Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2004. Nun startet Michael Moores "Fahrenheit 9/11" auch in Deutschland. Die Kritiker strengen sich noch mal richtig an, kommen aber nicht zu einem einheitlichen Urteil. Die FAZ ist pro und kontra zugleich. Die FR feiert den Film als mediale Rückeroberung, die Berliner Zeitung als grandioses Machwerk . Die SZ bewundert den investigativen Slapstick. Der Tagesspiegel deutet die Leere in Bushs Gesicht als anders.

FR, 28.07.2004

Daniel Kothenschulte ist von Michael Moores Film "Fahrenheit 9/11" begeistert: "Moores Prinzip der medialen Rückeroberung und Neuverortung feiert Triumphe in 'Fahrenheit 9/11'. Mehr noch als beim rasant geschnittenen Vorgängerfilm 'Bowling for Columbine' verblüfft Moores ureigene Sammelwut und die Kontrolle des Archivars in eigener Sache. Die rhetorische Beweisführung ist eine alte Kunst in Hollywood, das ja auch den Gerichtsfilm als Genre der Aufklärung erfunden hat. Welch fabelhaften Strafverteidiger würde Moore in einem Hollywoodfilm abgeben - ein Rollenfach, das gern von Persönlichkeiten einer besonderen Gewichtsklasse vertreten wurde, Orson Welles zum Beispiel oder Charles Laughton, deren gewaltige Körpermasse ihrer behänden Schussfrequenz nicht im Wege stand: 'Einspruch, euer Ehren!'"

Weitere Artikel: In Times mager resümiert Christian Schlüter den Streit zwischen dem Parsifal-Sänger Endrik Wottrich und dem Parsifal-Regisseur Christoph Schlingensief: "Du bist ein Nazi! Nein, du bist ein Rassist und Nazi!! Du hast aber 'Neger' gesagt!!! Ich benutze das Wort 'Neger', wann ich das will!!!! So zetert die Bayreuther AntiFa."

Drei Artikel auf den vorderen Seiten (hier, hier und hier) widmen sich dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Juniorprofessur für rechtswidrig erklärt hat.

Besprochen wird außerdem Falk Richters Inszenierung von Tschechows Stück "Die Möwe" bei den Salzburger Festspielen.

Tagesspiegel, 28.07.2004

Michel Moore überall. Christiane Peitz deutet die minutenlange Leere in Bushs Gesicht im Moment der Nachricht von den Attentaten anders als Moore selbst: "Das Fernsehen zeigte .. nur den kurzen Moment, in dem der Präsident vom Anschlag auf das World Trade Center erfuhr, nicht aber die schier ewig lange Phase seiner Nichtreaktion. Aber Moore liegt gleichzeitig falsch, wenn er damit die Dummheit des Präsidenten zu beweisen glaubt (vielleicht zögert Bush ja, weil er nachdenkt; warum soll ein Präsident nicht mal nachdenken?) und dies mit entsprechenden Einblendungen und dem permanent repetitierten Klavierton insinuiert. Das ist die Crux von 'Fahrenheit 9/11': Was Michael Moore in seine Bilder hineininterpretiert, ist längst nicht so erhellend wie das, was sie tatsächlich zeigen."

TAZ, 28.07.2004

Der palästinensische Filmemacher Subhi al-Zobaidi setzt einige Hoffnungen in eine Volksbewegung, die gegen die Korruption in der palästinensischen Führung gerichtet wäre - und beklagt doch wieder, dass diese Bewegung vor allem von radikalen Kräften wie den Al Aksa-Brigaden vorangetrieben wird: "Zu befürchten ist, dass es zu weiteren solchen Aktionen von Milizen kommt. Entführungen und Morde könnten zu einem Mittel der Veränderungen werden. Für Israel wäre das eine günstige Entwicklung. Denn es ist viel einfacher, einen solchen Wechsel im Griff zu haben, als Veränderungen in einer demokratischen und aktiven Gesellschaft. Selbst die revolutionärste Miliz mit den ehrlichsten Absichten wird in Palästina keinen sozialen Wandel bringen."

