Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
04.11.2002. Im Merkur weiß Richard Rorty, wer der erste Präsident einer Weltregierung werden soll: Joschka Fischer. Die New York Times rühmt ein Buch voll verbotenem Wissen für Kinder. Das TLS verreißt Daniel Goldhagens Buch über die Katholische Kirche und den Holocaust. Der Economist erklärt, warum Einwanderer mehr Geld bringen als sie kosten. Im Nouvel Obs erklärt Imre Kertesz, warum er sich mit Israel nicht solidarisch fühlt. Folio hat gut lachen.

Merkur (Deutschland), 04.11.2002

Diesmal druckt die Zeitschrift für europäisches Denken schön viele Artikel von amerikanischen Autoren nach, die mit Abstand lohnendste Lektüre aber ist Tony Judts Kritik am amerikanischen Unilateralismus. Judt befürchtet, dass die USA sich selbst zum schlimmsten Feind werden, wenn sie ihre Partner nicht besser behandelten. "Macht und Einfluss Amerikas sind zur Zeit sehr fragil, weil sie auf einem einmaligen und unersetzlichen Mythos beruhen: auf der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten für eine bessere Welt stehen und für alle, die nach ihr suchen, noch immer eine wirkliche Hoffnung bedeuten. Die wahre Bedrohung Amerikas - und die Bush-Regierung hat noch nicht einmal angefangen, das zu begreifen - besteht darin, dass dieser Mythos angesichts einer pflichtvergessenen und gleichgültigen Haltung verblassen könnte und dass 'große Teile der Schlüsselgesellschaften sich gegen die USA und die globalen Werte des freien Handels und der freien Gesellschaft wenden könnten', wie Michael Mazarr im Washington Quarterly befürchtete. Das würde das Ende dessen bedeuten, was wir ein halbes Jahrhundert unter dem Westen verstanden haben." (Das Original steht hier)

Weiteres: Richard Rorty und die amerikanische Linke haben eine Lichtgestalt entdeckt: Joschka Fischer und ihn schon zum ersten Präsidenten der Weltregierung gewählt: "Wir hoffen", schreibt Rorty "auf den großen charismatischen Internationalisten, der die EU hinter sich bringt und den USA zu verstehen gibt, dass nicht immer alles nach ihrem Willen läuft." Und natürlich, dass er die Welt rettet. Der Brite Bruce Anderson sieht ein neues russisch-amerikanisches Bündnis sich anbahnen und Europa im diplomatischen Turnier in die zweite Liga absteigen. Die Schuld daran gibt er dem kontinentaleuropäischen Antiamerikanismus (das Original steht hier). Gadi Taub stemmt sich gegen den Postzionismus und die Amerikanisierung Israels. In der Debatte um die Vertreibungen fragt Ulrike Ackermann, ob "angesichts der Kollision nationaler Gedächtnisse ein Vergessen zugunsten der Zukunft" droht, "eine europäische Integration um den Preis der Amnesie". Claus Koch gibt Anleitungen zum "aufgeklärten Katastrophismus". In den Kolumnen verneigt sich Richard Klein vor Bob Dylan.
Archiv: Merkur

New York Review of Books (USA), 21.11.2002

Amerikanische Herausforderungen und revolutionäre Liebe in der New York Review of Books: Felix G. Rohatyn, der schon verschiedene hohe Ämter in New York innehatte, vergleicht die aktuelle finanzielle Krise der Stadt New York mit der großen Krise der frühen siebziger Jahre. Damals wie jetzt habe ein Krieg bevorgestanden, doch heute sei es schwieriger, das Sanierungsprogramm von damals anzuwenden. Ein solches Programm könne allerdings nur auf Zuspruch bei der Bevölkerung stoßen, wenn es die "schmerzlichen Kosten" fair verteile und den Problemen mit "Demut" und "geistiger Offenheit" begegne. Doch "leider können wir keine wirkliche Debatte über diese Fragen erwarten, da eine Mehrheit im Kongress beschlossen hat, dass es wünschenswerter ist, der Regierung in ihrer Forderung nach Kriegsermächtigung schnell zuzustimmen, als die Risiken und Konsequenzen eines Krieges gründlich zu erforschen."

