Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2006. Die NZZ staunt über deutsche Identitätsdiskurse, die SZ über dänische. In der taz trägt Michael Haneke ein Büßerhemd. Die Zeit bewundert den King of Afrorap, die FAZ den Bauch von Daniel Auteuil und die FR Karl Lagerfelds Lolitas.

Zeit, 26.01.2006

Thomas Groß hat sich in Nigeria Afrorap angehört, zu dessen Ikonen neben Ruggedman, und Mode Nine auch Eedris Abdulkareem gehört ("Stiernacken, Gesicht wie ein Preisboxer"). Und er wagt es, den Autokraten Olusegun Obosanjo herauszufordern: "Eedris, der Reimzauberer, der King of Afrorap. 'Jaga Jaga' heißt sein Hit - Yoruba für 'Kuddelmuddel', 'ev'rything is scattaaad, scattaaad' lautet der Reim darauf in der Verkehrssprache Pidgin-Englisch: alles kaputt, alles komplett im Eimer, keiner weiß Bescheid. Die bass drum knallt, der Rhythmus groovt, es ist ein Stück voller Galgenhumor, in dem gestresste Lagosians ihre alltägliche Situation wiedererkennen. Jeder hat hier seine Erfahrungen mit Bürokratie und Korruption, mit den berüchtigten Go-Slows von Lagos, die den Verkehr morgens und abends für Stunden lahm legen, mit Stromausfällen und den Wassergräben am Straßenrand, in denen die Malaria vor sich hinbrütet. 'Jaga Jaga' findet direkt vor der Haustür statt, es ist die überfällige Antwort auf zum Himmel stinkende Verhältnisse. Kein Wunder, dass der Präsident sich nicht amüsiert zeigte."

Weitere Artikel: Zum morgigen Holocaust-Gedenktag gibt es zwei Texte: Der in Toronto lehrende Soziologe Y. Michal Bodemann beobachtet eine "erstarkende Selbstbehauptung jüdischen Lebens in Deutschland". Der Politologe Joachim Perels hält fest, dass die Ahndung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik "ein Torso" geblieben ist (über ihre Verfolgung in der DDR erfahren wir leider nichts). In der Leitglosse beobachtet Hanno Rauterberg einen großen Kunstschwund: Ähnlich wie einst die EU die Butterberge, vernichte inzwischen der Staat, Holland etwa, die einst angekauften Kunsthügel. Fritz J. Raddatz verteidigt den DDR-Dissidenten Robert Havemann, dem erneut seine frühe Stasi-Mitarbeit vorgeworfen wird. Volker Ullrich berichtet über die gelungene Eröffnung des Jena Center für Geschichte des 20. Jahrhunderts. Peter Bender schreibt zum Tod der Publizistin Carola Stern.

Vor dem Start der Bundesliga-Rückrunde sieht Bernd Gräbler die Sportschau nicht besonders gut aufgestellt: Zu viel Inszenierung, zu wenig kritische Ökonomie. Und im Aufmacher empört sich Jens Jessen über die um sich greifende Praxis der Fußballvereine, die Namen ihrer Stadien zu verkaufen: "Privatisiert wurde keine Immobilie in öffentlichem Besitz. Privatisiert, das heißt: dem Bürger enteignet, wurde die öffentliche Rede."

Besprochen werden Michael Hanekes an seiner Präzision schier "zerberstender" Film "Cache", Andreas Staiers Cembaloaufnahme "Hamburg 1734", Thomas Bernhards "Alte Meister" als Hörbuch, Vera Chytilova Klassiker "Tausendschönchen" auf DVD.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Thomas Assheuer Hartmut Rosas Studie zur Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne "Beschleunigung". Für das Dossier besucht Emanuel Eckart den Hamburger Hafen - den großen Globalisierungsgewinner.

"Darf man den Medien trauen", fragt das Leben in einer Spezialausgabe zum eigenen Gewerbe. Bernd Ulrich etwa findet den "ätzenden" Journalismus langweilig: "Das Land ist sich selbst Feind in vielem geworden, das Negative hat die Hegemonie übernommen. Darum hat der reflexhaft hyperkritische Journalismus oft nichts Subversives mehr, er ist affirmativ geworden. Er fühlt sich furchtbar aufmüpfig und mutig, dabei schnippt er nur den Rhythmus mit, den die Verhältnisse ihm vorgeben." Barbara Nolte besucht den früheren Washington-Post-Reporter Carl Bernstein, und Adam Soboczynski beklagt die einförmige Weltsicht der allesamt aus der Mittelschicht stammenden Journalisten.

