Heute in den Feuilletons

Freilich, fürchten muss man sich nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2009. In der FR betrachtet Dai Qing die aufgebundenen Füße des chinesischen Volks. Die NZZ begibt sich auf eigene Gefahr in Roberto Bolanos Abgrund "2666". In der Welt gibt Christoph Schlingensief einen Einblick in Angela Merkels trockenen Humor. In der taz fordert Norbert Bolz den Staat zu Selbstbegrenzung auf. Die SZ porträtiert den israelischen Schriftsteller Avraham Burg.

Welt, 12.09.2009

Im Interview mit Matthias Heine erzählt Christoph Schlingensief von seinen Plänen, in Burkina Faso ein Festspielhaus zu errichten. Er wird unterstützt von Frank-Walter Steinmeier, und er wird nicht Angela Merkel wählen, wenn man seiner Schilderung einer Szene aus dem Kanzleramt glauben darf: "Das war erschreckend. Da sitzen ihr Henning Mankell und Tilda Swinton beim Kaffeetrinken gegenüber, und sie stellt keine Fragen. Da wird nur gefragt, ob man noch ein Stückchen Kuchen möchte. Im Büro zeigte sie uns so eine potthässliche Marmorplatte mit Kamelen an der Tränke, die ihr irgendein Ölscheich geschenkt hatte. Das mussten wir uns alle angucken. Und als ich mal auf das Adenauer-Porträt von Kokoschka zuging, was wirklich ein schönes Bild ist, dann sagte sie nur: 'Ja, aber machen Sie es nicht kaputt, Herr Schlingensief, ha, ha, ha.'"

Außerdem erklärt Dankwart Guratzsch im samstäglichen Feuilleton, "warum vier Millionen Menschen zum Tag des Offenen Denkmals pilgern". In der Literarischen Welt unterhalten sich Rachel Salamander und Ulrich Weinzierl mit Lord George Weidenfeld über sein 90-jähriges Leben. Hannes Stein trifft Colum McCann zu einem Gespräch in New York Besprochen wird unter anderem Terezia Moras neuer Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (mehr hier).

NZZ, 12.09.2009

Den Aufmacher von Literatur und Kunst widmet Andreas Breitenstein dem verstorbenen chilenischen Schriftsteller Roberto Bolano und seinem fünfteiligen Roman "2666", der jetzt auf Deutsch "in der herkulischen Übersetzungsarbeit von Christian Hansen und in integraler Form [vorliegt], was insofern keine Selbstverständlichkeit darstellt, als Bolano vor dem Tod den Wunsch äußerte, dass die einzelnen Teile in Jahresfolge separat erscheinen sollten. Die Nachlassverwalter indes hatten triftige Gründe, sich dem zu verweigern, bilden die Teile doch ein loses und zugleich luzides Verweissystem, das durch die Trennung tangiert worden wäre. Der Titel '2666', der auf dem Deckblatt des Konvolutes stand und im Text selber nirgendwo aufgeschlüsselt wird, bildet eine Klammer nur insofern, als er in seiner Nacktheit und Wucht schon fast bedrohlich mit der Totalität der Weltdeutung zusammenfällt, die ein Roman dieses Ausmaßes per se beansprucht. Wie ein Siegel verschließt die Zahl das Buch - wer es aufbricht und hinabsteigt ins Zwielicht seiner Räume, tut dies auf eigene Gefahr. Freilich, fürchten muss man sich nicht ..."

Weiteres: Hans-Joachim Hoppe beschreibt Emigranten-Gruppen in Kanada. Hector Abad schickt eine Geschichte, "Der Koffer". Und der 88-jährige Filmausstatter Ken Adam erzählt im Interview von seiner Arbeit für die James-Bond-Filme.

Im Feuilleton sieht Martin Meyer Risse und Unzulänglichkeiten in der Schweizer Diplomatie, die gerade von Libyen und den USA vorgeführt wird. In der Kolumne "Mein Stil" beschreibt die Übersetzerin Christa Schuenke ihre Arbeit.

Besprochen werden zwei französische CDs mit Boulez-Interviews und Martin van Crevelds Buch "Gesichter des Krieges" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 12.09.2009

In einem Interview spricht die chinesische Autorin und Umweltaktivistin Dai Qing über das Buchmessen-Debakel und Pekings Angst vor Meinungsfreiheit. "Wer China heute verstehen will, muss wissen, welche Veränderungen es durchgemacht hat. In den ersten zwanzig Jahren der Volksrepublik gab es im Grunde gar keine Literatur, sondern nur Propaganda. Die Revolution war wichtig, nicht das Individuum. Nach 1978 kam dann eine Phase, die ich die Zeit der 'aufgebundenen Füße' nenne. Da sah das kulturelle Leben in China ungefähr so aus wie der befreite Fuß eines Mädchens, dem man im Kindesalter die Füße gebrochen und eingebunden hat. Das war kein sehr schöner Anblick, aber immerhin besser als die ursprüngliche Verkrüppelung."

