9punkt - Die Debattenrundschau

Pharmakologische Stimulation

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2019. Politico.eu macht auf ein Jubiläum aufmerksam, das fast unbemerkt verstreicht: Vor zwanzig Jahren übergab Boris Jelzin die Schlüssel an einen unbekannten Geheimdienst-Apparatschik. Die taz bilanziert das Jahr 2019 als ein Jahr des weltweiten Aufbegehrens gegen Diktatur. Nicht die Konservativen haben die Wahl in Britannien gewonnen - sondern Labour hat sie verloren, schreibt Will Hutton im Observer. Die FAZ hat herausgefunden: CO2 kann das Klima verbessern. Es muss allerdings aus der richtigen Flasche kommen. Und der Perlentaucher dankt seinen LeserInnen, dass sie ihm trotz der misslichen Weltlage treu bleiben - Mögen die Zwanziger golden werden!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.12.2019 finden Sie hier

Europa

Der langjährige Russland-Korrespondent Marc Bennetts macht in politico.eu auf ein Jubiläum aufmerksam, das fast unbemerkt verstreicht: Vor zwanzig Jahre übergab Boris Jelzin einem unbekannten Geheimdienst-Apparatschik die Macht: "Staatliche Feiern von Wladimir Putins Aufstieg zur Präsidentschaft fallen sehr diskret aus. Staatsmedien haben die zwanzig Jahre, seit Jelzins Schlüsselübergabe kaum erwähnt. Konstantin Gaaze, politischer Analytiker beim Carnegie Moscow Center, nimmt an, dass Putin die Erinnerungen an die Art und Weise, wie er Präsident wurde, unbehaglich sind. 'Am 31. Dezember 1999 war Putin ein bloßes Produkt von Jelzins Willen. Das möchte er gern vergessen.' Gaaze meint auch, dass der Kreml die Russen ungern daran erinnert, wie lange Putin schon an der Macht ist, vor allem, falls er vorhat, seine Herrschaft über 2024 auszdehnen, wenn seine letzte Amtszeit abläuft."

Die Konservativen haben den Wahlkampf in Britannien nicht gewonnen, die Linke hat ihn verloren, meint Will Hutton im Observer. "Und sie hat ihn verloren, weil sie eine tödliche, spaltende Schwäche hat. Das Fehlen jeglicher Übereinkunft darüber, was es bedeuten könnte und sollte, eine liberale Linke zu sein, hat ein Sektierertum erschaffen, das alles verzehrt, wobei sich die linke Linke als Hüterin der 'sozialistischen' Flamme definiert und alle anderen als verräterische 'Neoliberale'. Der Begriff 'neoliberal' ist zu einem Sammelbegriff geworden, um Verachtung für jede politische Position oder politische Figur auszudrücken, von der die Linke meint, dass sie vom wahren 'Sozialismus' abweicht, der wiederum auf der Unterordnung des Kapitalismus unter den Staat und nicht auf seiner Reform beruhen muss. Dies gleicht der Rechten, die den Begriff 'marxistisch' benutzt, um jede Abweichung von den Prinzipien des ultra-freien Marktes zu beschreiben. Ist es marxistisch, wenn der Staat eine Eisenbahn oder das nationale Netz besitzt? Ist es 'neoliberal' zu glauben, dass einige Ziele auch ohne Staatseigentum erreicht werden können? Es ist eine Verschwörung von beiden Seiten gegen Beweise, Gedanken und Praxis. Aber auf der linken Seite schufen die entfachten Leidenschaften einen endlosen Sektenkrieg."

In der SZ erinnert Norbert Frei noch einmal an die Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. So wie damals könnte man diese Rede heute nicht mehr halten, meint er: "Wir können des Kriegsendes nicht mehr 'unter uns' gedenken, denn das 'Wir', das Richard von Weizsäcker im Sinn hatte," - laut Frei meinte er damit vor allem die Generationen, die das Dritte Reich mehrheitlich unterstützt hatten - "ist so nicht mehr existent. Aber wir müssen es auch nicht, solange wir wissen, dass es nicht darum gehen darf, Verantwortlichkeiten zu verwischen. Worum es gehen sollte, wäre eine transnationale Erzählung: ein neues Narrativ, das uns Europäern zu zeigen vermag, wie eng Traumata und Neuanfang 1945 in allen aus dem Krieg entlassenen Gesellschaften und Gruppen beieinanderlagen."
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Religion

Serap Güler, Integrations-Staatssekretärin in NRW (CDU), will kein Kopftuchverbot für unter 14-jährige Mädchen an Schulen mehr durchsetzen, da sie ihm juristisch keine Chancen einräumt, berichtet Hella Camargo bei hpd.de. Das mag auch am Status von Religion in dem Bundesland liegen: "Während religiöse Symbole auf Kinderköpfen heiß diskutiert werden, stellt sich die Frage von Religionsfreiheit im Kopf gar nicht erst. Die NRW-Verfassung sieht im dritten Abschnitt, der Schule, Kunst und Wissenschaft, Sport, Religion und Religionsgemeinschaften gewidmet ist, in Artikel 7 (1) vor, dass die Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, vornehmstes Ziel der Erziehung sei. Kein Wunder also, wenn Kinder und Jugendliche religiöse Symbole freiwillig tragen. Werden sie doch mit voller Absicht durch Eltern und Religionsunterricht dazu gebracht, Religion ernst zu nehmen."
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Politik

