Heute in den Feuilletons

Kakofonische Explosionen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2009. Kindesmissbrauch scheint keine Spezialität des Internetzeitalters zu sein. John Banville schreibt in der NZZ über die massenhaften Misshandlungen und Folterungen von Kindern in Heimen der katholischen Kirche Irlands. In der Welt bekennt Simon Rattle seine Vorliebe für Haydn, den Rhythmiker.  In Expressen erklärt Lars Gustafsson, warum er bei der Europawahl für die Piratenpartei stimmen wird. In der FR wendet sich Abdelwahab Meddeb gegen die massenhafte Schlachtung von Schweinen in Ägypten.

NZZ, 29.05.2009

"Jeder wusste es, aber keiner hat etwas gesagt", schreibt der irische Schriftsteller John Banville zu den Erkenntnissen, dass in Irlands katholischen Schulen und Heimen Hunderttausende von Kindern systematisch misshandelt wurden. "Zwischen 1930 und den späten neunziger Jahren war Irland ein geschlossener Staat, beherrscht - das Wort ist nicht übertrieben - von einer allmächtigen katholischen Kirche, der sich die Politiker und die Bevölkerung, mit wenigen noblen Ausnahmen, willfährig andienten. Die Lehre von der Ursünde war uns in Fleisch und Blut eingegangen, und vom Protestantismus hatten wir uns das Konzept von den Auserwählten und den Verdammten ausgeborgt. Wenn Kinder in Waisenheime, staatliche Gewerbeschulen und Besserungsanstalten eingewiesen wurden, dann geschah das, weil es ihnen so bestimmt war und sie dorthin gehörten." Hier ein wenig Hintergrund zu dieser erschreckenden Geschichte, die hier noch gar nicht richtig Thema wurde.

Weiteres: Joachim Güntner rekapituliert die Verwerfungen, die die Stasiakten-Funde zu Karl-Heinz Kurras ausgelöst haben, für ihn allerding entlang altbekannter Gräben. Besprochen wird die Aufführung von Verdis "Falstaff" auf dem Festival von Glyndebourne.

Auf der Popseite schildert Stephan Hentz, wie sich das Jazzfestival von Moers neu positioniert hat. Christoph Wagner stellt den avantgardistischen Jazz-Kornettisten Taylor Ho Bynum vor.

Auf der Medienseite schildert Thomas Schuler ausführlich, wie die New York Times Watergate verschlief. "Ras" wirft einige Schlaglichter auf eine völlig konfuse Schweizer Medienbranche.

Welt, 29.05.2009

Manuel Brug unterhält sich mit Simon Rattle über seine Vorliebe für Haydn, die er in diesem Jahr wegen des 200. Todestags Haydns besonders intensiv ausleben darf. Rattle schätzt Haydn als Rhythmiker: "Für mich führt durchaus ein Weg von einer Haydn-Sinfonie zur den für die damalige Zeit beinahe schon kakofonischen Explosionen Strawinskys im 'Sacre du Printemps'. Nur dass bei Haydn die Raketen etwas leiser abgehen."

Wietere Artikel: Uta Baier kommentiert neueste Wendungen im Streit zwischen Klulturminister Neumann und der Stadt München um die Restitution eines Klee-Gemäldes. Ulf Poschardt unterhält sich mit Klaus Staeck über seine Retrospektive in der Berlinischen Galerie. Besprochen werden die Austellung "Kunst und Kalter Krieg" in Nürnberg, der Film "Hannah Montana" mit dem Teenie-Star Miley Cyrus, Händels Oper "Admeto" in der Regie von Dorie Dörrie in Göttingen und einer der letzten Filme mit Monika Bleibtreu, "Was wenn der Tod uns scheidet", in dem Bleibtreu eine Demenzkranke spielt, heute Abend auf Arte.

Aus den Blogs, 29.05.2009

Resümierend schreibt Robin Meyer-Lucht in Carta zur Expertenanhörung im Bundestag: "Die Anhörung zum 'Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen' heute im Bundestag hat ganz erhebliche Mängel des Gesetzes gezeigt: Es ist ein 'Systembruch' in vielerei Hinsicht, wie die geladenen Experten mehrfach betonten. Der Bund ist eigentlich gar nicht zuständig, die Regelungen sind schlecht abgewogen, verfassungsrechtlich bedenklich und gehören nicht in das eigentlich wirtschaftsbezogene Telemediengesetz."

(Via Digitale Notizen). Der schwedische Autor Lars Gustafsson wird (anders als zum Beispiel Per Olov Enquist) bei den Europawahlen die Piratenpartei wählen. Der immer lauter werdende Ruf nach Internetzensur erinnert ihn an das Frankreich des 18. Jahrhunderts: "Between the 1730?s and 1780?s, the number of state censors in France was doubled by four. The raids against illegal printing houses was rising at about the same pace. In retrospect, we know it did not help. Rather, the increase of censorship and printing house raids had a stimulating effect on the new ideas and made them spread even faster." (Hier das schwedische Original des Artikels in Expressen, für die Übersetzung ins Englische hat das schwedische Blog Copyriot gesorgt.)