Im Zusammenhang mit der Ausstellung "Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland", am 16. September im Jüdischen Museum der Stadt eröffnet, veranstaltet die FR eine Fragebogenaktion - ausgefüllt werden soll jener Fragebogen, den die Emigranten des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaft in den dreißiger Jahren entwickelten, um dem autoritären Charakter auch in den USA auf die Schliche zu kommen. Sein Herzstück bildet die so genannte F-Skala, wobei F für Faschismus steht. "Die F-Skala geht in ihrem Kern davon aus, dass bestimmte Persönlichkeitsstrukturen für antidemokratisches Handeln anfällig machen. Für sie prägten die Autoren des Instituts den Ausdruck 'der autoritäre Charakter?." Die FR wird die Auswertung der aktuell (natürlich anonym) eingesandten Fragebögen online zugänglich machen.

Im Feuilleton widmet sich Christian Thomas dem Debakel um den Vertrag zum Bau des Berliner Stadtschlosses. Als eine einmal wirklich gute Komödie lobt Daniel Kothenschultes Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag für Venedig "Soul Kitchen". Marcia Pally zeigt in ihrer Kolumne Verständnis für die Aufregung in Deutschland wegen der "dumm gelaufenen Sache in Afghanistan", mahnt aber zum Schulterschluss mit Obamas Afghanistanplänen, weil wir es 2012 sonst mit Sarah Palin zu tun bekämen. Auf der Medienseite beschreibt Tilman P. Gangloff die prekäre Arbeitssituation von Drehbuchautoren fürs Fernsehen und weshalb sie nun am stärksten durch den Fall Heinze betroffen sind.

Besprochen werden eine Inszenierung von "Fräulein Camillas Gespür für Schnee" in den Frankfurter Katakomben, die Komödie "Toutou" im Fritz Remond Theater und ein Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters unter Riccardo Chailly in der Alten Oper.

Aus den Blogs, 12.09.2009

Stefan Niggemeier klärt noch mal auf über die Intentionen des von ihm mit initiierten "Internet-Manifests": "Wir sind nicht die Gegner der guten etablierten Medien, im Gegenteil. Wir schreien auf, weil wir die Sorge haben, dass viele von ihnen ihre Zukunft verspielen, wenn sie glauben, die Leser müssten zu ihnen kommen und nicht sie zu den Lesern. Wir sorgen uns um diese Medien, aus ganz eigennützigen Gründen, weil wir für sie arbeiten, und aus ganz anders eigennützigen Gründen, weil wir glauben, dass eine Gesellschaft auch in Zukunft guten Journalismus braucht."
Stichwörter: Journalismus, Zukunft

TAZ, 12.09.2009

Auf den Tagesthemenseiten erklärt der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz in einem Essay, warum der Staat nichts gewinnt, wenn er seine Aufgaben stetig ausweitet. Im Gegenteil: Er übernimmt sich. "Das politische System ist heute der Schuttabladeplatz für alle Probleme der modernen Gesellschaft. Dadurch wird die Politik genauso überfordert wie durch die traditionelle Vorstellung, sie könne die Einheit der Sozialordnung darstellen. Ein starker Staat darf das eine so wenig akzeptieren wie das andere versprechen. Der Staat schwächt sich, wenn er seine Funktionen ausweitet. Selbstbegrenzung ist das Geheimnis der Kraft."

Weitere Artikel: Die Fotografin Herlinde Koelbl, berühmt für ihre Porträts bekannter und unbekannter Zeitgenossen, spricht im Interview über Masken in der Politik und ihr Buch "Spuren der Macht", für das sie unter anderem Angela Merkel und Gerhard Schröder über einen längeren Zeitraum hinweg fotografierte. "Stiftet euren Sinn woanders!" fordert Dirk Knipphals in einem Plädoyer für den Erhalt der schönen Leere auf dem Berliner Schlossplatz. Außerdem liefert er die erste Folge eines größer angelegten Praxistests der neu bearbeiteten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon. Im Gespräch mit Maurice Summen plaudert der Autor und Sänger der Band Element of Crime Sven Regener über David Bowie, das alte Westberlin und das neue Album "Am Ende denk ich immer nur an dich". Christina Nord berichtet über den Endspurt in Venedig und die beiden Wettbewerbsbeiträge von Werner Herzog, darunter ein frivoles Remake von "Bad Lieutenant". Andreas Fanizadeh empfiehlt zur lückenlosen RAF-Aufarbeitung die Lektüre eines frühen taz-Gesprächs mit Stefan Wisniewski von 1997.

Besprochen werden unter anderem "2666", der letzte Roman von Roberto Bolano, der Roman "Juliet, Naked" von Nick Hornby, eine Art Remix seines Frühwerks, und eine Biografie der im 18. Jahrhundert die Welt bereisenden Elizabeth Marsh (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Hier Tom.

