9punkt - Die Debattenrundschau

Die Falschen müssen das Richtige tun

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2024. Die Zeit erzählt, wie in Russland per neuem Bildungsgesetz schon die Allerjüngsten indoktriniert werden. Ebenfalls in der Zeit erklären die polnischen Intellektuellen Karolina Wigura und Jarosław Kuisz, warum "Souveränität" für Polen etwas anderes bedeutet als für Deutschland. Die SZ glaubt, dass man in Ostdeutschland mehr Mut braucht, um gegen die AfD zu protestieren. Vor Nayib Bukele, der jüngst die Grundrechte in El Salvador aushebelte, ist niemand sicher, konstatiert die NZZ. Alfred Grosser ist gestorben, meldet Le Monde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.02.2024 finden Sie hier

Europa

Michael Thumann gibt in der Zeit einen Eindruck davon, wie Putin nach dem Prinzip 'Kriege werden von Lehrern gewonnen' schon die Allerjüngsten indoktriniert. Mit einer Reihe neuer Bildungsgesetze will die Duma sicherstellen, dass die junge Generation die Staatsideologie verinnerlicht: "Bei der Vorstellung in der Duma erklärte der zuständige Vertreter der Putin-Partei, Ziel der Gesetzesänderung sei nicht vorrangig die Wissensvermittlung, sondern die 'Verbreitung von traditionellen geistig-moralischen Werten' und die Erziehung 'im Geiste des Patriotismus, der Liebe zur Arbeit und der Verteidigung des Vaterlands'." Thumann resümiert: "Hier wächst eine neue Generation heran, die keinen anderen russischen Führer als Putin kennt, die in angsterzwungener Anpassung lebt und den Putinismus für die Norm schlechthin hält. Anders als ihre Eltern und Großeltern könnten die meisten dieser Jugendlichen das nahe Europa nie zu Gesicht bekommen. Die räumliche Abschottung durch die geringe Verbreitung russischer Auslandspässe und EU-Visumsregeln wirkt schon heute. Das Bild der Jungen von der Welt wird 'in einem souveränen Informationsraum' geprägt, wie die Putinisten die mediale und geistige Abschottung des Landes nennen.

Ebenfalls in der Zeit unterhalten sich die polnischen Intellektuellen Karolina Wigura und Jarosław Kuisz mit Elisabeth von Thadden über den Begriff der Souveränität, der für Länder in Ostmitteleuropa etwas ganz anderes bedeutet als für Deutschland oder Frankreich, über kollektive Traumata und die leise Hoffnung in europäische Institutionen: Kuisz sagt: "Eine isländische Journalistin hat uns vor Kurzem gefragt, warum die Menschen in Ostmitteleuropa immer so besorgt sind, obwohl ihre Städte pulsieren, ihr Wohlstand beträchtlich ist und ihr Weg aus der Armut so respektgebietend. Unsere Antwort war: Wir wissen, dass all dies von einem Moment auf den anderen hinweggefegt werden kann. Wir trauen der eigenen Wahrnehmung kaum. Sie kann sich jederzeit als Illusion entpuppen: Wir öffnen die Augen, und alles ist verschwunden, was eben noch da war." Wigura ergänzt: "Das ostmitteleuropäische Verständnis der Souveränität hat aber inzwischen von der Ideengeschichte des Westens gelernt. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten wussten, dass Souveränität stärker wird, wenn man sie mit anderen teilt. Dies ist die Hoffnung, die Ostmitteleuropa nun in die europäischen Institutionen tragen kann."

Eine Exmatrikulation des FU-Studenten, der Lahav Shapira (unser Resümee) angriff, ist juristisch nicht möglich, informieren Erik Peter und Uta Schleiermacher in der taz, möglich sei lediglich ein Hausverbot von drei bzw. sechs Monaten. Das hat mit einer Änderung des Hochschulgesetzes durch den Berliner Senat vor drei Jahren zu tun: "Die heutige Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra hatte sich damals als SPD-Abgeordnete ebenfalls für die Abschaffung stark gemacht. Am Mittwoch bekräftigte sie, dass sie Exmatrikulationen aufgrund politischer Meinungen weiterhin ablehne." Die Äußerung der FU zum Vorfall klingen noch immer zögerlich: 'Von der FU selbst hieß es, dass man ein Hausverbot prüfen wolle, "wenn sich bestätigt, dass der Täter Student der Freien Universität Berlin ist'.