Wie eng Liebe und Revolution miteinander verflochten sind, dafür hat Stephen Kinzer in Gioconda Bellis Autobiografie den erneuten Beweis vorgefunden, und das nicht nur in der Szene, in der sich Belli und Sandinisten-Führer Modesto im vom Diktator verlassenen Bunker unter dem Tisch lieben. Dieses Buch der ehemaligen Sandinisten-Aktivistin "erzählt zwei Geschichten. Eine handelt von einem reichen Mädchen in einem armen Land, das davongetragen wird von politischer und körperlicher Leidenschaft. Die andere handelt davon, was sich hinter der offiziellen Fassade des Sandinistischen Regimes abspielte."

Weitere Artikel: Caroline Fraser bespricht zwei Bücher, die sich mit dem Mountain Meadows Massacre beschäftigen, bei dem am 11. September 1857 120 Mormonen unter noch unklaren Umständen starben. James Chase ist begeistert von Warren Zimmermanns Buch "First Great Triumph: How Five Americans Made Their Country a World Power" über den amerikanischen Imperialismus und dessen fünf herausragende Verteter. Marshall Frady findet im zweiten von zwei Artikeln über Lyndon B. Johnson, dass Robert A. Caro in seiner Johnson-Biografie den "Prospero des Senats" in allzu dramatisches Pathos tunkt, - und doch wartet er gespannt auf die nächste Folge von Caros biografischem Projekt. Und Sanford Schwartz hat die George-Catlin-Ausstellung in der Renwick Gallery in Washington besucht und ärgert sich über Ausstellungsräume, in denen Catlins Werke wie Wandtapeten aussehen.

Nouvel Observateur (Frankreich), 31.10.2002

Der Nouvel Obs bringt Auszüge aus einem sehr persönlichen Text von Imre Kertesz (mehr hier). Darin beschreibt der diesjährige Literaturnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende seinen inneren Konflikt während eines Jerusalembesuchs im April dieses Jahres und erklärt, warum er sich mit den Israelis nicht solidarisch fühlen kann. Kertesz gesteht, dass er sich "fast geschämt habe" seinen Text auch vorzulesen, "die delikaten Probleme der entwurzelten intellektuellen Juden zu offenbaren, ihre Identitätskrisen, ihr Exil. Ich erkannte plötzlich die unerträgliche Ironie meiner Position: als Überlebender der Shoah führe ich einen Diskurs in Israel, das sich im Krieg befindet, indem ich sozusagen erkläre, warum ich mich nicht solidarisch mit einem Volk fühle, dem ich doch auch angehöre. Meine Solidarität besteht im Wesentliche darin, dass ich es wage, ein Flugzeug nach Tel Aviv zu besteigen. (Der ganze Text kann noch in der Zeit nachgelesen werden, wo er im April 2002 auf Deutsch veröffentlicht wurde.)

Geradezu hymnisch gelobt und mit einem berühmten Vorläufer verglichen wird eine neue, auch zeitgenössische Pariser Stadtgeschichte. "L'invention de Paris", geschrieben von dem ehemaligen Chirurgen Eric Hazan (Seuil), erinnere an Louis Sebastien Mercier (mehr hier) und sein "monumentales und zeitloses" Werk "Tableau de Paris" von 1781-1788 (mehr hier und hier).

Pascal Merigeau berichtet von einem feuchtfröhlichen Abend mit Aki Kaurismäki, dessen neuer Film "Der Mann ohne Vergangenheit", der im Frühjahr in Cannes lief, nun in die Kinos kommt. (deutscher Start: 14. November)

Outlook India (Indien), 11.11.2002

Im Interview spricht der diesjährige Booker-Prize-Träger Yann Martel (mehr hier), dessen Gewinnerroman zum Teil in Indien spielt und einen Helden hat, der zugleich Christ, Moslem und Hindu ist, über Indien: "I have always loved India. It's a wonderful, horrible place. India is all lives in one place, India is all emotions in one place, it's an extraordinary, dazzling place, it's all the wonder and horror of life. There are stories that can be told only in India." Außerdem zum Thema Literatur: In einer Umfrage antworten Prominente (von Premier Vajpayee bis zur Bollywood-Choreografin Farah Khan) auf die Frage, welches Buch sie zu Diwali, dem indischen Fest des Lichts, verschenken würden. Die Antworten reich von Harry Potter über Werke von New-Age-Gurus bis zu V.S. Naipaul.