Matthias Spielkamp kommentiert in seinem Immateriblog die Nachricht, dass die Presseagentur AFP Tausende von Abmahnschreiben gegen Zitate ihrer Meldungen im Netz verschickt. Einige Fragen seien da noch ungeklärt: "Die Frage, ob zum Beispiel Nachrichten überhaupt urheberrechtlich geschützt sind, ist alles andere als klar. Hört sich überraschend an? Mag sein, aber Tatsachen an sich sind natürlich nicht schützbar (auch wenn das mancher gern anders hätte)."

FR, 29.05.2009

Der tunesische Autor Abdelwahab Meddeb protestiert gegen die systematische Schlachtung von Schweinen in Ägypten, die vor allem die große christliche Minderheit der Kopten trifft - immerhin ein Achtel der Bevölkerung. Auf die Vogelgrippe hatte Ägypten keineswegs mit solchen Schlachtungen reagiert: "Hinter der Maßnahme zur Tötung der Schweine steht also nicht die Sorge um die öffentliche Gesundheit, zumal kein einziger Fall der A-Grippe festgestellt wurde. Der unterschiedliche Umgang mit Geflügel und Schweinen, diese ungleich stärkere Aggression gegen das Schwein, ist das Symptom einer Phobie, einer Wahnvorstellung. In der Reaktivierung des Wahnbilds vom Schwein zeigt sich die Beziehung, die eine muslimische Gesellschaft zu ihrer christlichen Minderheit unterhält."

Weitere Artikel: Kirsten Prinz besuchte eine vom Goethe-Institut mitorganiserte Tagung türkischer Germanisten in Izmir. Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses in Berlin und die Ausstellung "The Making of Art" in der Schirn.

TAZ, 29.05.2009

Die Finanzkrise ist nun auch im Verlagswesen angekommen, meldet Jörg Sundermeier. Neben den Schwierigkeiten kleinerer Verlage leisten sich auch die großen bestimmte Dinge längst nicht mehr. "Ein Martin Walser etwa wird von seinem jetzigen Verlag, Rowohlt, wohl kaum eine Werkausgabe spendiert bekommen, das gute Geld, das schlechte Bücher von Comedians einbringen, wird im Verlag anderweitig verwendet. Günter Grass hat das Glück, mit Steidl einen kleinen Verlag zu haben, der sich Werkpflege leistet. Suhrkamp, Hanser und Fischer leisten sich zwar für einige Autoren noch die Werkpflege, jedoch tun sie dies nicht mehr in dem Umfang, der noch vor wenigen Jahren üblich war. Auch als Autor von Rang muss man sich heute daran gewöhnen, dass ein Großteil der eigenen Bücher vergriffen ist: der frischgekürte Büchner-Preisträger Walter Kappacher etwa weiß nur drei seiner sechzehn Bücher lieferbar."

Weiteres: Rene Zipperlein stellt das neue Album von Neil Young "Fork in The Road" vor; der Sänger hat außerdem in seinem Archiv gewühlt, Ergebnis ist eine umfangreiche CD-Box mit Musik und Filmclips: "Neil Young Archives Vol. 1 (1963-1972)". Diedrich Diederichsen bespricht das Album "Repo" der aus Brooklyn stammenden Gruppe Black Dice.

Auf der Meinungsseite sieht der Jurist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke in der Debatte um die Stasiakten von Karl-Heinz Kurras "Kulturkampf von rechts" am Werk: "Der Fall Kurras/Ohnesorg wird dabei gleichsam zum missing link für die endgültige Delegitimierung der linken Geschichte der Bonner Republik."

Hier Tom.

SZ, 29.05.2009

Regelmäßig kehren Klagen wieder über das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit. Aber stimmt das denn, fragt Jens Bisky. Ein gesamteuropäisches "Gelehrtengspräch" gibt's vielleicht nicht, meint er, aber gegenseitige Wahrnehmung sehr wohl: "In den Medien der nationalen Öffentlichkeit sind europäische Themen - Fragen des Zusammenlebens und Neuigkeiten aus den anderen Mitgliedsstaaten - in einer nie dagewesenen Fülle präsent. Der deutsche Europäer kann sich unter perlentaucher.de oder eurotopics.net über Diskussionen in Ländern informieren, deren Sprache er nicht spricht. Man mag sich mehr davon wünschen, die Internetauftritte der EU-Institutionen könnten eine gründliche Überarbeitung - mehr Frische, mehr Foren statt Belehrung - gut vertragen. Dennoch ist das Angebot an Informationen schon heute so groß, dass man selbst bei bestem Willen nicht alles zur Kenntnis nehmen kann."

