9punkt - Die Debattenrundschau

Bitte vier Stunden vor Abflug

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2021. Auf ZeitOnline fordert die Philosophin Olga Shparaga die EU auf, mit Alexander Lukaschenko nicht nur über die Lage an den Grenze zu reden, sondern auch über die Lage in seinen Gefängnissen. Die taz erinnert daran, dass die Frauenquote nicht dem politischen Fortkommen von Männern dienen soll. Im Spiegel pocht Max Czollek darauf, auch ohne amtliche Besiegelung Jude zu sein. Die SZ möchte den Berliner Flughafen bitte abgerissen sehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.11.2021 finden Sie hier

Politik

Im Interview mit Elsabeth von Thadden auf ZeitOnline bedauert die belarussische Philosophin Olga Shparaga, dass sich Angela Merkel auf ein Telefonat mit Alexander Lukaschenko eingelassen hat. Um die Lage der Flüchtlinge an der Grenze zu lindern, hätte die EU eher Belarus mit weiteren Sanktionen belegen sollen: "Auf diesen Anruf hat Lukaschenko gewartet. Er wollte den Dialog mit der EU erzwingen, nun hat er diese Anerkennung bekommen. Er will sich von seiner besten Seite zeigen und vorführen, dass er in der von ihm selbst organisierten Migrationskrise an der Seite der EU steht und sie im Gespräch gemeinsam lösen will. Über die Lage der Opposition und der Gefangenen im eigenen Land, über gefälschte Wahlen und Menschenrechte will er nicht reden. Aber diese beiden Fragen dürfen nicht voneinander getrennt werden... Beide Gruppen bestehen aus Menschen, deren Schicksale in der Hand eines Mannes liegen, der sie foltert und über ihr Leben entscheidet. Deshalb muss, wenn nun gesprochen wird, über beide Probleme zugleich diskutiert werden."

Christian Jakob und Kateryna Kovalenko schicken der taz einen bedrückenden Report aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet, wo Freiwillige den Flüchtlingengegen Hunger und Kälte helfen, während Warschau das Militär aufmarschieren lässt: "Seit dem vergangenen Montag kann man in Polen von allen Postfilialen im Land umsonst Dankesgrüße an die Einsatzkräfte an der polnisch-belarussischen Grenze verschicken. Die polnische Zentralbank kündigte an, eine eigene Banknote zur 'Verteidigung der Ostgrenze' zu drucken."
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Gesellschaft

Die Quote dient dazu, Frauen bei gleicher Qualifikation zu bevorzugen, nicht das Fortkommen der Herren Feministen zu sichern, stellt Silke Mertins in der taz klar: "So wie manche Frauen unter Emanzipation vorrangig verstehen, für das eigene Weiterkommen zu sorgen und dies als Feminismus zu labeln, nutzen auch Männer die Quote zur Imagepflege. Olaf Scholz etwa hat ein paritätisches Kabinett angekündigt und behauptet von sich, Feminist zu sein. Man darf also gespannt sein, wer die Ministerien für Finanzen, Verteidigung, Inneres und Auswärtiges übernimmt. Jenseits der Quote aber hört man von den Feministen der Spitzenpolitik - zu denen selbstverständlich auch Grünen-Chef Robert Habeck gehört - erstaunlich wenig. Im Wahlkampf wurde ab und zu mal in zwei bis drei Sätzen etwas vom Gender Pay Gap zwischengeschoben, aber ansonsten war nichts Konkretes zu erfahren. Die Feministen glauben, sich mit der Umsetzung der Frauenquote vom übrigen Gedöns befreit zu haben und dabei immer noch als fortschrittlich zu gelten. Das Erstaunliche ist: Auch ein erheblicher Teil der Frauen gibt sich mit der Quote zufrieden. Parität macht den Feminismus übersichtlich, unkompliziert und leicht umsetzbar."

