Heute in den Feuilletons

Frei, tollkühn, draufgängerisch, improvisatorisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2012. Schade: Die Aufklärungsausstellung in Peking war sehr gut gemeint. Aber jetzt sagt Ai Weiwei im Tagesspiegel: "Es ist eine Ausstellung, die keinen Eindruck hinterlassen hat, es gibt kein Wissen über sie." Im Tages-Anzeiger tritt Marina Weisband von der Piratenpartei den Rückweg aus der Zukunft an. Die NZZ tritt dagegen ein ins asiatische Zeitalter. Und James Cameron schickt ein Tweet vom Grunde des Marianen-Grabens.

Aus den Blogs, 26.03.2012

Sommerzeit: Get out of your Lazy Bed!



(Via boingboing) James Cameron ist mit einem U-Boot auf dem tiefsten Punkt der Erde im Marianen-Graben (11.000 Meter unter Normalnull) gelandet und schickt ein Tweet: "Hitting bottom never felt so good."
Stichwörter: Felt, Cameron, James, U-Boot

Weitere Medien, 26.03.2012

Alle wählen die Piraten. Aber keiner weiß, was sie eigentlich wollen. Im Interview mit der Tages-Anzeiger antwortet Marina Weisband auf diese Frage: "Wie gesagt: Wir beschäftigen uns eigentlich mit Fragen der Zukunft, weniger mit aktuellen Problemen. Jetzt, wo wir plötzlich Chancen haben, in den Bundestag zu kommen, müssen wir das natürlich ändern."

(via 3 quarks daily) Der in Marokko geborene, heute in Frankreich lebende Autor Abdellah Taia erinnert sich in der New York Times daran, wie es war, im Marokko der achtziger aufzuwachsen als ein Kind, das sich seiner Homosexualität noch nicht bewusst ist, während andere sie bereits sehen. "How is a child who loves his parents, his many siblings, his working-class culture, his religion - Islam - how is he to survive this trauma? To be hurt and harassed because of something others saw in me - something in the way I moved my hands, my inflections. A way of walking, my carriage. An easy intimacy with women, my mother and my many sisters. To be categorized for victimhood like those 'emo' boys with long hair and skinny jeans who have recently been turning up dead in the streets of Iraq, their skulls crushed in. The truth is, I don't know how I survived."

Tagesspiegel, 26.03.2012

Die Ausstellung "Kunst der Aufklärung" hat in China "keine Rolle gespielt", meint Ai Weiwei in einem kurzen Interview mit Benedikt Voigt. "Es ist eine Ausstellung, die keinen Eindruck hinterlassen hat, es gibt kein Wissen über sie. (Der Mann aus dem Hintergrund, vermutlich von der Staatssicherheit, nähert sich und schießt mehrere Fotos aus der Nähe.) Hey, Kamerad, wir wollen das nicht." Die Unkenntnis liege vor allem "an der Natur der chinesischen Offiziellen, der Bürokraten. Niemand will die Verantwortung übernehmen, solche Dinge zu bewerben und bekannt zu machen."

Die deutschen Offiziellen feierten die Ausstellung dagegen als großen Erfolg, so Voigt in einem zweiten Artikel. Peter von Becker berichtet über ein Urteil des Bundesfinanzhofs, der von Regisseuren die volle Mehrwertsteuer von 19 Prozent verlangt.

Welt, 26.03.2012

Abgedruckt ist ein Interview mit dem letzte Woche gestorbenen Drehbuchautor Tonino Guerra, der für Michelangelo Antonioni, Frederico Fellini, Vittorio de Sica, Andrej Tarkowski und Theo Angelopoulos gearbeitet hatte. Guerra sprach über seine Zusammenarbeit mit Antonioni, seinen Vater und den Krieg, bei dem er in deutsche Gefangenschaft geraten war: "Viele Male erfuhr ich Glück in meinem Leben. Den glücklichsten Moment erlebte ich jedoch, als ich nach meiner Befreiung einen Schmetterling betrachten konnte, ohne ihn gleich essen zu wollen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse blickt Mara Delius entsetzt auf das "düstere Paralleluniversum" der Republikaner. Johnny Erling kommentiert kritisch das Ende der Ausstellung "Die Kunst der Aufklärung" in Peking.

Besprochen werden eine Ausstellung mit 47 Fotos aus der Subway-Serie, die Bruce Davidson in den 80er Jahren in New York aufnahm, in der Berliner Fotogalerie C/O, Staffan Holms Inszenierung von Shakespeares "Richard III." in Düsseldorf und die Aufführung von Jaromir Weinbergers Volksoper "Schwanda" in Dresden.

NZZ, 26.03.2012

Urs Schoettli sieht das asiatische Zeitalter anbrechen, der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verschiebe sich bereits nach Osten. Indien, Südkorea und Indonesien profitieren von Chinas Wachstum und von japanischen Investition in der Region, während Chinas Führung mit politischen Herausforderungen konfrontiert ist: "Lackmustests werden die Modernisierung des Finanzsektors einschließlich der Konvertibilität des Renminbi-Yuan und die Einführung des Rechtsstaats sein. Ohne solche profunde Erneuerungen wird China nicht nur seine Aspiration, eine wahre Weltmacht zu sein, verpassen, es wird auch seine innere Stabilität und damit seine wirtschaftlichen Errungenschaften infrage stellen."

Weitere Artikel: Gian-Marco Jenatsch berichtet begeistert von einem Projekt des Architekten Peter Märkli in Solothurn, Lilo Weber bespricht die Abschiedsvorstellung von Heinz Spoerli am Zürcher Opernhaus und Anton Thuswaldner hörte auf den Rauriser Literaturtagen Lesungen von Sibylle Lewitscharoff, Patrick Roth und Nora Gomringer.