Weitere Artikel: Friederike Bothe unterhält sich mit dem Star-Buchumschlag-Designer Chip Kidd auch über bittere Wahrheiten der Digitalisierung: "Im Web kauft niemand ein Buch, weil ihm der Umschlag gefällt. Das ist einfach nicht Teil der Netzkultur." Offensichtlich etwas entgeistert meldet "jsl", dass der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson nicht nur die Piratenpartei wählen will, sondern in einem Blogeintrag auch "den Widerstand gegen freies Kopieren im Internet mit den Zensurbehörden des Ancien Regime im Frankreich des 18. Jahrhunderts" vergleicht. Till Briegleb war bei einer Hamburger Veranstaltung, auf der Navid Kermani unter anderem mit Rita Süssmuth über Migrationspolitik diskutierte. Außerdem stellt er ein den Beatles gewidmetes Museum auf der Reeperbahn vor. Tobias Lehmkuhl berichtet von einer Veranstaltung zum Thema "Geld, Macht, Geist" in der Berliner Literaturwerkstatt.

Besprochen werden Günter Krämers für Helmut Mauros Begriffe "fulminante" Inszenierung von Händels Oper "Ezio", Jerome Savarys Inszenierung von Aristophanes' "Vögeln" an der vors in Sanierung befindliche Theater gezogenen Volksbühne, ein Konzert der kubanischen Rapgruppe Madera Limpia in Guantanamo, ein Konzert mit Horntrios von Brahms und Ligeti in München, die Ausstellung "Kunst und Kalter Krieg" in Nürnberg und Bücher, darunter Ignacio Martinez de Pisans Roman "Milchzähne" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 29.05.2009

Wir haben den Artikel vorgestern übersehen, aber er ist so witzig, dass wir gern ein Zitat nachtragen: Jasper von Altenbockum, eine Art Eduard Schnitzler der Netzbeobachtung, plädiert für einen starken Staat im Internet: "Dazu gehörte, sich einzugestehen, dass gegen die Flut krimineller Energie im Netz kein selbstregulierendes Zwitschern hilft, sondern nur systematische, staatliche Verfolgung. Hört man dagegen die Heilsprediger des Internets, könnte man meinen, das Gewaltmonopol habe sich schon ins digitale Nichts aufgelöst."

Stolz wird im Frankfurter Museum für Moderne Kunst die erste von der neuen Chefin Susanne Gaensheimer verantwortete Großausstellung präsentiert. Gemälde und Filme von Kunststar Sarah Morris, Titel "Gemini Dressage". Sieht alles toll aus, findet Julia Voss, aber insbesondere das Zentralstück, ihren Film "Beijing", für den Morris während der Olympischen Spiele exklusiven Zugang zu höchsten Ebenen erhielt, ist ihrer Ansicht nach eine sehr dubiose Angelegenheit. Voss' Verdacht nämlich ist es, "dass Künstler wie Sarah Morris oder auch Taryn Simon in nächster Nähe zur Macht geduldet werden, weil sie zuverlässig unpolitische Bilder produzieren... Sie flirten mit dem Politischen, ohne es einzulösen. Und damit sind wir in einer verrückten Verwertungskette angelangt, an deren Ende wir Kulturjournalisten über Künstler berichten sollen, die Zugang zu Orten hatten, die unseren Kollegen 2008 aus politischem Kalkül versperrt waren. Zur ästhetischen Begutachtung werden im Museum flirrende, unkommentierte Szenen vorgeführt. Schöner kann sich Zensur nicht camouflieren."

Weitere Artikel: Mark Siemons versucht, zwanzig Jahre nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein differenziertes Bild der Verhältnisse zwischen Staat und Volk in China zu zeichnen. In der Glosse ätzt Richard Kämmerlings gegen den Schriftsteller und Lokalpolitiker Steffen Kopetzky, der sich im Umfeld von Frank-Walter Steinmeier als "Bauchredner politischen Dummschwatzes" präsentiere. Matthias Hannemann berichtet von einem Vortrag des amerikanischen Deutschlandhistorikers Roger Chickering in Bonn. Martin Otto geht in Hannover über die Benno-Ohnesorg-Brücke ans Peter-Fechter-Ufer. Walter Haubrich hat die in Spanien gerade erschienenen Erinnerungen von Federico Garcia Lorcas Neffen Manuel Fernandez-Montesinos Garcia gelesen, in denen auch sein Studium bei Adorno und Horkheimer und die IG Metall eine Rolle spielen.

Besprochen werden "4 × 4" junges deutsches Theater in Mannheim, die Uraufführung von Alexander Tschaikowskis Solschenizyn-Veroperung "Iwan Denissowitsch" in Perm, die Foto-Ausstellung "Le Louvre pendant la guerre" im Louvre, und Bücher, darunter Veronique Olmis Roman "Die Promenade" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).