NZZ, 26.01.2006

Die Deutschen ringen mal wieder um ihre Identität. Schöner Eiertanz, meint Joachim Güntner mit Blick auf die Empfehlung des Bundestags, die Deutsche Bibliothek in "Deutsche Nationalbibliothek" umzubenennen, den beschlossenen Abriss des Palastes der Republik und ein Symposion, auf dem in Berlin die Direktoren namhafter Museen des In- und Auslandes über die Beschaffenheit eines "Patrimoniums der Deutschen" diskutierten. "Begriff und Umfang des Patrimoniums seien nur europäisch und unter Beachtung der regionalen Bezüge zu bestimmen, war die einhellige Meinung. Doch welche konkreten Dinge sollen es wert sein, aus Steuermitteln angekauft, gesammelt und als bedeutsames deutsches Kulturgut bewahrt zu werden? Welche Kriterien sollen die Ankaufspolitik der Museen und der großen Kulturstiftungen leiten? Antworten auf diese Kernfrage blieb das Kolloquium schuldig. Deutlich wurde allenfalls, dass man leere Kassen mehr fürchtet als alles andere. Das Bangen ums Patrimonium als Beschwörungsformel, um den staatlichen Geldsegen zu erhalten? Finanzsorgen statt Identitätsprobleme als treibende Kraft? Wie profan. Und wie beruhigend."

Weiteres: Das Theater Basel soll 3,5 Millionen Franken einsparen. In Basel gab es jetzt eine große Publikumsdiskussion über die Frage, welches Theater man zu welchem Preis möchte, berichtet Alfred Schlienger. Besprochen werden zwei Ausstellungen zu Rembrandts Radierungen in den Kunstmuseen von Basel und St. Gallen, die Debüt-CD der Arctic Monkeys und Bücher, darunter Tom Wolfes Roman "Ich bin Charlotte Simmons" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 26.01.2006

Regisseur Michael Haneke formuliert im Interview zu seinem Film "Cache" die hohen moralischen Ansprüche, die er an sich und seine Zuschauer stellt: "Mir geht es um solche Strategien, sich von Schuld freizureden. Es ist doch so: Wir alle empfinden uns als wahnsinnig liberal. Wir sind dafür, dass die Ausländergesetze nicht verschärft werden. Aber wenn jemand zu mir kommt und mich fragt, ob ich eine fremde Familie aufnehme, sage auch ich: eigentlich nicht. Das Hemd ist einem näher als der Rock. So feig und so bequem wie ich sind die meisten Leute."

Weiteres: Dietmar Kammerer berichtet über ein Symposium in Bremen, das dem Zusammenhang zwischen Film und Reisen nachging. Ekkehard Knörer empfiehlt nachdrücklich die DVD "Moolade" des senegalesischen Regisseurs Ousmane Sembene.

Besprochen werden Mark Dindals Animationsfilm "Himmel und Huhn" und ein Buch über Elfriede Jelinek (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und nicht vergessen: TOM

FAZ, 26.01.2006

Andreas Kilb feiert Michael Hanekes neuen Film "Cache", eine Enthüllungsgeschichte über das Geheimnis eines erfolgreichen Fernsehmoderators, als Meisterwerk: "Juliette Binoche schlurft in Sandalen und Wollpulli wie eine Bäuerin durch 'Cache', und Daniel Auteuil trägt seinen Bauch wie einen Känguruhbeutel vor sich her. Mit österreichischen Theaterschauspielern hätte er einen vergleichbaren Effekt kaum erzielt. Aber ebendarin liegt Hanekes Erfolgsrezept: Er betreibt Antikino mit Filmstars. Er ist der Guerrillero im Salon."

Die deutsche Literatur hat einen neuen Star: Daniel Kehlmann, dessen Roman "Die Vermessung der Welt" über eine Begegnung Alexander von Humboldts und Carl Friedrich Gauß' seit Monaten auf der Bestsellerliste steht. Felicitas von Lovenberg feiert diese Sensation: "Bald vierhunderttausend Exemplare des Buchs hat der Rowohlt Verlag bisher verkauft; die Auslandsrechte sind in fast zwanzig Länder vergeben, darunter nicht nur die wichtigen europäischen Nachbarn, sondern auch das in literarischer Hinsicht notorisch schwer zu erobernde Amerika, wo Pantheon Books den Roman im Sommer veröffentlichen will."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger sieht es in der Leitglosse als symbolisch an, dass ausgerechnet die Eiche im neuesten Waldschadenbericht als gefährdet angesprochen wird. Christian Geyer liest die Enzyklika "Deus caritas est" von Benedikt XVI. Heinrich Wefing begutachtet den siegreichen Entwurf von Ursula Wilms aus dem Stuttgarter und Berliner Architekturbüro Heinle, Wischer und Partner für die "Topografie des Terrors" in Berlin. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp zeigt sich beglückt über die Rückkehr von Benvenuto Cellinis gestohlener "Saliera". Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Schauspielers Günter Lampe. Gina Thomas berichtet in einer Meldung über einige britische Veranstaltungen zum hundertsten Geburtstag Dietrich Bonhoeffers. Jürgen Richter macht sich Sorgen um den Bestand einiger bedeutender Bauten im thüringischen Meiningen.

