9punkt - Die Debattenrundschau

Die kumulative Dynamik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2021. Auch die NZZ geht jetzt auf die Debatte um A. Dirk Moses ein, dem Claudia Schwartz "dummes Geschwätz" vorwirft. Die Historikerin Ulrike Jureit verwirft in der FAZ gegen Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg die Ableitung des Holocaust aus dem Kolonialismus. hpd.de erzählt, wie Kolonialismus heute weitergeht: durch evangelikale Missionare, die die letzten indigenen Völker bekehren wollen. Die taz analysiert den neuen digitalen Kapitalismus. Und bei Twitter regiert Chiellini.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.07.2021 finden Sie hier

Europa

Bei Twitter regiert Chiellini:



Der schönste Moment war ja ohnehin gegen Spanien:

In diesem Jahr ist die  Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten, in der Staaten sich verpflichten, Gewalt gegen Frauen einzudämmen. Als erstes hat Erdogan nach dem Austritt ein neues Gesetz zum Thema häusliche Gewalt verabschieden lassen, berichtet Rainer Hermann in der FAZ: "Das neue Gesetz schreibt vor, dass konkrete Beweise für eine Tat als Vorbedingung vorliegen müssen, bevor mutmaßliche Täter verhaftet werden könnten. Den Entwurf hatte das Familienministerium vorgelegt. Zuvor hatte Präsident Erdogan einen Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen angekündigt."

Auch Joe Biden musste im Jahr 1987 zugeben, als Jurastudent für eine Hausarbeit abgeschrieben zu haben und scheiterte dann mit seiner Präsidentschaftskandidatur, erinnert Patrick Bahners in der FAZ: "Ins Auge fällt die kumulative Dynamik der Vorwürfe. Der Verdacht, dass der Kandidat Schwierigkeiten mit der Wahrhaftigkeit habe, wird zum Thema durch einen Vorgang, der für sich genommen fast nichtig oder lediglich kurios scheint. Aber wenn schon die eine Nachlässigkeit für Spott der Gegner und stilles Entsetzen der Anhänger sorgt, wird auch jede andere von Interesse sein, und so werden weitere Ungereimtheiten gesucht und gefunden." In der taz analysiert Ulrich Schulte ausführlich den unglücklichen Wahlkampfauftakt der Grünen: "Wie konnte dieses kommunikative Desaster passieren?"

Richard Herzinger ist die Baerbock-Obsession in den Medien verdächtig: "Statt aber die Schlagzeilen mit ziemlich belanglosen Fragen wie der nach den ethischen Grenzen gängiger Copy-and-Paste-Praxis bei der Generierung überflüssiger Politikerbücher zu füllen, sollten wir uns daran erinnern, dass Baerbock unter den zur Wahl stehenden Kanzlerkanidat/inn/en die einzige ist, die sich seit Jahren eindeutig gegen die Putin-Gaspipeline Nord Stream 2 und generell für eine härtere Gangart gegenüber dem Kreml ausspricht - und dass sie deshalb von Anfang an bevorzugt ins Visier der Moskauer Desinformationskriegs-Apparate geraten ist."
Archiv: Europa

Internet

Lieferdienste wie die "Gorillas" oder "Wolt" verkörpern mit ihrer Art der Vereinzelung von Arbeitnehmern und neuen Techniken der Ausbeutung eine neue Art von Kapitalismus, schreibt der Berliner SPD-Politiker Yannik Haan in der taz: "Im digitalen Kapitalismus sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir etwa Amazon: Hier werden die Kund*innen systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft darum, selbst der Markt zu sein. Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über 1 Milliarde Euro bewertet. Entsteht ein neuer Markt, wird dort viel Geld hineingepumpt, damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird."
Archiv: Internet