Im Tagesspiegel kommen jüdische Studenten zu Wort, die sich nicht erst seit dem Übergriff auf Lahav Shapira unwohl an deutschen Unis fühlen. Esther Belgorodski, Studentin für Europawissenschaften an der Uni Bremen, berichtet, dass sie einmal für die jüdische Campuswoche Plakate aufgehangen hatte. Am nächsten Morgen musste sie "feststellen, dass von 14 Plakaten nur noch zwei hingen. Die anderen waren abgerissen worden. Aktionen wie diese lassen jüdische Studierende wie mich stark an ihrer Daseinsberechtigung zweifeln. Und es sah wirklich nicht so aus, als sei das zufällig passiert. Ein Jahr später habe ich in einem Seminar über Verschwörungstheorien einen Vortrag über den Antisemitismus der deutschen Linken gehalten. Zu Beginn zeigte ich Fotos, die ich damals von den abgerissenen Plakaten gemacht hatte. Daraufhin fragte mich ein Kommilitone, wieso ich denn davon ausginge, dass die Plakate von Linken heruntergerissen worden seien. Ich fragte zurück: 'Gibt es denn irgendwen, der sich hier in diesem Raum und an dieser Uni als rechts bezeichnet?' Ich starrte in 60 verdutzte Gesichter."

Der Politologe Alfred Grosser, über Jahrzehnte eine der wichtigsten Stimmen beim Thema deutsch-französische Beziehungen - und Versöhnung und Freundschaft! - ist im Alter von 99 Jahren gestorben, meldet Le Monde. Den Nachruf in Le Monde hat der einstige Redakteur Daniel Vernet geschrieben, der selbst im Jahr 2018 gestorben ist. "Kaum einer, der sich im letzten halben Jahrhundert für Deutschland interessiert hat, kann von sich behaupten, nicht 'Schüler' von Alfred Grosser gewesen zu sein? Durch seine Vorlesungen und Seminare an Sciences Po und seine zahlreichen Bücher, die er sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch verfasste, hat Alfred Grosser mehrere Generationen von Germanisten, Historikern, Politologen und Journalisten beeinflusst."
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Medien

Um Julian Assange ist es still geworden, auch wenn der Wikileaks-Gründer kurz vor einem wichtigen Gerichtstermin steht, der über seine Auslieferung an die USA entscheidet, was für Assange hundert Jahre Haft bedeuten könnte. In der FR berichtet Uli Kreikebaum von einer Ausstellung am Sitz des Europäischen Parlaments, zu deren Eröffnung Investigativjournalist Günter Wallraff die Freilassung von Assange fordert und ihn mit dem Schriftsteller Émile Zola vergleicht: "'Wegen manipulierter Beweisführung und juristischer Fehlleistungen war Colonel Dreyfus - obwohl unschuldig - der Spionage für das Deutsche Reich für schuldig erklärt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden', so Wallraff. 'Im Fall Assange haben wir das alles und noch mehr: juristische Fehlleistungen, manipulierte Beweise, Psycho-Folter und Anklage wegen Spionage gegen einen Unschuldigen.'" Dreyfus wurde später freigesprochen: "'Bis dahin bedurfte es aber mutiger Einzelpersonen und Gruppen, die sich beharrlich und unerschrocken für Dreyfus und damit für die Gerechtigkeit einsetzten. Genau das müssen wir heute auch wieder tun - es kommt auf jeden einzelnen an -, bis Julian Assange endlich ein freier Mann ist.'"
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Stichwörter: Assange, Julian