Weitere Artikel: Kommentiert wird der halbherzige Frieden zwischen Indien und Pakistan, während ein anderer Autor die Vermutung äußert, dass der Erfolg der religiösen Kräfte bei den Wahlen in Pakistan negative Auswirkungen auf die Beziehung des Landes zu den USA haben wird. Schon ab dem nächsten Jahr soll in Indien ein neuer, viel versprechender AIDS-Impfstoff getestet werden, und zwar in einer großen Studie, die u.a. von der Bill-Gates-Stiftung, der Rockefeller Foundation, der Weltbank und den USA finanziert wird. Während in Radschastan die Leute verhungern (siehe Bericht von letzter Woche), plagen den indischen Mittelstand, wie die Titelgeschichte demonstriert, ganz andere Probleme: alle wollen dünner werden, Fitnessclubs und Diätkliniken haben enormen Zulauf. Außerdem wird - unter der Überschrift "God's Second Home" - von der Entdeckung einer überaus beeindruckenden, viele Millionen Jahre alten Tropfsteinhöhle in Zentralindien berichtet.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 01.11.2002

Was kosten die Emigranten? Der Economist prüft das nach und beweist, dass eine Aufrechterhaltung der Grenze zwischen Arm und Reich kontraproduktiv ist, denn: "Die Aufhebung dieser Trennung ist der schnellste Weg zum globalen wirtschaftlichen Wachstum." Die Regierungen der reichen Länder sollten daher versuchen, ihre Bevölkerung von den Vorteilen der Einwanderung zu überzeugen, statt Xenophobien und Ressentiments Vorschub zu leisten. Deutlich und kühl argumentiert der Economist dabei auch für eine klare Integration: Etwa "darauf zu bestehen, dass Migranten die lokale Sprache schnell lernen, dass sie sich an die lokalen Standards von Toleranz und gutem Benehmen halten und dass sie Zurückhaltung üben im Einfordern von Sonderrechte in Sachen Kleidung oder religiöser Observanz."

Ebenfalls interessant: ein pessimistischer Artikel darüber, was Russland in Tschetschenien tut und was es tun sollte. Die Tschetschenen seien nach der Geiselnahme in Moskau schlechter dran als zuvor: "Die Tragödie ist, dass keiner, der die Macht hat, ihnen den Frieden schenken will, und dass die, die es wollen, keine Macht haben." Lesenswert ist auch ein Artikel über israelische Siedlungen und, ein Lieblingsthema des Economist, über die Möglichkeit einer europäischen Verfassung: diesmal wird, erstaunlich positiv, der Vorschlag des früheren französischen Präsidenten Giscard d'Estaing vorgestellt.

Im Kulturteil ist ein Nachruf auf den Komponisten von "Lili Marleen" zu lesen; das Lied von Norbert Schultze, der am 14. Oktober im Alter von 91 Jahren starb, ist in 48 Sprachen übersetzt worden, einschließlich ins Hebräische, merkt der Economist an. "Die Worte des damals neunzehnjährigen Hans Leip, die Herr Schultze vor dem Vergessen bewahrte, thematisieren das allgemeingültige und unnationalistische Motiv der Trennung: nämlich die eines Soldaten, der an die Front geht, und seines Mädchens, das auf ihn wartet." Außerdem dürfen wir die Rezension von Terry Teachouts Mencken-Biografie lesen.

Nur im Druck: Artikel über die missglückte Rettungsoperation in Moskau, die Präsidentschaftswahlen in Brasilien, Frauen in der japanischen Politik und das Verhältnis zwischen Jordanien und den USA.
Archiv: Economist

New Yorker (USA), 11.11.2002

In der für den New Yorker typischen Mischung aus ausladend und gründlich schwärmt Adam Gopnik von den "unwiderstehlichen Geschichten" des Schriftstellers Herbert Asbury (mehr hier). Gopnik konzentriert sich dabei auf Asburys 1928 erschienenes "Kultbuch" "The Gangs of New York: An Informal History of the Underworld", das gerade von Martin Scorsese verfilmt wurde (mehr hier). "The real problem with Asbury's chronicles of American low life is not that the wrong things happen but that not much happens at all ... In fact, the most Borgesian thing about Asbury was that he must have lived in a library. The prerequisite for producing several thousand pages on low life over twenty years is the ability to read several thousand pages on low life over twenty years.""