Auf der Filmseite unterhält sich Michael Althen mit Juliette Binoche über ihre Rolle in Michael Hanekes neuem Film "Cache". Zum Wesen der Schauspielerei meint Binoche: "Lernen ist nicht so schwierig, aber um etwas Gelerntes wieder abzulegen, braucht man Mut." Bert Rebhandl würdigt das Werk des britischen Regisseurs Peter Watkins', dem im Berliner Arsenal eine Retrospektive gewidmet wurde. Ganz kurz nur die traurige Meldung vom Tod des Schauspielers Chris Penn (des Bruders von Sean) im Alter von 43 Jahren.

Auf der Medienseite schreibt Christoph Ehrhardt über die Frage, wie die Blogs die Medien verändern. Nina Rehfeld besucht das Cartoon Network bei Hollywood, das auch deutsche Sender mit Zeichentrickserien versorgt. Für die letzte Seite besuchte Wiebke Huester den Tänzer Jerome Bel in Paris. Jordan Mejias berichtet über ein mondänes Fundraising-Ereignis der Berliner American Academy in Berlin. Und Gina Thomas stellt die Autorin Hilary Spurling vor, die für ihre monumentale Biografie über Henri Matisse (Auszug) den Whitbread-Preis erhalten hat.

Besprochen werden Glucks Oper "Alceste" unter Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart und eine Ausstellung des amerikanischen Künstlers Fred Sandback im Kunstmuseum Liechtenstein.

FR, 26.01.2006

Martina Meister liegt Karl Lagerfeld und seiner Haute Couture-Schau in Paris zu Füßen. "Ein blendend weißes Amphitheater hat er in das gläserne Grand Palais gesetzt; als wäre dieses frisch restaurierte Prachtstück der Glas- und Industriearchitektur nicht Zitat genug, nicht ausreichend Anspielung auf die Belle Epoque. Durch das Glasdach tritt der unverschämte Himmel von Paris ein. Das Weiß seiner Bühne blendet wie die Schneelagen auf dem Mont Blanc. Dieser Schauplatz könnte aus Eis sein. Auf den Plätzen liegen weiße Fleece-Decken, kleine Thermoskannen mit heißem Tee stehen bereit, signiert von Chanel. Als hätte Karl auch die Kälte bestellt. Die Menschen, die er sprechen lässt, sind Puppen. Allesamt Lolitas. Eisprinzessinnen." (Sehen Sie selbst.)

Grundsätzlich begrüßt es Thomas Medicus, dass mit dem Glaskubus von Heinle, Wischer und Partner nun endlich ein Entwurf für das geplante Dokumentationszentrum der Stiftung "Topografie des Terrors" in Berlin akzeptiert wurde. "Man wird sich aber fragen müssen, ob es nicht besser gewesen wäre, der ästhetischen Überzeitlichkeit, um nicht zu sagen Unverbindlichkeit des Holocaust-Denkmals einen Ort deutlicher Verstörung gegenüberzustellen."

Weitere Artikel: Peter Michalzik schreibt zum Tod des Schauspielers Günter Lampe. Vom Verkauf des Digitalstudios Pixar an Disney erwartet sich Daniel Kothenschulte in Times mager eine kreative Frischzellenkur für den Animationsfilm. Auf der Medienseite erlebt Martin Scholz in Baden-Baden einen staatstragenden Rockmusiker und nunmehr deutschen Medienpreisträger Bono.

Welt, 26.01.2006

Gerhard Gnauck porträtiert den heute 89-jährigen polnischen Fotografen Wilhelm Brasse, der Fotograf von Auschwitz war und der viele der heute bekannten Fotos aus dem Todeslager machte (nach Auschwitz wollte er nie wieder fotografieren). "Als im Januar 1945 die SS-Leute die Vernichtung der Bilder befahlen, machte sich Brasse zunächst an die Ausführung. Doch die Abzüge und Negative brannten schlecht. Als der Vorgesetzte weg war, übergoss Brasse das Material mit Wasser und trocknete es. 'Wir dachten, die Bilder könnten eines Tages als Dokumente dieser Verbrechen dienen.' So ist es gekommen: Vor allem die Karteifotos aus Auschwitz sind sein Werk." Der Dokumentarfilmer Irek Dobrowolski hat jüngst den Film "Portrecista" über Wilhelm Brasse gedreht.