Weitere Artikel: Christian Rath berichtet über eine heute zu erwartende Entscheidung des Deutschen Patentamtes in München - die darbende Musikindustrie möchte den Anteil der Autoren und Komponisten an neuen CDs von 9 auf knappe 5,6 Prozent senken. Besprochen wird die neue CD "Egypt" des senegalesischen Stars Youssou N'Dour "(eine tief religiöse Platte, die den Mouriden und anderen islamischen Bruderschaften im Senegal huldigt; eingespielt mit einem ägyptischen Kammerorchester", schreiben Max Annas und Dorothee Plass).

Auf der Seite 1 berichtet Cos. über das Karlsruher Urteil zum Juniorprofessor. Ralph Bollmann kommentiert das Urteil.

Und hier Tom.

NZZ, 28.07.2004

Zweimal Salzburger Festspiele: Barbara Villiger Heilig bespricht Falk Richters Inszenierung von Tschechows "Die Möwe" und befindet, dass diese Premiere "noch nicht einmal eine Generalprobe" war. Und Peter Hagmann hat sich die Aufführung von Henry Purcells Oper "King Arthur" angesehen. In der ersten Hälfte entdeckt Hagmann reichlich "Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung"; die zweite Hälfte hat ihm weniger gefallen: "Nach der Pause verliert der Regisseur Jürgen Flimm seine Contenance und lässt seinen deutschen Humor auf den Tisch krachen, dass die Späne fliegen. Da wird dann wieder nach Maßen aufgetragen und die Kunst zerstört: zum Beispiel die herrliche Frostszene, in der alles, auch die Musik, bibbert, in der dann aber Pinguine so blöd auf der Bühne herumtollen müssen, dass es um die musikalische Wirkung geschehen ist."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel erinnert an den Philosophen Ludwig Feuerbach, der vor 200 Jahren geboren wurde, und die Lehre vertrat: "Gott verdankt der Mensch mithin nichts. Umgekehrt verdankt Gott dem Menschen alles." Aldo Keel berichtet, dass sich Norwegens frühere Maoisten daran machen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. "Die 'Kommunistische Partei der Arbeiter (Marxisten - Leninisten)', wie ihr voller Name lautet, war eine Partei der Schriftsteller und Intellektuellen, deren Wahlerfolge sich in engen Grenzen hielten, die jedoch die literarische Szene der siebziger Jahre prägte... Neben China galt Albanien als 'Leuchtturm des Sozialismus' und Traumland - diesem sei es als einzigem europäischem Staat gelungen, die Konterrevolution zu bändigen."

Ansonsten gibt es jede Menge Buchbesprechungen, unter anderem zu zwei historischen Studien zu Stalin (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 28.07.2004

Christian Bommarius schreibt eine der zwiespältigsten (und wortmächtigsten) Kritiken zu "Fahrenheit 9/11": "Der Film ist ein Machwerk, demagogisch, platt und einseitig bis zur Borniertheit. (...) Es ist der grandioseste Propaganda-Film seit Jahrzehnten."

Außerdem heute in der Berliner Zeitung: Unterwegs mit Arno Widmann.
Stichwörter: Widmann, Arno, 9/11

FAZ, 28.07.2004

"'Ich benutze das Wort "Neger", wann ich das will. Ich lasse mir das nicht vorschreiben von so einem Hampelmann wie Schlingensief', dessen 'Parsifal'-Inszenierung ein Höhepunkt 'nichtdeutschen Regietheaters' sei", zitiert Eleonore Büning den Parsifal-Darsteller Endrik Wottrich, der gestern im Nordbayerischen Kurier ein Interview gab. "Die Festspiele haben ihren Skandal", kommentiert Büning. "Wieder hebt, diesmal dank eines kraftmeierisch daherschwadronierenden Sängers, dem man allenfalls seine Jugend zugute halten kann, die hässliche alte Bayreuther Riesenschlange ihr Haupt. Die dünne Decke der Zivilisation, die darüber lag, erwies sich als zu kurz: Warum diese Decke immer wieder ausgerechnet in Bayreuth reißt, wo Kunst und Politik doch so besonders sauber auseinandergehalten werden sollten, ist eine Frage, zu der ein beherztes Wagnerwort dringend nötig wäre."