Weitere Artikel: Mark Bowden porträtiert den Football-Trainer Steve Spurrier. Alex Ross begeistert sich für den neuen Musikdirektor von Covent Garden, Antonio Pappano, ("one of the best all-around conductors of opera now working; unless the byzantine management structure makes a victim of him, he ought to have a long and happy reign") und prophezeit dem Haus "neues Leben". Lesen dürfen wir außerdem die Erzählung "Dogology" von T. Coraghessan Boyle.

Besprochen werden der Roman "Child of My Heart" von Alice McDermott, "The Green Hour", der neuer Roman Frederic Tutens ("putting us through two hundred and fifty pages of vacillating, unconsciously arrogant infatuation", schimpft John Updike) sowie die Filme "8 Mile", das Kinodebüt von Rapper Eminem und "Frida" von Julie Taymor.

Nur in der Printausgabe: ein Bericht zum Stand der Wissenschaft in der wichtigen Frage "Warum funktionieren Witze?"; ein Text von Woody Allen mit dem Titel "Caution, Falling Moguls"; eine Reportage, die offenbar irgend etwas mit Hausratsversicherungen o.ä. zu tun hat ("How secure is the value of your home?") und Lyrik von C.K. Williams.
Archiv: New Yorker

Times Literary Supplement (UK), 01.11.2002

Christopher Clark lässt kaum ein gutes Haar an Daniel Jonah Goldhagens "von Verfolgungseifer" getragene Untersuchung zur Katholischen Kirche und dem Holocaust. "Die These dieses seltsamen Buches lässt sich leicht zusammenfassen: Die Katholische Kirche durch die ganze Weltgeschichte hindurch der Anstifter und Hauptsponsor des Antisemitismus gewesen. Der Antisemitismus hat zum Holocaust geführt. Also ist die Katholische Kirche zu einem großen Teil verantwortlich für den Holocaust. Also muss sich die Kirche so umfassend wie möglich zu ihrer Verantwortung bekennen und den Juden eine Wiedergutmachung zukommen lassen." Zwar liefere Golhagen unabstreitbare Tatsachen, was das Verhalten der Katholischen Kirche während des Holocausts angeht. Doch vor allem liefere er hier eine "stark teleologische Erzählung, in der das gehörnte Biest des Antisemitismus, im Wesentlichen unverändert, durch die Jahrhunderte kriecht, bis zur Vollziehung im Januar 1933".

Nicholas Hytner, der Shakespeares "Henry V" am National Theatre in London inszenieren wird, erklärt, warum er gerade dieses Stück zu genau diesem Zeitpunkt gewählt hat: "Das Stück handelt vom Überfall auf Frankreich, von der Schlacht von Agincourt und von der Vortrefflichkeit des Königs, der im Epilog 'Englands Stern' genannt wird. Es ist ein patriotisches Epos. Zu den Gründen, es jetzt aufzuführen, zählt, wie verschieden seine Welt von der heutigen ist, aber auch wie ähnlich."

Weitere Artikel: Julian Bell sieht in Sarah MacDougalls materialreichen Biografie des Malers Mark Gertler die Wiederaufnahme einer moralischen Lesart, die mit Gertlers außergewöhnlichen Sinnlichkeit schlecht umgehen kann. Außerdem stellt Zachary Leader Donna Tartts Roman "Little Friend" unter anderem in die Tradition von Stevensons "Schatzsuche". Mit dem Ende jedoch ist er alles andere als zufrieden.

Nur im Print zu lesen sind unter anderem Jules Lubbocks "The Struggle for Modernism", Keith M. Browns "Stone Voices - The search for Scotland" und Paul Farleys "Winter Games".

