Heute in den Feuilletons

Amnestie für Mord?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2008. Die taz überlegt, ob es in Sachen RAF einen Deal Wahrheit gegen Straffreiheit geben kann. Die SZ lauscht Diskussionen über Gerhard Richters brennende Kerze in Peking. In der Welt erklärt der Historiker Bernd Sösemann, wie Hitlers "Mein Kampf" zu edieren ist. Die FAZ beschreibt den neofaschistischen Geschichtsrevisionismus in Italien.

TAZ, 20.05.2008

Stefan Reinecke stellt das Buch "Stumme Gewalt: Nachdenken über die RAF" von Carolin Emcke vor, Journalistin und Patenkind des RAF-Opfers Alfred Herrhausen. Sie schlägt vor, dass die RAF-Täter die Wahrheit sagen über die nie aufgeklärten Morde an Karl-Heinz Beckurts, Ernst Zimmermann, Eckhard Groppler, Detlev Karsten Rohwedder, Alfred Herrhausen und Gerold von Braunmühl und dafür straffrei bleiben sollen. Beigestellt sind mehrere Einschätzungen zu diesem, darunter von Horst-Eberhard Richter, Uwe Wesel und Bommi Baumann. Exbundesinnenminister Gerhart Baum meint: "Amnestie für Mord kann es nicht geben. Wir sind mit diesen Forderungen schon während der akuten RAF-Zeit konfrontiert worden und haben sie abgelehnt. Die Überlegung, die Mörder zum Reden zu bringen, indem man ihnen Straffreiheit verspricht, ist nach unserem Rechtsempfinden abwegig."

Weitere Artikel: Wolfgang Ullrich betreibt die Dekonstruktion von Billigläden und räsoniert dabei über Massenproduktion oder gebrochene Gebrauchswertversprechen. Maryam Schumacher informiert in einem Brief aus Teheran, dass sich der Filmregisseur und Lyriker Abbas Kiarostami mit einer persönlich bearbeiteten und neu interpretierten Neuedition von Versen von Saadi und Hafes, beides Dichter aus dem 13. und 14. Jahrhundert, an persische Hochkultur gewagt hat. Cristina Nord berichtet aus Cannes über ein Zweiklassensystem bei Presseakkreditierungen, das verhinderte, dass sie den neuen Indiana Jones begutachten konnte, und schreibt dafür über den Wettbewerbsbeitrag "Le silence de Lorna" (Lornas Schweigen) der Brüder Dardenne. Sonja Eismann stellt das Debütalbum der afroamerikanischen Sängerin Santogold aus Brooklyn vor.

Besprochen wird Jan Bosses Inszenierung "Anna Karenina" nach Tolstois Roman bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.

In tazzwei erklärt der Historiker Volker Depkat, warum die Amerikaner eher Persönlichkeiten als Parteien wählen und was am Phänomen Barack Obama, der heute seinen Sieg über Clinton verkünden will, so fasziniert.

Schließlich Tom.

Welt, 20.05.2008

Der Historiker Bernd Sösemann zeichnet in einem Artikel die Geschichte der Auflagen von Hitlers "Mein Kampf" nach. In einem zweiten Text (Teil 1, Teil 2) legt Sösemann die acht editionswissenschaftlichen Schritte dar, die bei einer Standards setzenden, kommentierten deutschen Neuauflage zu beachten seien. "Wenn Hans-Ulrich Wehler kürzlich meinte, es bedürfe für die Veröffentlichung einer historisch-kritischen und kommentierten Ausgabe von 'Mein Kampf' lediglich einer Handvoll Wissenschaftler und einer Beareitungszeit von rund fünf Monaten, dann unterschätzt er den notwendigen Aufwand für eine seriöse Edition."

Weitere Artikel: Hannes Stein berichtet über eine New Yorker Tagung zum Thema "Juden und Macht". In der Glosse bereitet Wieland Freund die Raucher auf neues Ungemach vor: Nachdem sie vor die Tür getrieben wurden, verursachen sie jetzt gesundheitsgefährdenden "Raucherlärm". Alan Moore spricht im Interview über seinen Erotik-Comic "Lost Girls" (mehr hier), den er zusammen mit "seiner Frau", so die Welt, geschrieben hat; die Frau heißt Melinda Gebbie. Matthias Heine schreibt zum 100. Geburtstag von Jimmy Stewart.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Erste Weltkrieg und die Kunst" im Landesmuseum Oldenburg und der Ballettabend "With/Out Tutu" mit dem Berliner Staatsballett.

