Heute in den Feuilletons

Mit strengem Imperatorenblick

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2010. Die NZZ beschreibt einen Streit zwischen dem Übersetzer Laszlo Kornitzer und dem toten Autor Istvan Örkeny. Die Welt schrumpft unter den kühlen Augen Marianne Brüns auf Hamstergröße zusammen. In der taz sieht Barbara Vinken eine unheilige Allianz aus Reaktionären, Feministinnen und Grünen am Werk, Frauen zurück an den Herd zu scheuchen. Die SZ lernt von Bangkok, wie man tote Plätze neu belebt.

NZZ, 28.08.2010

1947 veröffentlichte Istvan Örkeny seinen fiktionalisierten Bericht "Das Lagervolk" über die ungarischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Er selbst hatte in einem dieser Lager gesessen, nachdem er - als Jude zwangsverpflichtet - in einem ungarischen Batallion an der deutschen Seite gedient hatte. Jetzt ist das Buch von Laszlo Kornitzer ins Deutsche übersetzt worden. Kornitzer wurde bei der Arbeit so wütend, dass er dazu einen Kommentar geschrieben hat, in dem er sich darüber erregt, dass Örkeny den Holocaust an den Juden mit keinem Wort erwähnt. Er übernehme "das traditionelle Verhalten der Ungarn gegenüber dem Judentum: Man sei entweder Antisemit oder schweige". Für Ulrich M. Schmid ist dieser Vorwurf ganz verkehrt: "Wer wie Örkeny ein Panorama der ungarischen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion entwirft, schweigt nicht über den Holocaust - die Ermordung der europäischen Juden liegt schlicht jenseits des Wahrnehmungshorizonts seiner Handlungsfiguren, die um ihr eigenes Überleben kämpfen. Kornitzers Kritik ist ähnlich schief gelagert wie die Erstrezeption des 'Lagervolks' im Jahr 1947. Damals wurde moniert, dass Örkeny die 'Befreierrolle' der Sowjetunion nicht angemessen gewürdigt habe."

Außerdem in der Beilage Literatur und Kunst: Hoo Nam Seelmann erinnert an die Annexion Koreas durch Japan vor hundert Jahren. Thomas David unterhält sich mit einem ziemlich pedantisch wirkenden John Berger über dessen neuen Roman "A und X". Jürg Halter betrachtet für die "Bildansichten" Ferdinand Hodlers Gemälde "Der Tag".

Im Feuilleton berichtet Andrea Köhler kopfschüttelnd über den Hype um Jonathan Franzens neuen Roman "Freedom". Hubertus Adam war bei der Architekturbiennale in Venedig. Peter von Matt deutet Goethes Gedicht "Nachtgedanken". Besprochen werden Bücher, darunter Muhammad al-Bissatis Roman "Hunger" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 28.08.2010

Jacques Schuster besucht im Grunewald die achtzigjährige Marianne Brün, Tochter Fritz Kortners, die gerade dabei ist, nach Amerika umzuziehen. "Marianne Brün ist keine, die ihr altes Herz an den Erinnerungen vergangener Jahre zu wärmen bereit ist. Nüchtern geht die Achtzigjährige mit der Vergangenheit um. Fragen nach Gefühlen beantwortet Brün meist mit strengem Imperatorenblick. Zuweilen folgt ein heimliches Funkeln von Spott in den blassblauen Augen, die sonst an getrocknete Vergissmeinnicht erinnern. Marianne Brün weiß im Grunde auch nicht wirklich, was der Besucher von ihr will. Höflich ist sie und beantwortet alle Fragen. Dennoch lächelt sie oft so, als schaue sie einem freundlichen, aber drolligen Haustier zu, das sich gerade recht überflüssig an einem Salto versucht. 'Ich fühle mich nicht als Nachlassverwalterin meines Vaters. Tochter von Beruf war ich nie.'"

Außerdem in der Literarischen Welt: Vorabgedruckt ist Armin Mueller-Stahls Erinnerung an seine Begegnung mit dem Dirigenten Bruno Walter, die einem von Elke Heidenreich herausgegebenen Buch mit 46 Liebeserklärungen an die Musik entnommen ist. Hannes Stein möchte gerne ein paar Forderungen erfüllt sehen, bevor das muslimische Cordoba-Haus nahe Ground Zero gebaut wird. Besprochen werden u.a. Thomas Hettches Roman "Die Liebe der Väter", Hilary Mantels historischer Roman "Wölfe", Amaury du Closels Studie über "Entartete Musik" im Dritten Reich und Ulrich Wickerts Krimi "Das achte Paradies".

Im Feuilleton schreibt Matthias Heine über den Musiker, der Christoph Schlingensief auch war. Peter Praschl berichtet, dass Jean-Luc Godard sich bis jetzt geweigert hat darüber informiert zu werden, dass er den Ehrenoscar für sein Lebenswerk bekommen soll.

