9punkt - Die Debattenrundschau

Das Volk ist der Maurer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2019. Notre Dame hat gebrannt, aber Notre Dame ist nicht abgebrannt. Erleichterung im Unglück, dass die Struktur und die Türme stehenblieben und ein Wiederaufbau möglich ist. Dennoch: Der Dachstuhl trug nicht nur das Dach, sondern auch französische Identität, schreibt Laurent Joffrin in Libération - sowohl Jeanne d'Arc, als auch Victor Hugo sind mit diesem Ort verbunden.  Außerdem: die EU-Urheberrechtsreform ist durchgewunken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2019 finden Sie hier

Europa

"Notre Drame", titelt Libération heute morgen ein bisschen flapsig. Gestern ist die Kathedrale von Paris in Flammen aufgegangen. Der Dachstuhl aus dem 13. Jahrhundert - dessen Menge an Holz einem Eichenwald von 21 Hektar entsprach - dürfte größtenteils zerstört sein. "Die Struktur und die beiden Türme sind gerettet", berichtet Libé in ihrem Liveblog. Und auch, dass die Staatsanwaltschaft "wegen fahrlässiger Zerstörung durch Feuer" ermittelt: "Die Hypothese eines durch einen Unfall ausgelösten Brandes 'steht in diesem Moment im Fokus der Ermittlungen', sagt eine Quelle aus dem Umfeld."

"Der Sprecher der Pariser Feuerwehr kündigte gegen 3:30 Uhr morgens an, dass das Feuer 'eingedämmt' und 'teilweise gelöscht' sei. Restbrandherde bleiben aktiv", ergänzt das Livreblog von Le Monde um 3.30 Uhr. Le Monde bringt auf dieser Seite auch erste Fotos von heute morgen, 7 Uhr, auf denen das Gebäude äußerlich fast unversehrt aussieht.

In diesem Videoausschnitt des Infosenders BFMTV sieht man auch erste Bilder aus dem Innern des Gebäudes, das ebenfalls auf dem ersten Blick weniger beschädigt erscheint als angenommen.


Auch die SZ bringt bereits ein Bild aus dem Inneren. Besonders beeindruckend auch einige Bilder aus dem Inneren in dieser Daily-Mail-Bilderstrecke mit Agenturfotos.

Während Emmanuel Macron verspricht, die besten Experten für den Wiederaufbau zu holen und die Milliardärsfamilie Pinault bekanntgibt, 100 Millionen Euro bereitzustellen, zitiert Bernard Henri Lévy auf Twitter Victor Hugo: "Die Zeit ist der Architekt, aber das Volk ist der Maurer."

Dieser Dachstuhl trug nicht nur das Dach und den Spitzturm, schreibt Laurent Joffrin in einem ersten Kommentar für Libération, "sondern auch einen guten Teil der französischen identität, Erinnerungen aus der Kindheit und aus Legenden, an Karl VII. und Jeanne d'Arc, an Henrich IV. und Bossuet, an die Revolution und beide Bonapartes, an die Befreiung, Claudel, den Marschall, den General und vor allem, in der Populärkultur, an Quasimodo, Frollo und Esmaralda, die Helden des Romans von Victor Hugo, der den Ruhm des Denkmals noch vermehrte."

Adam Rogers stellt bei Wired zwei Historiker und Fans von Notre Dame vor, die die gesamte Kirche mit Laser vermessen und gescannt haben und auf diese Weise statische Probleme benennen konnten, Andrew Tallon und Robert Mark (beide jüngst verstorben). Ihre Dokumente könnten beim Wiederaufbau helfen. Rogers zitiert auch den Architekturhistoriker Robert Bork, der auf die Schwierigkeit einer Rekonstruktion hinweist: "Die ursprüngliche Handwerkskunst ist nicht wiederherzustellen. Bei einer Restauration wird nicht dasselbe daraus. Es gehen Informationen verloren." Mehr über die Arbeit der beiden Historiker in einem National-Geographic-Artikel von 2015.
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Ideen

Der niederländische Historiker Rutger Bregman glaubt noch an Utopien. Er setzt sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein und plädierte in Davos vor einem erlauchten Publikum für ein Ende der Steuervermeidung. Gehört wurde er dort, weil er, wie er im Interview mit der SZ erklärt, das Grundeinkommen als win-win-Situation beschrieb. Und er besteht darauf, dass die Zeit reif ist für sozialistische Ideen, Rechtspopulisten hin oder her: "Die Spaltung in den europäischen Gesellschaften wird übertrieben dargestellt. Nehmen wir die Niederlande: Es wird viel von dem Rechtspopulisten Geert Wilders geredet, wenn Wahlen sind. Aber er ist tatsächlich eine Randerscheinung. Wir konzentrieren uns zu sehr auf die Schreihälse am Rand und sehen dann nicht die anderen Dinge. Wenn man sich Umfragen aus den Niederlanden aus den Neunzigerjahren anschaut, finden heute viel weniger Leute, dass der Ausländeranteil zu hoch ist. Es ist ein alter Trick, über die Rechte von Transgender-Menschen zu reden statt über die wirklichen Probleme - ein Ablenkungsmanöver."
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Urheberrecht

Die Urheberrechtsreform ist gestern auf einem EU-Gipfel durchgewunken worden, berichtet Eric Bonse in der taz: "Die EU-Staaten haben nun zwei Jahre Zeit für die Umsetzung. Deutschland will dabei einen Sonderweg gehen: Laut einer Protokollerklärung, die das deutsche 'Ja' erläutert, sollen Uploadfilter 'weitgehend unnötig' gemacht werden. Außerdem soll es Ausnahmen für Start-ups geben. Der deutsche Spitzenkandidat für die Europawahl, Manfred Weber, der für die Europäische Volkspartei antritt, stellte weitere Änderungen in Aussicht."