Andreas Kilb und Heinrich Wefing schreiben pro und contra über Michael Moores Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11". Für Kilb ist es ein Propagandafilm, denn "Michael Moore will nichts aufdecken, sondern Behauptungen filmisch abdecken."

Für Wefing ist es eher eine Art Wahlkampfspot, der daran gemessen wird, ob er sein Ziel erreicht: nämlich Bush abzuwählen. Moore wolle nicht die liberalen Intellektuellen überzeugen und schon gar nicht die Europäer, sondern die "einfachen" Weißen im Süden, die Pickup-Fahrer, die für Waffenbesitz und Todesstrafe und gegen Abtreibung sind - und nach verschiedenen Umfragen wahlentscheidend. Die Soldaten im Irak, die Moore in seinem Film erzählen lasse, "sind Männer ganz wie die, die Moore erreichen will. Vielleicht fahren auch sie Pick-ups. Jedenfalls lassen sie sich nicht als Weicheier und Schlappschwänze abtun. Und sie widersprechen den Feindbildern der amerikanischen Rechten, die alle Kriegsgegner grölend als Kommunisten, Schwuchteln oder Hollywood-Schauspieler denunziert."

Weitere Artikel: Ulf Meyer stellt das größte Hochhaus der Welt vor: C.Y. Lees "101 Building" in Taipeh. Jürgen Kaube kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Gesetz zur Einführung der Juniorprofessur nichtig ist. Jordan Mejias stellt Chicagos neuen Millennium Park vor, dessen Musikpavillon von Frank Gehry gebaut wurde. Verena Lueken nennt Harold Brodkeys "Die Geschichte meines Todes" ihr Lieblingsbuch. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Schauspielers Peter Herzog. Paul Ingendaay meldet, dass Juan Goytisolo mit dem Rulfopreis ausgezeichnet wurde.

Auf der Medienseite empfiehlt Michael Jeismann einen "Glücksfall" im Fernsehen: einen Dokumentarfilm auf Phoenix über das Attentat in Sarajewo 1914 und seine Folgen. L.J. ärgert sich über "Der Untergang des alten Europa" - ein Film über den Ersten Weltkrieg auf Arte ("Ein Lehrstück fürs Medienseminar, Thema: Propaganda heute.") Lue. gratuliert Aenne Burda zum Fünfundneunzigsten. Und Dietmar Dath sinniert zwei Spalten lang über das Fernsehen heute. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Rossmann den Intendanten der Philharmonie Essen, Michael Kaufmann. Christian Geyer stellt das Londoner Projekt "Arche auf Eis" vor, eine Gen-Bank mit dem Erbgut bedrohter Tierarten. Und Andreas Rosenfelder erzählt von der Wiederentdeckung des Germanentums in Niedersachsen.

Besprochen werden Debussys "Pelleas et Melisande" bei den Münchner Opernfestspielen, eine Ausstellung antiker Sportkulturen im Akademischen Kunstmuseum Bonn, eine Ausstellung über Hofgärtner im Schloss Glienicke in Potsdam, die Ausstellung "Africa Remix" im Museum Kunst Palast in Düsseldorf und Tschechows "Möwe", die Falk Richter im Landestheater Salzburg inszeniert hat: "Abgesehen davon, dass dreimal ein Wassereimer über Köpfe ausgeleert wird und es merkwürdig anmutet, wenn Leute, die eben mal 'zum Sex nach Bangkok' fliegen, Probleme mit Tschechows Kutschpferden haben sollen, hat die Aufführung etwas sympathisch Schulterklopfendes, Aufmunterndes: Wird schon! Kopf hoch! Nu mach mal!", schreibt Gerhard Stadelmaier.