FR, 28.08.2010

Mit Widerwillen, (psychopathologischer) Faszination und Abscheu liest Arno Widmann das überall diskutierte Buch "Deutschland schafft sich ab" des Thilo Sarrazin. Keine Frage für ihn, dass da einer durchdreht: "Auch in diesem Buch verbindet Sarrazin seine zahlengestützte Verachtung für die fette, TV glotzende, Stütze einstreichende Unterschicht mit seiner rassistischen Mentalitätenkunde. Der Schluss ist klar: Die Unterschicht - das sind in Wahrheit auch keine Deutschen. Es ist unklar, was er mit ihr vorhat. Umso deutlicher ist dafür sein Plädoyer, Schluss zu machen mit der Einwanderung von Türken und Menschen aus Afrika und Nahost."

Weitere Artikel: Sehr enttäuschend findet Christian Thomas den Deutschen Pavillon (Website) auf der Architekturbiennale in Venedig. Auch Nikolaus Bernau ist nach Venedig gereist, des Audi Urban Future Award wegen. In ihrer US-Kolumne ist Marcia Pally nicht dafür, dass die Stinkreichen immer stinkreicher werden.

Besprochen werden ein Tanzabend mit Choreografien von Dave St. Pierre/Andre Gingras und Mathilde Monnier im Frankfurter Mousonturm, ein Konzert des Pianisten Richard Goode im Schloss Johannisberg das Stella-Album "Fukui" und, in exemplarischer Absicht, drei geisteswissenschaftliche Einführungsbände (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 28.08.2010

Tissy Bruns ist mit den Thesen von Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" absolut nicht einverstanden. Aber sie gibt auch dies zu bedenken: "Das Milieu der linksliberalgrünen politischen Korrektness, das die Verletzungen der Menschenrechte von muslimischen Kindern, Mädchen und Frauen lange nicht wahrhaben wollte, hat längst eine heimliche Konkurrenz. Mit Sarrazin könnte es sich offen etablieren: ein selbstgerechtes Milieu der besseren Kreise, das Migranten und Unterschichtenkinder wegen ererbter Dummheit abschreibt. Denn Sarrazins Thesen beziehen ihre Durchschlagskraft aus den Körnchen Wahrheit, die sich in der Realität finden."

Im Kulturteil unterhält sich Gerrit Bartelts mit Norbert Gstrein über die Reaktionen auf dessen Roman "Die ganze Wahrheit".

TAZ, 28.08.2010

Die Romanistin Barbara Vinken - selbst als Kritikerin eines reaktionären Mutterbilds hervorgetreten - bespricht Elisabeth Badinters viel diskutierte Warnschrift "Der Konflikt. Die Frau und die Mutter" (Leseprobe) und stellt dazu erst einmal fest: "Alles, was Badinter in ihrem Buch als ein Drohszenario an die Wand malt, das in Zukunft einmal wahr werden könnte, ist in Deutschland immer schon schlichte Realität. Mutter Natur, welche Badinter in ihrer wunderbar polemischen Studie mit Schrecken weltweit auf dem Vormarsch sieht, wird durch eine unheilige Allianz zurückgebracht: von Reaktionären, die den Platz der Frau als Ehefrau und Mutter am Herd sehen, von essenzialistischen Feministinnen, die den biologischen Unterschied der Geschlechter und ihre natürliche Neigung betonen, für andere zu sorgen, und schließlich von Grünen, denen mit der Natürlichkeit der Welt die der Mutter selbstverständlich ist."

Weitere Artikel: Spiegel-Co-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron erklärt im Interview vorne im Blatt, warum der Spiegel die Thesen von Thilo Sarrazin mit einem Vorabdruck prominent in die Öffentlichkeit bringt: "Um Debatten einzuleiten, müssen wir auch Beiträge drucken, mit deren Aussagen wir nicht einverstanden sind." In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne lästert dann Andreas Fanizadeh noch über den "großen Ichling" Sarrazin. Für sinnlos hält Wolfgang Gast die RAF-Prozess-"Wiederaufführung" in Stuttgart-Stammheim. Julia Seeliger kommentiert den Youtube-"Punktsieg" gegen die Gema. In der Berlin-Kultur erinnern in zwei Artikeln Peter Nowak an den Menschen und Bert Rebhandl an den Werner-Herzog-Schauspieler Bruno S(chleinstein).

Besprochen werden das neue Stella-Album Fukui und weitere Bücher, darunter Klaus Böldls Roman "Der nächtliche Lehrer" und Daniel Everetts Studie über "Das glücklichste Volk" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 28.08.2010

Laura Weissmüller hat sich schon einmal auf der am Sonntag eröffnenden Architekturbiennale in Venedig umgesehen, die in diesem Jahr fragt, wie Architektur Begegnungsräume eröffnet. Viele überzeugende Antworten findet Weissmüller nicht, ein paar Vorschläge aus Thailand sind aber darunter: "Das Land, das dieses Jahr zum ersten Mal teilnimmt, zeigt, wie sich in Megastädten, etwa Bangkok, mit simplen Eingriffen tote Plätze zu öffentlichen Räumen umgestalten lassen. Ob mit kleinen Holzpavillons unter der Autobahnbrücke oder einem Sonnensegel, das zwischen zwei Straßenseiten gespannt ist: Was vorher menschenleer war, wird jetzt von Spaziergängern und Marktständen bevölkert."