Spiegel (Deutschland), 04.11.2002

In der Titelgeschichte ("ausgespielt"), die wie immer nicht umsonst zu haben ist, geht der Spiegel der FDP an den Kragen - und das Bild aus den vergangenen Tagen einer Männerfreundschaft auf der Titelseite zeigt schon die Richtung des Ganzen: Westerwelle, hier noch in trauter Zweisamkeit mit Möllemann, wird präsentiert als "Parteichef auf Abruf".

Der unauffällige Herr Bauer will sich die zentralen Teile der Insolvenzhinterlassenschaft von Herrn Kirch einverleiben, mit dem er wenigstens das gemeinsam hat, dass man kaum etwas weiß über ihn. "Dennoch hatte Bauer außerhalb der Medienbranche bislang kein schlechtes Image - er hatte gar keines", heißt es im Porträt der Person und der Firma, das ihn als Medienmogul und Milliardär ohne Allüren vorstellt, der das Taxi der privaten Limousine vorzieht, und als strengen Protestanten ohne Skrupel, wenn es um die Sexpostillen des eigenen Hauses geht. Die Branche nimmt die bevorstehende Übernahme dennoch eher wohlwollend hin: "'Mit dieser Lösung kann man sehr gut leben', sagt etwa der Kölner Medienexperte Lutz Hachmeister. Auch der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma spricht 'von einer ganz vernünftigen Entwicklung - immerhin hat Bauer immer bewiesen, dass er rechnen kann.'" Dieser letztere Aspekt ist es allerdings, der die Mitarbeiter der Sender mehr als nur ein wenig besorgt stimmt.

Immer ein dankbares Thema: Beerdigungsriten. "Oma kam mit der Post" lautet der schöne erste Satz eines Artikels, der auf eine geplante Lockerung der Begräbnisvorschriften in Nordrhein-Westfalen aufmerksam macht. In Zukunft soll der Friedhofszwang, den es in anderen Ländern der EU lange schon nicht mehr gibt, abgeschafft werden. Oma kann dann auch im Vorgarten begraben (beziehungsweise ihre Asche auf dem Rasen verstreut) werden.

Weitere Online-Artikel: Nach Pisa folgt nun in einer Studie der OECD der nächste Tiefschlag fürs deutsche Bildungssystem: Kindergarten und Grundschule werden katastrophal vernachlässigt: Die Klassen sind zu groß, die Ausgaben des Staats sind, im Vergleich zu den erfolgreichen Pisa-Nationen, weit unterdurchschnittlich. Die Folgen glauben Sprachpfleger (Website) im Niedergang des Deutschen beobachten zu können. Erst hat sich der Apostroph da breit gemacht, wo er nur im Englischen hingehört, beim Genitiv nämlich, zum Ausgleich verschwindet nun der Bindestrich. Von der "AOL Arena" bis zur "Kultusminister Konferenz" (auf deren eigener Website!) nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Besprochen wird außerdem, nicht sehr freundlich, Fatih Akins Film "Solino" (mehr hier).

Nur im Print gibt's unter anderem: Einen Abgesang auf den FC Bayern München, ein Porträt der "mächtigsten Frau Deutschlands": Angela Merkel, einen Essay der Jungschriftstellerin Juli Zeh über die "Konsum-Askese" deutscher Studenten und das Neueste über die "FAZ" und die "Süddeutsche".
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 03.11.2002

Dieses Buch wird eine Menge Leser haben, und alle werden glauben, es sei speziell für sie geschrieben worden, prophezeit A. O. Scott "The little Friend", dem neuen Roman von Donna Tartt. Scott entdeckt in Tartts 12-jähriger, altkluger und unsentimentaler Heldin Harriet Dufresne, die sich auf die Suche nach den Mördern ihres Bruders macht, etwas von Faulkners Caddy oder Louise Fitzhughs kindlicher Dektetivin "Harriet the spy". "Ein Buch, dass sich sich neugierige junge Leser von dem Bücherregal ihrer Eltern herunterpflücken und mit innigem Eifer verschlingen werden, angezogen von einer Autorin, die ihre Gedanken zu lesen scheint und ihnen die süß-sauren Früchte exotischen, verbotenen Wissens schenkt", rühmt Scott. (Hier das erste Kapitel)