FR, 20.05.2008

Wolf Kampmann kehrt zufrieden vom Jazzfestival in Moers zurück, das sich in diesem Jahr offenbar nicht gänzlich den Erwartungen seiner Zuhörer verschloss und vor allem mit dem Txalaparta-Spiel der baskischen Schwestern Maika und Sara Gomez Aufsehen erregte. Theaterproduzent Tom Stromberg eilt durch die Theaterlande von Festival zu Festival und von Berlin über Mülheim und Düsseldorf bis nach Brüssel. In Times Mager widmet sich Hans-Jürgen Linke dem Streik in Norwegen, der nun selbst Seine Majestät Harald V. am Fliegen hindere. Gerhard Midding schreibt über James Stewart, der heute vor hundert Jahren geboren wurde. Und weil sie so schön war, ist heute noch einmal Daniel Kothenschultes Eloge auf Woody Allens neuen Film "Vicky Cristina Barcelona" zu lesen.

Besprochen werden die Ausstellung "Access to Israel 1" im Jüdischen Museum Frankfurt, das Stück "Das Herz ist eine Revolutionäre Zelle" im Theater Landungsbrücken in Frankfurt, der arte-Film "Konspirantinnen" über die Frauen im polnischen Widerstand, Thomas Pynchons "auf der Nullachse" flirrender Roman "Gegen den Tag" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 20.05.2008

Christoph Funke resümiert das diesjährige Theatertreffen in Berlin, das erschreckend glatt über die Bühne lief: "Die Jury des Theatertreffens achtete geradezu ängstlich darauf, Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen, sie setzte auf angenehm konsumierbare Aufführungen oder fand keine anderen."

Weiteres: Joachim Güntner ist begeistert, dass die Deutsche Akademie "der westlichen Ignoranz" gegenüber der Ukraine trotzte und ihre Frühjahrstagung in Lemberg abhielt, einer "bis in ihre Fundamente hinein europäischen" Stadt. Benno Schubiger beschreibt den Versuch der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, die seit 1927 erscheinende Buchreihe "Kunstdenkmäler der Schweiz" fit für die Zukunft zu machen.

Besprochen werden der Gedichtband "Ithaka" des Serben Milos Crnjanski, die Erzählsammlung "Zähne und Klauen" von T. C. Boyle, Christina Haberlinks Ausstellungskatalog "Das Münchner Ensemble um Dieter Dorn" sowie Erzählungen von Higuchi Ichiyo, die mit 24 Jahren 1896 in Tokio an Tuberkulose starb (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.05.2008

In kleinen Tagebuchvignetten berichtet der Schriftsteller, Sinologe und Kursbuch-Herausgeber Tilman Spengler über eine Chinareise. Der Besuch einer Ausstellung mit Gemälden von Gerhard Richter im Nationalen Kunstmuseum von Peking brachte folgenden Eintrag: "'Ich habe dieses Bild von Herrn Gerhard Richter mit großer Befriedigung gesehen', sagt die ältere Graphikerin am Abend der Eröffnung über ein Gemälde aus den achtziger Jahren, 'es ist ja nicht besonders groß, das Bild, ich rede von der brennenden Kerze. Vermutlich hat Herr Richter dabei an das olympische Feuer gedacht. Bilder sagen eben mehr als Worte.'"

Weitere Artikel: Hans Wolter erklärt in einer kleinen Apologie Italiens die Mechanismen negativer Urteilsbildung über das Land. Hermann Unterstöger rügt in der "Zwischenzeit" unter anderem ausdrücklich die Zeit für ihre Verhunzung des Bayrischen. Helmut Böttiger informiert über eine Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Lemberg. Tobias Kniebe berichtet aus Cannes unter anderem über "Le silence de Lorna" (Lornas Schweigen) der Brüder Dardenne. "Sympathischen Irrwitz" bescheinigt Ingo Peitz der Performance des Italo-Schweizers Massimo Furlan, der im Wiener Hanappi-Stadion das "Wunder von Cordoba" nachspielte. Jörg Königsdorf informiert, dass die Berliner Oper unter den Linden aus akustischen Gründen einen völlig neuen Zuschauerraum erhalten muss. Krista Maidt-Zinke resümiert die Regensburger Tage für Alte Musik. Willi Winkler würdigt im Nachruf den verstorbenen schottischen Schriftsteller Jeff Torrington und Michael Struck-Schloen den Klassikmoderator Jolyon Brettingham-Smith.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Tierbildern von Jean-Baptiste Oudry im Staatlichen Museum Schwerin, Frank Castors Inszenierung von Wolfgang Riehms Jugendoper "Jakob Lenz" nach Büchner bei den Wiener Festwochen, Paul Weilands Screwball Comedy "Verliebt in die Braut", das Album von Ex-Böhser-Onkel Stephan Weidner, das am "Tabu des Bösen lutscht", und Bücher, darunter die Korrespondenz zwischen Peter Handke und Alfred Kolleritsch und eine Streitschrift von Christian Füller zur Bildungspolitik (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.05.2008