Fast schon war es ruhig geworden in der Debatte um Max Czollek und jüdische Identitäten (unsere Resümees), doch im Spiegel-Interview mit Tobias Becker teilt er wieder ordentlich aus, als ob alle Welt feixend oder mit Popcorn in der Hand seinen Streit mit Maxim Biller verfolgt hätte. Kein Problem sieht er dabei, dass sein Verlag mit dem Satz warb: "Czollek ist dreißig, jüdisch und wütend." Czollek: "Soll ich jetzt vor jeder Veranstaltung und in der Einleitung jedes Buchs einen Disclaimer bringen: 'Übrigens, für religiöse Autoritäten bin ich kein Jude'? Die ganze Debatte zeigt, was eine nichtjüdische Öffentlichkeit mit dem Adjektiv jüdisch verbindet, nämlich den Exoten. Wenn dann klar wird, dass die andere Seite gar nicht so exotisch ist und auch deutsche Verwandte hat, erzeugt das Frustration: 'Oh nein, das Gegenüber ist gar nicht so special.' Spiegel: Sie fühlen sich als Jude? Czollek: Ich bin Jude."

Peter Richter schreibt in der SZ über seine Leidensgeschichte auf dem neuen Berliner Flughafen (eklige Türklinken, kaputte Gepäckbänder) und hat am Ende nur einen Gedanken im Kopf: Abreißen, bitte. Seit der mit neunjähriger Verspätung erfolgten Eröffnung des sieben Milliarden Euro teuren Baus "hatten wir das Superchaos vom Herbstferienbeginn, zweimal Superchaos wegen irrtümlichem Brandalarm, und die Ansage der Lufthansa, bitte vier Stunden vor Abflug auf dem Airport zu sein. Das bedeutet, dass man die meisten Ziele in Deutschland schneller mit dem Auto oder, sofern sie fährt, der Bahn erreicht. Und das wiederum bedeutet, dass Berlin faktisch gar keinen Hauptstadtflughafen hat, weil die größte deutsche Fluggesellschaft in der größten deutschen Stadt weiterhin keine Interkontinentalflüge anbieten mag. Wer wirklich weg will, muss eh umsteigen in Frankfurt, München oder Düsseldorf. Und wer im Gegenzug nach Berlin will, muss überlegen, ob andere Wege da nicht zielführender sind."

Weiteres: Feminismus soll für alle da sein, meint Patricia Hecht in der taz, vor allem auch für Trans-Personen.
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Ideen

Magnus Klaue weiß zu schätzen, wie Pascal Bruckner seit seiner Polemik "Die Tränen des weißen Mannes" gegen Selbstmitleid oder Selbstkritik des Westens anschreibt. Aber dass er in seinem neuen Buch "Ein nahezu perfekter Täter" Frankreichs republikanisches Modell als Rettung gegen den amerikanischen Kommunitarismus setz, behagt Klaue auf ZeitOnline nicht: "Angesichts der Unerbittlichkeit, mit der Bruckner früher das Scheitern des Laizismus in Frankreich analysiert hat, wirkt diese Umkehrung der Inschrift der New Yorker Freiheitsstaue, die Frankreich zum Asyl für Emigranten aus dem amerikanischen Minoritätengefängnis erklärt, sehr idealistisch. Statt in einem kontrapunktischen Vergleich die fetischistische Politisierung der Minderheiten in den USA und Frankreich gegenüberzustellen und damit der Tatsache gerecht zu werden, dass der westliche Universalismus seit jeher geteilt - als amerikanischer und französischer - existiert hat, schlägt sich Bruckner auf die Seite der Französischen Republik. So integer seine Motive dafür sind, so haftet dieser Geste doch etwas Hoffnungsloses an."

In der NZZ findet der Schriftsteller und Klagenfurt-Jurist Philipp Tingler, dass das Moralisieren gesellschaftlicher Fragen zu Schönheit, Reichtum, Gesundheit vor allem dazu dient, das eigene Ungenügen zu kompensieren: "Ich kann moralistisch verurteilen, was mir ökonomisch oder auch intellektuell unerreichbar ist. Zum Beispiel irgendeinen vermeintlichen Prozentsatz der Gesellschaft als 'elitär' etikettieren, wenn ich selbst dessen Konsummöglichkeiten gerne hätte oder den Zugang zu einer exklusiven Bildungseinrichtung nicht geschafft habe."
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