Nach der Lektüre von zwei vorzüglichen Studien über Pakistan (von Owen Bennett Jones und Mary Ann Weaver) ist sich Robert D. Kaplan bewusst geworden, wie kurz das zerrüttete Land vor einer Explosion steht - vielleicht einer atomaren. Und wie gefährdet Präsident Musharraf ist, vielleicht noch mehr als im Oktober 1999 Pakistans letzter demokratisch gewählter Präsident Nawas Sharif, der einen theokratischen Gottesstaat unter dem Deckmantel der Demokratie errichten wollte und "einem zivilen Flugzeug voller Schüler die Landung verweigerte, um einen der Passagiere zu töten. Der Passagier war Generalstabschef Musharraf, dessen Offiziere Sharif aus dem Amt entfernten, buchstäblich Minuten, bevor dem Flugzeug das Benzin ausgegangen wäre."

Weitere Artikel: Im Close Reader zerpflückt Judith Shulevitz die religiöse Spurensuche von Norman Podhoretz (mehr hier), der die Exegese des Alten Testaments für christlich dominiert und damit falsch hält und zu den wahren Aussagen der Propheten des jüdischen Volkes vorstoßen möchte. Wendy Lesser hält Scott Turrows Thriller "Reversible Errors" (hier das erste Kapitel) für ein Buch, über das man noch wochenlang nachdenken kann. Evan Thomas ist erstaunt, wie lebendig und verstörend zugleich ein Bericht über das Versagen der US-Regierung im Vorfeld von 9/11 sein kann ("The Age of Sacred Terror" von Daniel Benjamin und Steven Simon). John Sutherland hat Mike Davis' "Dead Cities", eine apokalyptische Visionen über die Zerstörung der Städte und den Niedergang unserer urbanen Kultur gelesen und viel Wahres entdeckt, aber es ist wie immer: "Cassandra klagt umsonst."
Archiv: New York Times

London Review of Books (UK), 31.10.2002

Besonders lesenswert ist in dieser Ausgabe die Antwort von Richard Rorty (homepage) auf Bernard Williams (mehr hier und hier) Buch "Truth and Truthfulness: An Essay in Genealogy". Der erste, philosophische Teil des Buches, in dem, wie sich Rorty ausdrückt, "mein eigener Ochse aufgespießt wird", hat ihn natürlich nicht überzeugen können. Umso mehr lobt er den zweiten, mehr historischen Teil. Dieser "zeigt Williams große Stärke, - nämlich nicht mit anderen Philosophen zu streiten, sondern, wie Isaiah Berlin, uns die Wandlungen unseres Selbstbildes verstehen zu lernen, die unsere heutigen Institutionen, Intuitionen und Probleme geschaffen haben." Am Ende stimmt der Amerikaner Rorty dem Lob des Briten in feiner Ironie zu: Er sei in der Tat 'der größte lebende Philosoph Englands'. "Seit dem Tod von Isaiah Berlin - mit dessen Werk Williams eine große Kontinuität verbindet - ist in diesem Teil der Welt kein Philosoph so sehr und mit mehr Grund von seinen Kollegen bewundert worden als er."

Interessant auch ein Essay von Jeremy Harding, der sich wandelnden Lesarten der Natur, insbesondere des Wals, von "Moby-Dick" bis zur ökofreundlichen "Rettet die Wale"-Kampagne widmet. Die Veränderung hat, so Harding, Paul Keegan sehr schön zusammengefasst in seinem Ausspruch: "Das Bedrohliche der Natur ist ersetzt worden vom Gedanken der bedrohten Natur." Dies ist nachzuvollziehen an mehreren Studien, die Harding sich hier vornimmt.

Schließlich dürfen wir noch Lorraine Dastons Rezension von George Levines Studie "Dying to Know: Scientific Epistemology and Narrative in Victorian England" lesen. Nur im Druck: David Blackburns lobende Besprechung des Buches "Vergangenheitspolitik" von Norbert Frei; dieses Buch ist jetzt in englischer Übersetzung erschienen unter dem Titel "Adenauer's Germany and the Nazi Past: The Politics of Amnesty and Integration".