Geschichte

In georgischen Tbilissi wurde die Ikone der heiligen Matrona von Moskau, von der Stalin 1941 den Segen zum Sieg über Deutschland erhalten haben soll, mit Farbe besprüht, was auch in Russland für Empörung sorgte, berichtet Konstantin Akinsha in der NZZ. An der Figur, die die russisch-orthodoxen Kirche erst 1993 heiliggesprochen hat, lässt sich das Verhältnis von der Kirche zu Stalin ablesen, meint Akinsha: "Der Kult um die heilige Matrona ist von zentraler Bedeutung, da er zur Verschmelzung zweier Ideologien beiträgt - des orthodoxen Christentums und des militaristischen Kults von Putin um den großen Sieg im 'Vaterländischen' Krieg. Auch heute braucht Russland verzweifelt ein Wunder, um den Sieg über die sogenannten ukrainischen Faschisten zu erringen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheinen Putin und Patriarch Kirill bereit zu sein, in ihren Gebeten den heiligen Stalin anzurufen."
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Gesellschaft

Der Anthropologe Ghassan Hage verbreitet seinen Israelhass seit Langem unverblümt auf Social Media, berichtet Gerald Wagner in der FAZ. Die Max-Planck-Gesellschaft, bei der Hage Gastwissenschaftler ist, sei bisher tatenlos geblieben: "Ursula Rao, die Direktorin der Abteilung, in der Hage Gastwissenschaftler ist, lehnt eine Reaktion auf dessen Äußerungen mit Verweis auf die Leitung der Max-Planck-Gesellschaft in München ab. Diese teilte auf Anfrage mit, sie habe keinen Einfluss darauf, was Ghassan Hage auf seinen persönlichen Social-Media-Accounts poste. Dies unterliege in Deutschland der Meinungsäußerungsfreiheit, soweit keine Strafrechtstatbestände erreicht würden. Die Max-Planck-Gesellschaft teile und unterstütze keine antisemitischen Äußerungen."

In der NZZ zeichnet Birgit Schmid den Fall der Biologin Carole Hooven nach. Diese war 2021 noch Professorin in Harvard, bis sie in einem Interview erklärte, es gäbe nur zwei biologische Geschlechter, Menschen mit anderen Entscheidungen in Bezug auf ihr Geschlecht seien allerdings zu respektieren. Daraufhin wurde sie von den Studenten auf Twitter als transphob bezeichnet und das Arbeiten in Harvard für Hooven unerträglich. "Hooven hoffte, dass sich jemand von verantwortlicher Stelle für sie einsetzte. Nicht, um Hoovens Meinung, sondern die freie Meinungsäußerung zu verteidigen, die eine Elite-Universität auszeichnet. Sie erhoffte sich ein Wort der Dekanin der Faculty of Arts and Science, zu der die Evolutionsbiologie gehört. Dekanin war damals Claudine Gay. Erst später wurde diese zur Harvard-Präsidentin gewählt. Doch von Gay kam nichts. Als es für Carole Hooven nicht mehr auszuhalten war, kündigte sie."

Es braucht mehr Mut in ostdeutschen Klein- und Mittelstädten gegen die AfD auf die Straße zu gehen als in München oder Berlin, meint der Sozialwissenschaftler David Begrich in der SZ. Deshalb brauchen genau diese Menschen vor Ort Unterstützung: "Was jene brauchen, die sich in Ostdeutschland unter nicht gerade einfachen Bedingungen engagieren, ist die gesellschaftliche Sichtbarkeit, deren Licht in den vergangenen Jahren auf die AfD und ihr Umfeld fiel. Gebraucht wird eine Aufmerksamkeitsspanne, die auch dann noch anhält, wenn die schnellen Erfolgsmeldungen in der mühsamen Auseinandersetzung mit der AfD ausbleiben. Die stille Unterstützung aus Berlin oder München für eine demokratische Jugendinitiative in Sachsen bringt langfristig mehr als ein fotogener Pressetermin eines Bundespolitikers unter Termindruck."