TAZ, 26.03.2012

Heute gehört die Kultur Gabriele Goettle. Sie lässt sich von Masako Hashimoto per E-Mail erzählen, wie diese den Tsunami und das Reaktorunglück erlebt hat. Frau Hashimoto lebte in der Präfektur Fukushima in Miharu ("der Name bedeutet 'drei Frühlinge', weil hier die Pflaumen-, Pfirsich- und Kirschbäume gleichzeitig blühen"): "Wir sind ziemlich verzweifelt - da ist nicht nur die Katastrophe des AKWs, sondern auch die unmenschliche, kalte und trostlose Haltung der Behörden uns gegenüber, die alles noch viel schlimmer macht. Ich empfinde eine große Enttäuschung gegenüber unserer bisherigen Gesellschaft, über die absolute Bürokratie der Behörden, über den offensichtlichen Betrug von Tepco, über das gesamte hierarchische Entscheidungssystem und über den gründlichen Gehorsam, die das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen vernebeln können."

Weiteres: Reiner Wandler porträtiert den chilenischen Anarchisten und Journalisten Miguel Herberg, der all sein Material über Pinochets Diktatur verbrennen lässt, weil sich niemand dafür interessiert. Friedrich Küppersbusch fragt sich, warum Migranten aus dem Ruhrgebiet eigentlich den Soli zahlen sollen, wenn herausgeputzte Orte wie Usedom dann zu 22 Prozent die NPD wählen und für sie unbetretbar werden.

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.03.2012

(via BoingBoing) Zum Internationalen Frauentag haben die Smithsonian Institution Archives Fotos von Wissenschaftlerinnen veröffentlicht, von denen viele Pionierinnen auf ihrem Wissenschaftsgebiet waren. Links im Bild die 1892 geborene Zoologin Marie Agnes Hinrichs. Bei einigen Frauen ist nur der Name bekannt. Wer Informationen beisteuern kann, schreibe ans Smithsonian.
Stichwörter: Frauentag

SZ, 26.03.2012

Susan Vahabzadeh macht sich Gedanken, woran es liegen könnte, dass die französische Komödie "Ziemlich beste Freunde" an den Kinokassen derzeit sensationelle Erfolge feiert, wohingegen der Fantasy-Blockbuster "John Carter" als herbes Finanzdesaster in die Filmgeschichte eingehen wird. Felix Stephan berichtet von einer wissenschaftlichen Tagung in der Akademie der Wissenschaften in Berlin über die Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie. Reinhard Brembeck porträtiert den Organist Cameron Carpenter, der nicht nur durch sein punkig-poppiges Auftreten auffällt, sondern auch "frei, tollkühn, draufgängerisch, improvisatorisch" spielt. Joseph Hanimann besucht den frisch eingeweihten Muséoparc Alésia. Für Michael Moorstedt ist der Hype um den Bilder-Sammelservice Pinterest ein Indiz dafür, dass das Internet "immer visueller" wird. Volker Breidecker resümiert die lit.cologne, wo Stéphane Hessels Aufritt genauso zu den Höhepunkten zählte wie der Roberto Savianos.

Besprochen werden neue DVDs, darunter ein neuer Dokumentarfilm über Gerhard Richter, die Schlaflosigkeits-Doku "Goodnight Nobody", Saburo Teshigawaras Tanzperformance "Mirror and Music" am Tanzhaus NRW in Düsseldorf, Sebastian Nüblings Inszenierung von Ben Jonsons "Volpone" am Schauspiel Bochum, und Bücher, darunter Brian Cleggs "Vor dem Urknall", nach dessen Lektüre Burkhard Müller mit dem Gedanken spielt, "dass es sich, wo Universen entstehen, doch um Zeus handelt, der durch ein Sieb pinkelt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 26.03.2012

Die Seite 1 des FAZ-Feuilleton ziert ein Haupt- und Staatsinterview mit François Hollande und Sigmar Gabriel, geführt von Journalisten der Libération und der FAZ: Am Ende annoncieren die beiden einen Besuch bei Jürgen Habermas. (Der Wirtschaftsteil bringt als reizvollen Kontrast einen Artikel über die Stärke der französischen Konzerne, die die Sozialisten durch weitere Steuern motivieren wollen.) Jan Brachmann resümiert den Streit um eine neue Textfassung der Bachschen "Johannespassion", die von dem evangelischen Theologen Peter von der Osten-Sacken erstellt wurde, um die antijüdischen Passagen im Ursprungstext zu ersetzen (mehr hier und hier). Dirk Schümer schreibt zum Tod des großen italienischen Autors Antonio Tabucchi (hier seine Abrechnung mit Berlusconi). Oliver Jungen resümiert die Lit.Cologne. Joseph Croitoru berichtet über die Reaktionen auf das antisemitische Attentat in Toulouse. Zwei Artikel beschäftigen sich mit dem türkischen Historienfilm "Fetih 1453", der laut Johanna Roth und Benjamin Grau einen "Höhepunkt eines romantisierten Osmanismus" darstellt.

Besprochen werden Günter Krämers Inszenierung von Oscar Wildes "Salome" in Frankfurt, die Ausstellung "Rembrandt and Degas - Portrait of the Artist as a Young Man" im Metropolitan Museum von New York und Bücher, darunter Sebastian Polmans' Roman "Junge" (mehr hier), der sich mit der schweren Kindheit des Autors am Niederrhein befasst (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).