Express (Frankreich), 31.10.2002

Dominique Lagarde stellt eine Studie des Historiker Benjamin Stora (mehr hier) vor, der die Entwicklung von Algerien und Marokko seit der Unabhängigkeit beider Länder vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass "in beiden Staaten trotz aller Unterschiede Zivilgesellschaften entstanden sind, die sich einerseits nicht mehr durch die herrschende politische Klasse repräsentiert fühlen und andererseits nach mehr Modernität streben". So suchen die jüngeren Generationen nach Alternativen, sei es in "Form eines wachsenden Islamismus, dem Wiedererstarken einer Berber-Bewegung oder einer 'globalisierten' Modernität, die sich auf Menschenrechte und Demokratie stützt".

Dazu lesen Sie ein Interview mit M'hammed Yazid, einer der historischen Figuren des Befreiungskampfes in Algerien. Yazid sieht im Rückblick als Auslöser für die Entscheidung zu sozialistischen Reformen nach der algerischen Unabhängigkeit "eine Anzahl von Militärs, die, statt zu fragen, was aus diesem Land wird, damit beschäftigt waren, wer die Macht in diesem Land ausüben würde". Heute würden die damals geschaffenen Institutionen in Frage gestellt: "Es bräuchte eine klare Vorstellung von der Macht, nicht nur in Worten, sondern auch wie diese konkret aussehen soll."

Weitere Artikel: Besprochen wird der Roman "Dernier Royaume" von Pascal Quignard., der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Der Autor ist kein geringerer als der ehemalige Generalsekretär von Gallimard. Zwölf Jahre in einer Schublade geblieben ist der Roman "Music Hall!" von Gaetan Soucy aus Quebec, bevor er nun endlich auf den Markt kam. Trotzdem "hors norme", schreibt Francois Busnel anerkennend. Einen Auszug lesen Sie hier. Jean-Marc Biais ist begeistert von den komischen, zuweilen angsteinflößenden Kurzgeschichten von Bernard Werber. Sie schauen alle in die Zukunft. Der Autor stellt sich beispielsweise vor, wie eines Tages ein verirrter Meteorit in den Jardin du Luxembourg einschlagen wird. Mitten ins Zentrum des Universums, wie die Franzosen gerne glauben. Mehr Visionäres von Bernard Werber finden Sie hier und einen Auszug lesen Sie hier.
Archiv: Express

Espresso (Italien), 07.11.2002

Wer war Che Guevara ("seine" Website und einige Bilder), bevor er Che Guevara wurde, fragt sich Dante Mantelli und findet die Antwort "In Ches Fußstapfen" von Patrick Symmes. Der ist dem revolutionären Frauenheld, Arzt und Popstar nachgereist, der 1951 eine Reise durch Südamerika angetreten hatte, die ihn bis nach Feuerland führte. "Mit 23 Jahren fährt er los, a la Easy Rider, ausgerüstet mit einem Grill (er war Argentinier), einer Dose Fisch, Medikamenten und einer Pistole. Er führte ein Tagebuch, in der die gleiche Begeisterung pulsiert, die man in den Notizen von Charles Darwin, Bruce Chatwin oder den Abenteuer von Butch Cassidy und Sundance Kid in den gleichen Breitengraden spürt." Was sich seitdem auf Kuba alles geändert hat, erfahren wir von Gianni Perrelli, der aus Havanna über die neue Amerikafreundlichkeit Fidel Castros berichtet.

Die USA erwarten sich nichts Gutes von der Zukunft und blicken in die Vergangenheit: Ganz Amerika sehnt sich zurück in das Viktorianische Zeitalter, konstatiert Alessandro Cassin und belegt diesen Trend mit einer Fülle von Beispielen aus Mode, Film und Literatur - und dem wirklichen Leben. "Das viktorianische Revivial räumt auf mit dem Vorurteil einer repressiven und prüden Epoche. Wie Michel Foucault und Peter Gay erklärt haben, war die Sexualität der königlichen Untertanen zwar kodifiziert, aber vielleicht waren sie in diesen Dingen freier als wir heute. Die amerikanische Gesellschaft verfällt einer Zeit, die ihr wie eine Oase der Ordnung, Freiheit und des Genusses vorkommt."