Ideen

Die deutschen Feuilletons sind auf die Moses-Debatte über einen kolonialen Charakter des Holocaust, der dessen Singularität in Frage stellt, kaum eingestiegen. Recht so, meint in der NZZ Claudia Schwartz, die das für intellektuelle Überlegenheit zu halten scheint. Die Argumente von Moses erscheinen ihr ziemlich heuchlerisch: "Dass aber die Deutschen 'die Vorstellung des Holocaust als einzigartiges Geschehen' pflegen würden, um 'andere historische Verbrechen auszublenden', ist dummes Geschwätz. Oder weist das kolonialhistorische Gedächtnis in anderen europäischen Nationen keine großen weißen Flecken auf? ... Ohnehin vertritt Moses, man darf es so sagen, einen recht kolonialistischen Anspruch gegenüber Deutschland, wenn man bedenkt, dass quasi vor seiner Haustür - er ist an der US-Universität North Carolina tätig - die Arbeit brachliegt: Die USA haben ein akutes Rassismusproblem, und Sklaverei und Massaker an den indigenen Völkern warten bis heute auf eine umfassende Aufarbeitung."

Auch die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit wehrt in der FAZ die Behauptungen postkolonialer Kollegen (sie nennt Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg, aber nicht A. Dirk Moses) ab: "'Ähnlichkeiten' zwischen Kolonialismus und der NS-Expansions- und -Vernichtungspolitik ergeben sich ja bereits zwangsläufig aus den strukturellen Gemeinsamkeiten jeder Fremdherrschaft. Ob diskursiv, funktional oder teilweise auch personell, die Frage ist doch weniger, ob hier 'Ähnlichkeiten' existierten (es wäre ja geradezu dumm, sie zu leugnen), sondern ob der Nationalsozialismus und speziell der Holocaust in seiner Spezifik präzise und hinreichend beschrieben ist, wenn man ihn in erster Linie als 'kolonial' charakterisierte." Für den Holocaust aber sei der koloniale Charakter gerade zu verneinen.
Archiv: Ideen

Medien

In der SZ würdigt Willy Winkler die verstorbene Reporterin Janet Malcolm, indem er an ihre Reportage "Forty-One False Starts" über den Maler David Salle erinnert. 41 Versuche macht sie für ihr Porträt, aber nie schien der Ansatz der richtige zu sein. "Der Maler liegt schätzungsweise eineinhalb Preisklassen über der ihren, ist aber angewiesen darauf, dass er von solchen ärmeren Bewunderern für die reiche Kundschaft hochgeschrieben wird. Malcolms Reportage muss daher wie das Dokument eines monumentalen Scheiterns vor Künstler und Werk wirken und ist doch eine Apotheose, wie sie sich kein Künstler schöner wünschen kann. Nicht zufällig diskutiert die Journalistin mit ihrem Berichtsgegenstand über den 'Untergeher' und die Frage, ob sein Autor, Thomas Bernhard, langweilig sei oder nicht. Ihre Geschichte ist es jedenfalls nicht, obwohl sie annähernd vierzig Schreibmaschinenseiten umfasst, was nur eine Zeitschrift wie der New Yorker verkraftet".
Archiv: Medien

Religion

In postkolonialen Debatten der letzten Zeit wird selten der religiöse Aspekt des Kolonialismus erwähnt (der postkoloniale Autor Achille Mbembe ist schließlich selbst Jesuitenschüler). Er gehört aber bis heute zu den fatalsten und aggressivsten Impulsen des Kolonialismus. Jan-Christian Petersen erzählt bei hpd.de, wie Evangelikale in Brasilien oder Papua-Neuguinea bis heute isolierte Völker missionieren und gefährden: "In Coronazeiten ist die Gefahr besonders groß. Doch Gesetze zum Schutz indigener Völker, die in Isolation leben, werden nur selten von den Evangelikalen respektiert. Laut der brasilianischen Nachrichtenseite O Globo ist es Mitte April 2020 deshalb explizit der 'New Tribes Mission' (Ethnos360), aber auch allen anderen fundamentalistischen Missionar:innen von einem brasilianischen Gericht untersagt worden, indigene Völker zu kontaktieren. Aufhalten tut das die Evangelikalen nicht."
Archiv: Religion