Heute in den Feuilletons

"Traurige Frauenschicksale supreme"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2007. In der taz kritisiert Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag die Rabatt- und Verramschungspolitik der großen Verlage. Der Tagesspiegel findet die Vergabe des Deutschen Buchpreises an Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" wegen hoher Zielgruppenkompatibilität irgendwie konsequent. Die Welt ist mit der Wahl einverstanden, fand aber schon die Longlist vollkommen richtungsfrei. Die NZZ besucht eine Englisch-Sommerschule im brandenburgischen Dorf Wust. Die SZ untersucht den leisen Fundamentalismus in der Schweiz. In der FAZ erfahren wir, welcher Autor den Leser treten und welcher ihn lieben will.

TAZ, 09.10.2007

"Das neue Selbstbewusstsein der Literatur" verkündet die taz in einem Dossier zur Buchmesse. Jörg Sundermeier, Leiter des kleinen Berliner Verbrecher Verlags, legt auch gleich los und macht die Rabatt- und Verramschungspolitik der großen Verlage für die gefährdete Buchpreisbindung verantwortlich. "Es ist bekannt, dass mittlere und größere Verlage den Großbuchhandlungen Rabatte von bis zu 50 Prozent einräumen, von denen kleine Buchhandlungen nur träumen können. Zudem erhalten die großen Ketten volles Remissionsrecht, was heißt, sie könnten, sollte wirklich kein einziges Exemplar eines Titels verkauft werden, die bestellten zehn Paletten Bücher zurückschicken - sie sind also gewissermaßen nur Händler von Kommissionsware. (...) Darum: Verlegerinnen und Verleger, die den Verdrängungswettbewerb der Großfilialisten und die Ramscher befördern, sollten vom 'Kulturgut Buch' lieber schweigen. Sie verhökern eine Ware wie jede andere auch. Und dann, da haben die Kritiker aus Brüssel recht, ist die Preisbindung nur eine illegitime Wettbewerbsverhinderung."

Für Dirk Knipphals geht der Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit - "Goodbye, bildungsbürgerliches Kulturfundament! Und hallo, kreativindustrielles Umfeld!" - okay. Alexander Cammann stellt die (relativ) neuen Verlagschefs von Wagenbach, Rowohlt und Fischer vor. Frank Schäfer hofft, dass die jungen unabhängigen Kleinverlage - "Tropen, Verbrecher, Tisch 7, Blumenbar, SchirmerGraf, kookbooks, Liebeskind, Ventil, Voland & Quist und all die anderen" - auch weiter für Überraschungen gut sind.

Im Kulturteil erklärt Katrin Bettina Müller in ihrem Bericht vom Steirischen Herbst (Programm) die Abwesenheit des Skandals zum neuen Skandal. Björn Gottstein begleitet die Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik auf einem Besuch in Warschau. Helmut Höge stößt frei flottierende Gedanken zur indischen Eroberung des Berliner Restaurantsektors aus. In der zweiten taz dreht sich alles um Ernesto "Che" Guevara, und das nicht sehr schmeichelhaft. Gerhard Dilger eruiert, ob Lateinamerikaner Che als "Beitrag zur allgemeinen Verblödung" sehen, Toni Keppeler erinnert an die wenig romantischen historischen Tatsachen, und Felix Rohrbeck annonciert eine Doku morgen im ZDF, in der das letzte Foto des lebenden Che als eine Fälschung dargestellt wird.

Eine Besprechung widmet sich der Ausstellung "Talking Pictures" über das Interesse am Theater bei Film- und Videokünstlern in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

Und Tom.

Tagesspiegel, 09.10.2007

Für Gerrit Bartels ist die Entscheidung, Julia Franck den Deutschen Buchpreis zu verleihen, irgendwie konsequent: "Tatsächlich ist 'Die Mittagsfrau' nicht das Gelbe vom Ei der deutschprachigen Literatur - ein Michael Köhlmeier oder eine Katja Lange-Müller wären mit ihren Romanen 'Abendland' und 'Böse Schafe' bei weitem die verdienteren Preisträger gewesen... Der Deutsche Buchpreis für Franck ist einmal mehr eine typische Jury-Entscheidung. Ein Buch mit hoher Zielgruppenkompatibilität. Ein Buch, das bei allen Schwächen, bei allem eigenartigen Vorsichhindämmern, das immer wieder die Frage auffwirft, warum Franck uns das eigentlich alles erzählt, sein Publikum finden wird und schon gefunden hat: Letzte Woche stand 'Die Mittagsfrau' auf Platz 17 der Spiegel-Bestsellerliste. Eine Mutter, die ihren halbwüchsigen Sohn am Ende des Zweiten Weltkriegs auf einem Bahnhof allein stehen lässt und nicht wieder sehen will, da wollen viele wissen, wie es dazu kommt. Traurige Frauenschicksale supreme, aber sicher kein 'Roman für lange Gespräche', wie die Jury sagt."