Besprochen werden der Trickfilm Ghost World von Terry Zwigoff, "Dolls", das jüngste und wunderschöne Werk des unsterblichen Takeshi Kitano (hier mehr auf Deutsch und hier besser auf Französisch), der vielgelobte "Pianist" von Roman Polanski und eine Foto-Ausstellung in Venedig über die indische Chemie-Katastrophe in Bhopal.
Archiv: Espresso

Folio (Schweiz), 04.11.2002

Hahaha!! Während die deutsche Zeitungswelt in der Krise steckt, hat die Schweiz gut lachen. Denn Humor lautet das Thema (Editorial), über das sich die Geister diesmal scheiden, und es wird reichlich spannender und sogar erheiternder Lesestoff geboten!

Und da zuviel Theorie dem Humor nur schaden kann, hat die Redaktion ein kleines Experiment durchgeführt: ein Humorexperiment. Fünf Humoristen bringen sich reihum zum Lachen - oder versuchen es. Dabei weiß der jeweilige Leser natürlich nicht, wessen Text ihm da vorgesetzt wird... Und so findet Sissi Perlinger dieses Experiment zwar wunderbar, Thomas Maurer allerdings "larmoyant" und "verquast", Peach Weber kritisiert lieber die Humorkritik als Sissi Perlinger, Joachim Rittmeyer findet, dass Peach Weber "Zwerchfallstudien" betreibt, anstatt es ordentlich zu kitzeln, Wolfgang Bortlik gefällt das Ende von Joachim Rittmeyers Text... ein bisschen, und Thomas Maurer bescheinigt Wolfgang Bortlik "vor Originalitätswollen krampfgeäderte Formulierungen". Ob sie am Ende alle nur über sich selbst lachen können?

Dann vielleicht doch lieber Theorie: Man könnte zum Beispiel die neuesten Einsichten der Humorforschung als Erklärungsmodell für die lachfaulen Humoristen nachreichen. Robert L. Provine, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften, findet Abhandlungen über Komik müßig: " ... die meisten Leute wissen im Grunde nicht, warum sie lachen." Das Lachen sei in erster Linie sozial. Dafür spreche auch der epidemische Charakter des Lachens (es soll schon zu richtiggehenden Lachepidemien gekommen sein), das geschlechterspezifisches Lachverhalten und nicht zuletzt das Kitzeln, dem Provine einen großen Platz einräumt. In der Tat sieht für ihn "die Mutter aller Witze" so aus: "Das vorgetäuschte Kitzeln des Kitzelmonsters in dem unter Menschenkindern so beliebten Ich-krieg-dich-noch-Spiel." Kille-kille-kille!

Dem Gerücht, es gebe einen deutschen Humor, glaubt die Schriftstellerin Herta Müller ("Im Haarknoten wohnt eine Dame") gerne. Doch kommt sie ihm nicht so recht auf die Schliche, wie eine Episode in der Metzgerei bezeugt: "Man kann in einem fremden Land alles schneller und einfacher lernen als den Humor. Weshalb glaubte der Kunde, seine zwei Pärchen Landjäger gegen mich verteidigen zu müssen?" Passend dazu erklärt der Ethnologe Nigel Barley , warum Witze nicht universell verständlich sind.

Weitere Artikel: Ein Besuch der 21. Internationalen Humorkonferenz in Italien hat Andreas Heller gelehrt, dass die Wissenschaft des Humors eine ernste Sache ist. Einen Witz hat er aber retten können ... Gerda Wurzberger versucht herauszufinden, warum es keinen weiblichen Woody Allen gibt und stellt fest, dass Frauen immer bemüht sind, ihren Sarkasmus zu mildern. "Sonst hält man sie schnell einmal für verrückt. Und verrückte Frauen gelten als krank, aber nicht als lustig. Wahnsinnige Frauen kommen in tragischen Opern vor, nicht in komischen." Robert Gernhardt ist geradezu entzückt von einem auf den ersten Blick "sturzbiederen" Gedichtband des Diplomingenieurs Günter Nehm, insbesondere seinem virtuosen Umgang mit dem Schüttelreim. Kostprobe: "Heiser wandeln Säuferkehlen. / Weiser handeln Käuferseelen." Und Peter Haffner berichtet trocken, wie sich das Karussel der Harald-Schmidt-Show um seinen Sonnenkönig dreht.
Archiv: Folio