Im Streit-Gespräch mit Jana Hensel und Tina Hildebrand in der Zeit debattieren der Soziologe Armin Nassehi und der Historiker und CDU-Politiker Andreas Rödder darüber, ob sich die gesellschaftliche Meinung von links-grün nach rechts bewegt. Eine "grüne Hegemonie" gab es nie, meint Nassehi, aber er stimmt zu, dass den Mitte-Rechts-Parteien nun Verantwortung zukommt: "Die Falschen müssen das Richtige machen. Helmut Kohl hat als konservativer Kanzler die meisten nationalen Souveränitäten an die supranationale Organisation der EU abgegeben, Gerhard Schröder hat Hartz IV eingeführt, und die CDU-Kanzlerin Merkel hat in der Flüchtlingskrise die Nerven behalten. Und so wird das Klimaschutzproblem wahrscheinlich nur unter Beteiligung von Mitte-rechts-Parteien gelöst werden können. Von mir aus auch ohne Grüne. Es spricht für unsere politische Kultur, dass dieses Switchen oft produktiv war."
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Religion

Der Schriftsteller Navid Kermani ist nach Äthiopien gereist und denkt in der Zeit über das orthodoxe Christentum nach, das dort so viele Menschen anspricht: "Man kann sich erheben über eine Frömmigkeit, die nur aus Praxis zu bestehen scheint, und sollte sich gleichwohl fragen, warum die Menschen in Äthiopien in die Kirchen strömen, jeden Tag, egal wie beschwerlich der Weg ist - während das Christentum in Westeuropa Sonntag für Sonntag an Bindungskraft verliert. Und blickt man in das junge Gesicht des 85-jährigen Aba Tisfa, lässt man sich umfangen von der Schönheit in den Kirchen, der Schönheit der Natur und der Schönheit des Menschenwerks und sieht, spürt und hört man die Inbrunst, mit der Menschen ihrem Glauben nachgehen, ohne dass sie den Fremden scheel ansehen, kommt einem unsere moderne, aufgeklärte Gläubigkeit ganz schön alt vor - egal in welcher Religion."
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Politik

Erica Zhinger berichtet in der taz von einer israelischen Delegation, die in Berlin über die Gewalt der Hamas gegen Frauen informiert. Es wird immer klarer, dass Frauen während des 7. Oktobers nicht nur Opfer grausamster Gewaltverbrechen waren, sondern auch, dass es sich dabei um eine gezielte Strategie handelte, so Zhinger. Die Israelin Shari Mendes erzählt ihr "von Terroristen der Hamas, die in ihren Verhören keine Reue zeigten und die zugaben, nach Israel geschickt worden zu sein, um die Frauen 'zu beschmutzen', sie zu vergewaltigen. Doch auch wenn die bisherigen Ermittlungen unzählige Beweise sichern konnten, solche, die darauf hindeuten, dass sich die Gewalt vom 7. Oktober auch gezielt gegen Israelinnen richteten und der Staat Israel auf diese Weise gedemütigt werden sollte, haben Frauenrechtsorganisationen diese spezifische Gewalt noch nicht ausreichend verurteilt - so die Kritik aus Israel. Über zwei Monate versäumten es allein die Vereinten Nationen und ihre Frauenrechtsorganisation UN Women, die Taten anzuerkennen. Erst Mitte vergangener Woche reiste die Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, nach Israel. Sie forderte, 115 Tage nach dem Massaker, Opfer und Zeugen auf, nicht mehr zu schweigen."

In El Salvador ging Präsident Nayib Bukele durch die Erklärung des Ausnahmezustandes und Aufhebung von Grundrechten gegen die Bandenkriminalität im Land vor und erklärte sich jüngst wieder zum Präsidenten des Landes, obwohl noch nicht alle Stimmen ausgezählt waren, schreibt Nicole Anliker in der NZZ. "Auch wenn dieses Prozedere bis zum Himmel stinkt: Der Mann ist beliebt. (...) Vieles deutet darauf hin, dass er seine Herrschaft ausbauen und den Ausnahmezustand zum Dauerzustand machen könnte. Schließlich basiert sein erfolgreicher Kampf gegen die Kriminalität darauf, mit dem Gesetz zu brechen. Es gibt keinen Grund, weshalb er den Rückwärtsgang einlegen sollte. Vor einem Herrscher, der die Grundrechte aussetzt, ist niemand sicher - auch jene nicht, die ihm einen Wahlsieg bescherten und sich nun in falscher Sicherheit wiegen. Es genügt, anderer Meinung zu sein, um in sein Visier zu geraten. Schon jetzt werden kritische Journalisten oder Oppositionelle verfolgt, ins Exil gezwungen oder ins Gefängnis gesteckt."
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