Studie anspielte, die aschkenasischen Juden eine genetisch bedingte höhere Intelligenz unterstellte und die als rassistisch gilt - was die New York Times zu einer langwierigen Distanzierung und einer neuen Version von Stephens' Artikel veranlasste. Stephens Fazit lautet: "Im besten Fall sollte der Westen das Prinzip des ethnischen und religiösen Pluralismus nicht als widerwillige Anpassung an Fremde, sondern als Bestätigung seiner eigenen vielfältigen Identität anerkennen. In diesem Sinne ist das Besondere an den Juden, dass sie es nicht sind. Sie sind repräsentativ."

Im Tagesspiegel warnt der Pianist Igor Levit, der nach Morddrohungen unter Polizeischutz spielt, vor einer Normalisierung des Antisemitismus, in diesem Fall von rechts: "Steter Tropfen höhlt den Stein! Das Gift rechtsradikaler, völkischer Hetze verbreitet sich langsam und schleichend. Wenn Übergriffe und Attacken zum regelmäßigen Stoff von Nachrichten werden, dann steigt die Gefahr, dass wir uns an Skandal und Unmenschlichkeit gewöhnen, statt alarmiert und sensibilisiert zu werden: Wir akzeptieren damit eine neue Normalität samt Opferhierarchien und Täterhierarchien."

Tanja Tricarico rät in der taz, schlicht und einfach auf die Vorteile einer vernetzten Medizin und einer persönlichen digitalen Gesundheitskarte zu verzichten: "Rechtzeitig zum Jahreskongress des Chaos Computer Clubs entlarven Netzaktivist:innen die löchrige Sicherheitsarchitektur, über die Gesundheitsdaten übertragen werden. Der Eingriff in die Privatsphäre, in die Entscheidungsgewalt des Einzelnen, ist enorm, das Einfallstor für Abzocke, Erpressung, Manipulation groß. Also Schluss mit dem gesetzlich verordneten Datenwahn - trotz der großartigen Idee einer vernetzten Behandlung. Für ausreichenden Schutz der Datenströme zu sorgen ist unmöglich, ein frommer Wunsch von Politiker:innen."

Ebenso sieht es der von Svenja Bergt in taz befragte Psychotherapeut Andreas Meißner: "Gesundheit lässt sich nicht technisch lösen und schon gar nicht durch zentral gespeicherte Daten... Die Milliarden, die die Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte und der ganzen IT-Infrastruktur dahinter schon gekostet haben, die hätten wir gut in anderen Bereichen brauchen können. Zum Beispiel in der Pflege oder in der ländlichen Versorgung mit Ärzten."

Wie der Staat mit unseren Daten umgeht, kann man gerade von der Berliner Polizei lernen: "Das Ausmaß der Datenschutzprobleme bei der Berliner Polizei ist weitaus größer als bisher bekannt", berichtet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel. Kurz vor Weihnachten hat Berlins Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk eine offizielle Beanstandung an die Polizei geschickt - es ist das schärfste Mittel, dass ihr gegenüber anderen Behörden zur Verfügung steht. Die Polizei hortet demnach seit Jahren unzulässig riesige Mengen an Daten und überprüft nicht einmal richtig, ob die 17.000 Beamten bei Abfragen Recht und Gesetz einhalten."

Apropos alternde Gesellschaft und die Folgen: In der NZZ ist Florian Coulmas eher skeptisch, was die Olympischen Spiele 2020 in Tokio angeht. Hat das Land keine anderen Probleme? "Aus der Not eine Tugend machen, heißt die Devise. Die Gouverneurin von Tokio, Yuriko Koike, verspricht sich von den Spielen, dass sie die Stadt rollstuhlgerechter machen werden, und Premierminister Shinzo Abe hofft, dass sie ein Schaufenster für innovative Technologien zur Bewältigung der demografischen Überalterung werden. Als Motivation für Olympische Spiele ist das zumindest originell; auch, weil Japan den anderen Ländern der Region auch hier voraus ist. Auf dem Höhenflug der Alterung werden sie der Leitgans, als die sich Japan schon damals sah, unweigerlich folgen."