SZ, 12.09.2009

Julia Amalia Heyer porträtiert den Schriftststeller Avraham Burg, einen der schärfsten Kritiker der israelischen Gegenwart. Burgs neues Buch "Hitler besiegen - Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss" erscheint nächste Woche auf Deutsch. "Die These, die der frühere Politiker darin vertritt, könnte grausamer nicht sein: Israel ist ein vom Holocaust-Trauma zerrüttetes, faschistoides Gebilde, das Parallelen zum Vorkriegs-Deutschland der Weimarer Republik aufweist. Der Holocaust, schreibt Burg, habe das absolute Monopol über jeden Aspekt des israelischen Lebens. 'Hitler hat gewonnen' lautete der Arbeitstitel des Buches."

Weitere Artikel: "Provinzposse" nennt Henrik Bork den zweiten Akt des China-Skandals der Frankfurter Buchmesse, die nun zurückrudert, chinesische Dissidenten einlädt und Fehler einräumt. Ira Mazzoni überlegt, wie sich der Schlosspark Wilhelmshöhe in Kassel für die geplante Weltkulturerbe-Bewerbung profilieren soll. Jens Bisky kommentiert die neuen Querelen ums Berliner Stadtschloss - nach die Vegabekammer die Vergabe des Bauauftrags an den Architekten Franco Stella für ungültig erklärte. Susan Vahabzadeh berichtet aus Venedig über Fatih Akin und Regiedebüts von Shirin Neshat und Tom Ford. Franziska Augstein gratuliert dem britischen Verleger Lord Weidenfeld zum 90. Geburtstag. Jens Bisky informiert, dass Jürgen Habermas der Frankfurter Universität sein Archiv überlässt. Jürgen Verdofsky würdigt im Nachruf den verstorbenen Fotografen Roger Melis.

Besprochen werden das mit neuester Tontechnik remasterte Gesamtwerk der Beatles, Konzerte der Berliner Philharmoniker beim Musikfest Berlin, Helmut Kraussers Episoden-Roman über die Nachtseite von Berlin "Einsamkeit und Sex und Mitleid" und die Studie "Das Weltgeheimnis. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels" von Thomas de Padova (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.

In der Wochenendbeilage spricht die Schauspielerin Charlotte Rampling über Erlösung, zu lesen ist außerdem eine Erzählung über eine Rheinfahrt von Sasa Stanisic.

FAZ, 12.09.2009

Abgedruckt sind Fotos von Thomas Demand für sein Ausstellungsprojekt "Nationalgalerie" mit kurzen Texten von Botho Strauß. In der Leitglosse droht Oliver Jungen der Buchmesse an, aus dem Frankfurter Symposium am Samstag auszuziehen, falls chinesische Dissidenten daran gehindert werden, ihre Meinung zu sagen. Jürgen Dollase lässt sich von Christian Bau ("Schloss Berg" ein japanisches Menü servieren. Das Kartellamt hat den Vertrag des Bundesbauministeriums mit dem Architekten Frank Stella über den Aufbau des Berliner Schlosses für nichtig erklärt, berichtet Andreas Kilb. Das Amt will nun in die Revision gehen. Jürgen Habermas überlässt sein Archiv der Frankfurter Goethe-Universität, meldet Jürgen Kaube. Anlässlich des "Tags des offenen Denkmals" fordert Dieter Bartetzko mehr Denkmalschutz. Klaus Ungerer spielt das Videospiel "Infamous". Jordan Mejias berichtet über den neuesten Stand in der Anhörung zum Google Book Settlement: Die Leiterin der amerikanischen Urheberrechtsbehörde Marybeth Peters erklärte vor dem Rechtsausschuss, der angestrebte Vergleich zwischen Google, Verlagen und Autoren würde das Urheberrecht verletzen. Regina Mönch schreibt zum Tod des Fotografen Roger Melis. Für die letzten Seite schickt Lena Bopp eine Reportage über die Arbeiter, die im französischen Chatellerault gegen die Schließung ihres Autozulieferbetriebs protestiert haben.

Besprochen werden Hans-Christian Schmids Film "Sturm" und Bücher, darunter Brigitte Kronauers Roman "Zwei schwarze Jäger" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's unter anderem um die neue CD von BossHoss, Peter Rosens Dokumentarfilm über Leonard Bernstein auf DVD und Aufnahmen von Händel-Arien.

Für Bilder und Zeiten besucht Andreas Platthaus die Comiczeichnerin Ulli Lust. Abgedruckt ist in Auszug aus Craig Venters Autobiografie "Entschlüsselt: Mein Genom, mein Leben" (das beigestellte Foto zeigt Venter als Fliegenden Holländer), das Venter am Steuer seines Boots zeigt). Abgedruckt ist weiter die Dankesrede von Ulrich Weinzierl zur Verleihung des Preises der Frankfurter Anthologie. Jeffrey Eugenides erklärt im Interview, was David Foster Wallaces Roman "Unendlicher Spaß" seiner Schriftstellergeneration bedeutet.