Weitere Artikel: Lothar Müller stellt die Website alikewise.com vor, die Partner über gemeinsame Literaturinteressen vermitteln will. Reymer Klüver berichtet aus einem New Orleans fünf Jahre nach der Katrina-Katastrophe und kurz vor Barack Obamas Rede zum morgigen Jahrestag. Christine Dössel (Sprechtheater) und Egbert Tholl (Musiktheater) bilanzieren beide wenig enthusiasmiert die Salzburger Festspiele. Die Washington Archives haben, informiert Willi Winkler, das (genauer gesagt: ein) Original der Nürnberger Gesetze in ihren Bestand aufgenommen, das General Patton einst als Kriegsbeute mitgehen ließ. Manfred Schwarz gratuliert dem Künstler Christian Ludwig Attersee zum Siebzigsten. Für die Medienseite besucht Katharina Riehl den seit vierzig Jahren tätigen Groschenromanautor Dieter Walter, der einräumt: "Das sind einfach keine echten Geschichten, wer lebt sein Leben schon so wie in den Heftromanen?"

In der SZ am Wochenende unterhält sich Jeanne Rubner mit der Mütterkult-Kritikerin Elisabeth Badinter, die über ihr Verhältnis zu vielen Frauen der jüngeren Generation meint: "Sie zürnen mir, weil sie glauben, fortschrittlich zu sein - und ich ihnen sage, dass sie in Wahrheit von gestern sind." Außerdem preist Christopher Schmidt den am 4. September erscheinenden Roman "Deutscher Sohn" von Ingo Niermann und Alexander Wallasch als "großen Pop-Roman" über den deutschen Afghanistan-Einsatz. Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz erklärt, warum das Ende der Privatheit im Internet auch das Ende der "bürgerlichen Freiheit" bedeutet. Dirk Peitz ist mit dem Musikproduzenten Pharrell Williams unterwegs. Johan Schloemann erinnert an die Schlacht von Marathon.

Besprochen werden das Berliner Konzert der Neue-Musik-Städtetour "Sounding D" (Website), die Ausstellung "Matisse: Radical Invention 1913 -1917" im New Yorker Museum of Modern Art, Andrew Bujalskis jetzt in München laufender Film "Beeswax" und Bücher, darunter der sechste Teilband der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.08.2010

Gerhard Stadelmaier spricht mit enttäuschten Stuttgartern, die den neuen Bahnhof nicht kippen konnten: "Es fällt an diesem Morgen kurz nach sechs Uhr in der Kaltbadehalle des Leuze ein tragischer Satz, der hier eigentlich nie fallen dürfte: 'Mir zählet nex!'" Jürgen Dollase lässt sich im Pariser Bistro "Le Chateaubriand" von "meist schwarzbärtigen, vorwiegend baskischen Köchen" Seezungenfilets mit fast rohem weißem Spargel servieren und runzelt die Stirn: "Könnte Plastizität gemeint sein, weil sich der Texturkontrast so deutlich darstellt, dass der Fisch räumlich freigestellt wird?" Martin Otto ist bekümmert, dass das Bundesververfassungsgericht seine Akten erst nach neunzig Jahren für die Forschung öffnen will - ihn interessiert vor allem, wer Berichterstatter in spektakulären Einzelfällen war. Für die letzte Seite verfasst Marcus Jauer ein Protokoll zur Berichterstattung über den Prozess im Mordfall Dominik Brunner (mit Zitaten aus u.a. Bild-, Abend- und Süddeutscher Zeitung, die WIR uns in dieser Länge nie erlauben würden, pfff!). Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass der Autovermieter Sixt die Gebühren für Autoradios in nicht privat genutzten Fahrzeugen ins Kraut schießen sehen und deshalb gegen die neue Rundfunkgebühr klagen will.

In Bilder und Zeiten stellt Paul Ingendaay Autoren aus Argentinien, dem Gastland der Buchmesse vor: Martin Kohan, Samanta Schweblin, Alan Pauls und Martin Caparros. Andreas Platthaus erzählt von der Arbeit an Julio Cortazars "Erzählung mit einem tiefen Wasser", die als "Tolles Heft" veröffentlicht wird. Es gibt einen Auszug aus Henning Ritters "Notizheften". Und die ehemalige "Ideal"-Frontfrau Annette Humpe spricht im Interview über Musik und Buddhismus.

Besprochen werden die Ausstellung "Mapping the Region: Unexpected/Unerwartet. Von der islamischen Kunst zur zeitgenössischen Kunst" im Kunstmuseum Bochum, CDs u.a. von Andreya Triana und Bücher, darunter Michael Kleebergs Roman "Das amerikanische Hospital" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Gabriele Wohmann ein Gedicht von Gottfried Keller vor:

"Ich kenne dich, o Unglück, ganz und gar
Ich kenne dich, o Unglück, ganz und gar
Und sehe jedes Glied an deiner Kette!
..."