Frankreich diskutiert über den Schriftsteller Gabriel Matzneff, nachdem Vanessa Springora, die er "verführt" hatte, als sie 14 war, ein Buch über ihre Geschichte geschrieben hat. Matzneff hatte sich in den Siebzigern auch im Fernsehen offensiv zu seiner Pädophilie bekannt. Und das Klima der Medien war ihm sehr wohlgesonnen. Auch die Libération war seinerzeit und bis in die Achtziger voll von Texten, die Sex mit Jugendlichen oder Kindern priesen. Laurent Joffrin schreibt dazu in Libération: "Man sah darin auch die Effekte einer nicht immer gut verarbeiteten Theorie, die aus dem 68er-Denken von Sartre, Foucault, Bourdieu oder Derrida kam. Kurz gesagt, war man in diesen intellektuellen Kreisen der Auffassung, dass sich jedes Gesetz, jede Norm, sozusagen jede Gewohnheit, auf die Ausübung einer unterdrückenden, allgegenwärtigen und diffusen Macht bezog, die in Umfang und Einfluss die des Staates oder einer sozialen Klasse überschritt, um Körper und Seelen zugunsten der vielgestaltigen Herrschaft, die die kapitalistische Gesellschaft strukturierte, zu kontrollieren, zu lenken, zu zwingen."
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Ideen

Pessimismus und mürrisches Apokalypsedenken ade! Die nächsten zehn Jahre könnten uns einen neuen Green Deal bringen, freut sich der Zukunftsforscher Matthias Horx im Tagesspiegel. "Verzicht und Vermeidung mögen vorübergehend notwendige Antworten sein. Aber der wahre green deal tritt erst in Kraft, wenn das Ökologische zu einer Befreiungs- und Gestaltungsidee wird. Ökologie berührt nicht nur die Frage der stofflichen Kreisläufe, der Gestaltung der Mensch-Natur-Zusammenhänge. Sie betrifft auch Eigentums- und Demokratiefragen. Kommunikationsstile und Selbstbilder, Wertedimensionen und Lebensweisen, nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geschlechter. Die besondere Attraktivität des Ökologischen besteht darin, dass es uns als Menschen, als Erdbewohner, auf neue Weise in Beziehung setzt. Kein Wunder, dass der populistische Nationalismus diese Idee mit jeder Faser bekämpft!"
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Europa

Der britische, in Berlin lebende Autor und Journalist Musa Okwonga blickt in der taz mit Schrecken von außen auf sein Land und den Brexit: "Ich habe Angst um Großbritannien, weil der Wahlkampf, den wir soeben bei den Konservativen beobachten konnten, der unehrlichste war, an den ich mich erinnern kann - und der doch überwältigenden Erfolg hatte. Wir haben jetzt eine Öffentlichkeit, deren Mehrheit entweder nicht weiß, dass man sie anlügt, oder der das nichts ausmacht."

Der chinesische Künstler Ai Weiwei hält China, wie es ist, für unreformierbar, sagt er im Interview mit der SZ. Und das Regime der chinesischen KP zugleich für mächtiger und stärker als hier oft angenommen. Vom Westen allerdings, wo er jetzt leben muss, ist er auch tief enttäuscht, denn der nehme seine eigenen Werte nicht ernst und lebe in einer Art Disneyland: "Die deutsche Wirtschaft hat klar angekündigt, dass ihre Zukunft in China liege. Das ist sehr ehrlich. Wenn man einmal auf dem chinesischen Tiger reitet, ist es sehr schwierig, wieder runterzukommen. ... Alles ist so gut organisiert hier, so friedlich, so sicher, ein wundervolles Leben. Aber es ist so unverhältnismäßig. Die Europäer haben keine Ahnung, wie hart der Kampf ums Überleben sein kann. Ich bin tief enttäuscht von der Politik, den Medien, der Bildung, ganz zu schweigen von den großen Firmen."

Der ehemalige Bürgerrechtler und SPD-Politiker Richard Schröder hat in der FAZ (politischer Teil) ehrliche Zweifel, ob bei der Wiedervereinigung wirklich so viele Fehler gemacht wurden, wie allseits immer vorausgesetzt wird: "Bei jeder Revolution kommt es unvermeidlich zu biografischen Brüchen, und zwar zum Teil zu Recht. Die bisherigen Machthaber müssen abtreten. Wenn ein Stasioffizier oder Dozent für Marxismus-Leninismus 1990 arbeitslos wurde, hält sich mein Bedauern in Grenzen. Sie sind zudem oft auf die Füße gefallen. Aber viele wurden 1990 und danach arbeitslos, die weder Stützen noch Nutznießer der Diktatur waren. Von denen haben manche sofort ihren Neustart betrieben, oft erfolgreich, aber andere, zumal Ältere, haben den Neustart nicht geschafft und verstanden sich zum Teil als unverschuldete Verlierer der Revolution, die sie begrüßt hatten. Nichts davon darf geleugnet werden. Aber beruhten solche Schicksale tatsächlich auf 'Fehlern'?"
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