Von Chile, über Venezuela bis Hongkong, von Algerien über Sudan, bis Libanon, Iran und Irak. 2019 war das Jahr der Proteste der Bevölkerungen gegen ihre Regimes. Die taz bringt dazu ein Dossier. Es sind gerade Länder mit Unterdrückungs- und Gewaltgeschichte, in denen die Proteste am intensivsten war, schreibt Dominic Johnson: "Man könnte meinen, dass verbreitete, oft traumatische Gewalterinnerung die Menschen ängstlich und vorsichtig macht. Aber die Kinder einer vergangenen Ära der Gewalt erweisen sich jetzt als besonders unerschrocken. Oftmals ist ihr Protest ein bewusster Bruch mit der eigenen Familie, mit den schlechten Erfahrungen ihrer Eltern, die sie nicht selbst wiederholen und erleben wollen. Sie wollen etwas verändern, und als erste Generation können sie sich über soziale Netzwerke ständig und direkt gegenseitig mobilisieren und Mut zusprechen." Dann gäbe es doch ein gutes Haar an den sozialen Netzwerken?
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Gesellschaft

Die Deutschen sind die "größten Sektkonsumenten des Planeten", aber oje, sie trinken bevorzugt billigen Sekt für weniger als vier Euro pro Flasche, bedauert Jakob Strobel y Serra in der FAZ und setzt an zu einer kleinen Geschichte des Schaumweins. Dabei gibt es außer Champagner inzwischen erstklassigen deutschen Winzersekt. Davon mal abgesehen, spricht aber generell für den Schaumwein, dass "die anregende Wirkung der Kohlensäure kein Mythos, sondern ebenfalls wissenschaftlich erwiesen [ist]. Sie lässt die pharmakologische Stimulation des Alkohols schneller auf den Körper wirken und führt so zu einer umgehenden Stimmungsaufhellung. Wissenschaftlich ungeklärt ist hingegen die Frage, ob Schaumwein ein Aphrodisiakum ist. 'Kluge Liebespaare trinken nie Champagner', befand Gustave Flaubert, während der große Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin befand: 'Beim Bordeaux bedenkt, beim Burgunder bespricht, beim Champagner begeht man Torheiten.' Auf ein Neues", rufen wir mit Strobel y Serra.

FAZ-Autor Niklas Maak wittert in der Debatte um die Silvesterböller nur eine weitere müde Stellvertreterdebatte: "Politiker, die wegen des Tierwohls gegen Böllerei sind, könnten vielleicht auch etwas nachdrücklicher gegen die Bedingungen der Massentierhaltung vorgehen - gegen eine Fleischindustrie, die den Preis eines ganzen Kalbs unter den Preis eines Steaks im Restaurant sinken lässt, nämlich auf unfassbare 8,49 Euro (F.A.Z. vom 9. November), gegen das millionenfache Schreddern männlicher Küken in der Legehennenzucht. ... Selbst das von einem grünen Ministerpräsidenten regierte Baden-Württemberg hat sein Ziel beim Bau von Windrädern krachend verfehlt: in diesem Jahr gingen ganze zwei neue Anlagen in Betrieb. Stattdessen jetzt zur CO2-Senkung Autos zu verlangsamen und Böller verbieten zu wollen könnte man auch als klassisches publikumswirksames Ablenkungstheater bezeichnen: Wie immer, wenn es bei den wirklichen politischen Lösungen hakt, weicht man auf symbolische Ersatzdebatten aus."

Das Thema Sexkaufverbot spaltet den Feminismus wie sonst nur das Thema Kopftuch. Gegen Forderungen, Prostitution durch Bestrafung von Freiern nach schwedischem Vorbild zu behindern, die jüngst von zwei Frauen in der taz erhoben wurden (unsere Resümees), wendet taz-Redakteurin Patricia Hecht ein: "Für einen großen Teil der Frauen ist Sexarbeit dabei zumindest eines: eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, wo ihnen andere Möglichkeiten zum Beispiel aus sprachlichen Gründen oder wegen fehlender Bildungsabschlüsse nicht zur Verfügung stehen. Dass die Arbeit belastend sein kann, steht außer Frage - aber das kann für einen Job in der Pflege oder auf dem Bau genauso gelten. 'Freiwilligkeit' ist ohnehin eine schwierige Kategorie: Wer fragt schon eine Putzfrau, ob sie die siebte Nachtschicht die Woche freiwillig macht?"
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