Weitere Artikel: Stefan Tolksdorf berichtet über ein Colmarer Symposion, in dem neue Erkenntnisse über die Techniken Mathias Grünewalds erörtert wurden.

Besprochen werden unter anderem Michael Hanekes Film "Cache", der Film "Eine andere Liga" von Buket Alakus und die Ausstellung "Unterm Strich - Karikatur und Zensur in der DDR" im Bonner Haus der Geschichte.

Die Forum-Seite übernimmt aus der Washington Post eine scharfe Polemik des Psychiaters und Publizisten Charles Krauthammer gegen Steven Spielbergs "München"-Film: "München, das Massaker, war nur eingeschränkt erfolgreich, mit dem Blut von elf Juden die palästinensische Sache zu befördern. 'München', der Film, hat den Erfolg jedoch 34 Jahre später vollkommen gemacht."

Das Magazin bringt ein Interview mit Bono, der für sein humanitäres Engagement den deutschen Medienpreis erhalten hat.

SZ, 26.01.2006

Seit Dienstag hat Dänemark einen Kanon aus 108 maßgeblichen Werken aus Kunst und Kultur, informiert Christoph Bartmann. Auch wenn Kirchen und Comics sich auf der Liste einträchtig nebeneinander finden ist es ein bürgerliches Projekt, meint Bartmann. "Man wird ihn in der Schule unterrichten, und man wird außerdem, so hat es Mikkelsen schon angekündigt, darauf achten, dass die dänischen Kulturinstitutionen kanon-nah operieren. Das dänische Kulturleben wird sich somit, wenn es in den Genuss von Subventionen kommen will, als Ganzes retrospektiv zu organisieren haben; ein Umstand, in dessen Vorahnung sich schon jetzt Hunderte dänischer Künstler in Berlin niedergelassen haben. Der Minister bestreitet zwar diese Tendenz, aber was wäre sonst bürgerlich an seinem Kanon als dieses: die großen Leistungen der nationalen Kultur im Bewährten und Hergebrachten zu erkennen?"

Weitere Artikel: Jens Bisky berichtet, dass das Dokumentationszentrum der Stiftung Topografie des Terrors in Berlin wahrscheinlich nach den "zurückhaltenden" Entwürfen der Architektin Ursula Wilms aus dem Berliner Büro Heinle, Wischer und Partner und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann gebaut werden wird. Bernd Graf resümiert den von Hubert Burda in München abgehaltenen Digital Lifestyle Day, auf dem über die Zukunft der Medien und damit des Internets diskutiert wurde. Gemeldet wird, dass Scotland Yard den "Meltdown Mob" jagt, eine Bande, die vor kurzem unter anderem eine der drei Skulpturen der "Three Watchers" (Bild) von Lynn Chadwick gestohlen hat, um sie einzuschmelzen. "Holi" schreibt zum Tod des Kurators William S. Rubin. Auf der Medienseite stellt Kai-Hinrich Renner den vom 31-jährigen Rudolf Hetzel gegründeten PR-und Medienverbund "Helios" vor, der heute den besten Journalisten in Berlin mit dem "Prometheus" auszeichnet.

Auf der Filmseite erinnert sich Volker Schlöndorff an den Produzenten Franz Seitz, der ihm mit "Tonio Kröger" seine erste Chance gab. Außerdem unterhält sich Susan Vahabzadeh mit Michael Haneke über dessen neuen Film "Cache", der daneben von Fritz Göttler besprochen wird. Besprochen werden außerdem Buket Alakus' "Eine andere Liga" sowie Siegfried Kammls österreichisches Roadmovie "Blackout Journey".

Besprochen werden die Aufführung von Christoph Willibald Glucks Oper "Alceste" in Stuttgart, bei der sowohl Sängerin Catherine Naglestad als auch Regisseur Jossi Wieler "triumphierten", und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks Reisenotizen "Unterwegs nach Babadag", Patrick Wagners Untersuchung von "Bauern, Junkern und Beamten" im Ostelbien des 19. Jahrhunderts sowie Francesco Petrarcas "grandioser" Dialog mit Augustinus "Secretum meum" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).