SZ, 28.07.2004

Zum Kinostart von Michael Moores "Fahrenheit 9/11" stellt sich Fritz Göttler auf die Seite der Moore-Fans: "Wie er sich vordrängelt und überall reindrückt, wie er Terrain okkupiert, das ist schöne alte Kinotradition - investigativer Slapstick, mit dem Moore sich als ein Urenkel des wilden Fatty Arbuckle präsentiert. In einem Kino, das im einen Augenblick aggressiv, im nächsten ganz sensibel sein kann. Dann zeigt es uns zum Beispiel, in einem TV-Ausschnitt, einen Jungen, der in einem Klassenzimmer hockt, ein Buch - über eine kleine Geiß - in der Hand, und still den andern lauscht. Lesen macht ein Land groß, sagt ein Plakat hinter ihm, in seinem Blick mischt sich Andacht mit Konzentration. Und Fassungslosigkeit. Der Junge ist 55 Jahre alt und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush am Morgen des 11. September 2001. Eben hat er von einem Mitarbeiter vom Einschlag des Flugzeugs in den zweiten Tower des World Trade Center in New York gehört. Blackout, Stillstand, sieben Minuten lang. Die Geschichte hält den Atem an."

Susan Vahabzadeh untersucht dazu den derzeitigen Dokumentarfilm-Boom, der offenbar einem größeren Wunsch nach unverfälschten Abbildung in Zeiten von Manipulation und Marketing entgegenkommen soll. Aber, meint sie: "Das kann der Dokumentarfilm gar nicht erfüllen, und je größer die Einspielergebnisse sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass irgend jemand sich darum bemüht."

Weiteres: Wolfgang Schreiber sieht Wolfgang Wagner in der Pflicht, angesichts des "hasserfüllt" verbreiteten "arroganten Chauvinismus" des Parsifal-Tenors Endrik Wottrich. Ijoma Mangold berichtet von einem weiteren Buch, das "unsere Gier nach der authentisch grausamen Erfahrung" stillen sollte und das der Rowohlt Verlag jetzt vom Markt ziehen musste, weil es wohl doch nicht so authentisch ist: Norma Khouris "Du fehlst mir, meine Schwester". Andrian Kreye berichtet, dass es jetzt auch eine legale Variante des Bootleggings gibt, also des Konzertmitschnitts, bei dem natürlich die Plattenfirmen, die Musiker und die Gebrüder Griner mitverdienen, die darauf das Patent angemeldet haben. Ira Mazzoni fürchtet, dass dem Abriss der Maxhütte in Sulzbach Rosenberg kaum noch etwas entgegenzustellen ist: Die Stadt ist pleite und muss auf eine gewinnbringende Verschrottung hoffen. C. Bernd Sucher schreibt zum Tod des Schauspielers Peter Herzog.

Besprochen werden Falk Richters geglückte Inszenierung von Tschechows "Möwe" als Gegenwartskomödie und Debussys "Pelleas et Melisande" an der Bayerischen Staatsoper. Auf der Plattenseite werde neue Alben der Disco-Punk-Band !!!, von TV on the Radio, Deerhof und Azita, sowie zwei nachgelassene CDs der Brotherhood of Breath. Und schließlich gibt es auch Buchrezensionen, darunter zu Thomas Stangls "glänzendem" Romandebüt "Der einzige Ort" und Walter Grasskamps Interpretation zum "Cover von Sgt. Pepper" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Das Karlsruher Urteil zu den Juniorprofessoren wird auf der ersten Seite gehandelt. Auf der Meinungsseite kommentiert Jeanne Rubner: "Bulmahn aber machte aus der Sache eine Herzens- und Glaubensangelegenheit. Ihre Absicht war richtig, ihr Eigensinn falsch. Trösten kann sie sich jetzt allenfalls damit, dass Karlsruhe den Juniorprofessor nicht ablehnt. Die Länder müssen deshalb auch dafür sorgen, dass für die paar hundert schon angestellten Juniorforscher (und vermutlich für viele weitere zukünftige, denn selbst Unionsländer denken nicht daran, das Modell zu verbieten) klare Verhältnisse geschaffen werden."