In Italien schreitet der neofaschistische Geschichtsrevisionismus voran. Dirk Schümer will kein ganz einseitiges Bild zeichnen, nennt aber erschreckende Beispiele: "Der 'Alleanza nazionale'-Bürgermeister von Triest weigerte sich, am Befreiungstag teilzunehmen, und wollte stattdessen nur die Opfer der Tito-Besatzung in der Stadt ehren. Ebenfalls in Triest zogen Schwarzhemden zum Haus der slowenischen Minderheit und beschimpften sie als uneuropäische Kommunisten. In Mantua versuchten Nachfahren eines faschistischen Säuberers einen nach ihm benannten Ehrenpreis ausgerechnet an einem Gymnasium zu etablieren, das nach einem jüdischen Opfer der Schoa benannt ist. Hinzu kamen unzählige kleine Tabubrüche, die vom römischen Gruß und Duce-Verherrlichung im Fußballstadion bis zum Gesang der 'Giovinezza'-Hymne bei öffentlichen Anlässen reichen."

Weitere Artikel: Gekürzt abgedruckt wird die Dankesrede der Autorin Inge Deutschkron zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises, die sie mit einer abgewandelten Version der "Zehn kleinen Negerlein" beginnt: "Zehn kleine Meckerlein, die saßen einst beim Wein; Der eine machte Goebbels nach, da waren es nur noch neun!" Auf einer ganzen Seite wird ein Gespräch abgedruckt, das Patrick Bahners mit Wolfgang Schäuble geführt hat. Es geht um Toleranz, Islam, Integration, das Grundgesetz. Es steht nichts Überraschendes drin. Jochen Hieber fühlt sich in der Glosse durch die Erfolgsgeschichte des Bundesliga-Aufsteigers TSG Hoffenheim an den Beinahe-Präzedenzfall des SV Alsenborn erinnert. Jürg Altwegg berichtet, wie Frankreichs Neocons sich von George W. Bush distanzieren. Das Bienensternben am Oberrhein hat jetzt, wie wir von Ludger Fittkau erfahren, zu Konsequenzen geführt: Eine ganze Reihe Insektizide, die das Nervengift Clothianidin enthalten, wurden verboten. Alexander Cammann porträtiert den Historiker Edgar Feuchtwanger, Bruder des Schriftstellers Lion und Sohn des Verlegers Ludwig Feuchtwanger, dessen Briefwechsel mit Carl Schmitt er jetzt herausgegeben hat. Lisa Zeitz gibt als gewiss verkaufte Informationen weiter, dass Multimilliardär und FC-Chelsea-Eigentümer Roman Abramowitsch die Rekordpreis-Gemälde von Lucian Freud und Francis Bacon ersteigert hat. Auf der Medienseite informiert Dirk Schümer über niederländische Proteste gegen die Verhaftung des Cartoonisten Gregorius Nekschot, zu dessen reizenden Einfällen die "Darstellung des einstigen niederländischen Entwicklungshilfeministers, der auf Schwarze uriniert, oder die von Anne Frank beim Sex mit Mohammed" gehören.

Besprochen werden der neue "Indiana Jones" (Verena Lueken findet ihn "retroartig in jeder Hinsicht", aber durchaus vergnüglich), Olivier Pys Pariser Inszenierung der "Orestie", Peter Steins Mailänder Inszenierung von Luigi Dallapiccolas Zwölfton-Kurzoper "Il Prigioniero" und Bela Bartoks Einakter "Herzog Blaubarts Burg", Nikolaus Harnoncourts Neueinspielung von Robert Schumanns heute nurmehr selten zur Aufführung gebrachtem Oratorium "Das Paradies und die Peri", ein Aufführungszyklus mit allen Shakespeare-Historien in London, ein Richard-Thompson-Konzert in Frankfurt, zwei Comics, aus denen viel über die Zustände in der birmesischen Diktatur zu erfahren ist, und eine Übersetzung der Sonette Edmund Spensers unter dem Titel "Die Lilienhand" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).