Manchmal kann man sich aber auch fragen, ob die Debatte um die Uploadfilter nur ein Paravent war, um die anderen Reformen möglichst widerstandslos durchflutschen zu lassen. Besonders deutlich meldet sich jetzt der Verleger-Ausschuss des Börsenvereins zu Wort, der wieder einen Anteil an den Ausschüttungen der VG Wort haben will - sämtliche Gerichte in Deutschland und Europa hatten die Betiligung der Verleger als rechtswidrig erklärt, bevor sie dann im neuen Gesetzentwurf für das EU-Urheberrecht exhumiert wurde. Nadja Kneissler, Sprecherin des Ausschusses, sagt im Börsenblatt: "Weder kann die Verwertungsgesellschaft Wort noch weitere zwei Jahre auf eine rechtssichere gemeinsame Rechtewahrnehmung warten, noch können die Verlage weiterhin auf ihren fairen Anteil  für die Nutzung der von ihnen verlegten Werke verzichten. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die vom europäischen Gesetzgeber vorgenommene Korrektur in Bezug auf die Verlegerbeteiligung losgelöst von der Umsetzung anderer Vorschriften der Richtlinie unverzüglich vorzunehmen."

"Netzaktivisten befürchten inzwischen, dass ähnliche Uploadfilter durch eine EU-Verordnung gegen Terrorpropaganda bald auch aus anderen Gründen eingesetzt werden könnten", melden Markus Reuter und Alexander Fanta auf Netzpolitik und verweisen auf einen etwas älteren Artikel Markus Beckedahls zum Thema: "Ein Problem, vor dem wir schon lange warnen, sind unklare Definitionen, was Terrorismus-Propaganda ist. Bei Enthauptungsvideos des IS mag das noch offensichtlich sein, bei Klimaprotesten wie im Hambacher Wald ist das aber schon umstritten. Solche Debatten um die Bewertung, was Terrorismus ist, machen deutlich, dass hier schnell auch demokratischer Protest betroffen sein könnte, insbesondere wenn dieser Taktiken des zivilen Ungehorsams anwendet. Und dann gelten die EU-Regeln auch für immer autoritärer werdende Staaten wie Ungarn, wo es sicherlich auch unterschiedliche Interpretationen zwischen Sicherheitsbehörden und Opposition gibt, wer denn jetzt wieso ein Terrorist sein könnte."
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Gesellschaft

Große Verunsicherung bei den katholischen Geistlichen, die im Erzbistum Köln zu einem Präventionskurs verpflichtet werden, bevor sie mit Kindern arbeiten dürfen, berichten Tim Niendorf und Tobias Schrörs. Darf man denn ein Kind, das seine Mutter verloren hat, noch tröstend in die Arme nehmen? "Einer steht da mit gesenktem Kopf, sagt, der Missbrauch gehe ihm in den Körper, in die Seele. Ein anderer sagt: Priester und Missbrauch, das habe er sich nicht vorstellen können. Und nun? Wie umgehen mit Kindern auf Jugendfahrten? Darf man einem Messdiener noch durch die Haare wuscheln? Keine leichten Fragen, die gestellt werden. Sie stehen im Kontrast zu einer extremen Aussage, die nach den Worten eines Referenten in einem anderen Kurs gefallen ist. Da habe einer gesagt: Na ja. Wenn ein Mann ein Mädchen auf dem Schoß hat und dann Lust verspürt, ist das ja nicht so schlimm, solange das Mädchen nichts merkt."
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Stichwörter: Sexueller Missbrauch

Internet

Im Aufmacher auf der ersten Seite der NZZ erklärt Thomas Fuster, wie klimaschädlich massenhaftes Video-Streaming wirklich ist: Diese verhältnismäßig neue Form der Internetnutzung treibt die Energiebilanz des Internet massiv nach oben - und entsprechend auch die Emissionen. "Der Anteil der ICT-Branche an den weltweiten Treibhausgasemissionen wird auf 3,7 Prozent geschätzt; das ist fast doppelt so viel wie der Beitrag der zivilen Luftfahrt (2 Prozent) und knapp die Hälfte des Schadstoffausstosses aller Personenfahrzeuge und Motorräder (8 Prozent). Sorgen macht den Studienautoren vor allem die rasche Zunahme des digitalen Energieverbrauchs um zirka 9 Prozent pro Jahr. Setzt sich dieser Trend fort und steigt das Datenvolumen im Internet weiterhin um rund 30 Prozent pro Jahr, wäre die ICT-Branche schon 2025 für 8 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich."
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Stichwörter: Streaming