Welt, 09.10.2007

Mit der Wahl von Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" als Buchpreis-Gewinner ist Elmar Krekeler durchaus einverstanden, dafür tritt er aber gegen die Gesamtauswahl noch einmal nach: "Aus dem überwältigend dichten Angebot großartiger Romane hatte die Jury um Felicitas von Lovenberg eine politisch allzu korrekte und geradezu öffentlich-rechtlich ausgewogene Langliste zusammengestellt, die eine fatale Schlagseite zur Unterhaltungsliteratur hatte, in ihrer exquisiten Balanciertheit aber vollkommen richtungsfrei war."

Weitere Artikel: Im Interview spricht Mennan Yapo - dessen Film "Die Vorahnung" mit Sandra Bullock am Donnerstag in die Kinos kommt - über das Interesse Hollywoods an jungen deutschen Regisseuren wie ihm. Als "Entsorgung" der verbliebenen Humboldt-Reste sieht Berthold Seewald die Bachelor-Master-Reform an deutschen Universitäten. Uwe Schmitt stellt fest, dass Seattle zum Zentrum der digitalen Unterhaltungsindustrie geworden ist. Jennifer Wilton gibt einen Überblick über die katalanische Literatur, der der diesjährige Buchmessen-Schwerpunk gewidmet ist. Nicht völlig überzeugt klingt Thomas Lindemann nach dem Finale des Poetry-Slam in Berlin. Auf eine Arte-Reihe zum Thema "Demokratie - für alle?" macht Marina Anselm aufmerksam.

Besprochen werden Petra Luisa Meyers Potsdamer Uraufführung ihres Textcollagen-Stücks "Putin hat Geburtstag - Ein Abend für Anna Politkowskaja", Juliane Vottelers Augsburger Inszenierung von Jaromir Weinbergers Oper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" und Martin Jankowskis Buch "Der Tag, der Deutschland veränderte".

NZZ, 09.10.2007

Sieglinde Geisel stellt die Englisch-Sommerschule in dem brandenburgischen Dorf Wust vor. Sie verdankt ihre Existenz vor allem bürgerschaftlichem Engagement. "Das Budget liegt bei 40.000 Euro, etwa ein Drittel stammt aus der öffentlichen Hand sowie von einem Sponsor. Für den Rest kommen die Teilnehmer mit den Kursgebühren auf sowie private Spender, darunter ein Gönner aus den USA. (...) Doch entscheidend für das Funktionieren dieses West-Engagements im ländlichen Osten ist die Haltung der Beteiligten. Es herrscht keine Privatschulen-Atmosphäre, sondern man lässt sich auf den Ort ein. Man isst im 'Schwarzen Adler', dessen Speisekarte alle Klassiker der DDR-Küche führt, von Soljanka über Würzfleisch bis zum Steak au four. Nur Neulinge kommen auf die Idee, einen Espresso zu bestellen." Der Bürgermeister des Dorfs kommt übrigens aus Waldshut und spricht Schweizerdeutsch.

Weitere Artikel: Jak. berichtet über einen Skandal in Katalonien: Dort war "eine 'furchtbare und uruguayische Poetin namens Cristina Peri Rossi', so wörtlich die nur durch Subventionen am Leben erhaltene katalanischsprachige Tageszeitung Avui, ... Ende September von einem Programm des öffentlichrechtlichen Senders Radio Catalunya ausgeschlossen (worden), weil sich die seit 1973 in Barcelona wohnhafte Dichterin in den spätnächtlichen Diskussionsrunden als Einzige der spanischen und nicht der katalanischen Sprache bediente." Markus Jakob zeichnet ein kurzes, aber lebhaftes Porträt des katalonischen Urban-Anthropologen Manuel Delgado. Gabriele Detterer war bei der Wiedereröffnung der renovierten Villa Romana in Florenz. Eine Meldung informiert uns, dass Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007 erhält.

Besprochen werden eine Ausstellung der Möbelkunst von Abraham und David Roentgen im Kunstgewerbemuseum Berlin und Bücher, darunter Patrick Modianos Jugendautobiografie "Ein Stammbaum" und Alan Weismans Buch "Die Welt ohne uns" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 09.10.2007

Martina Meister besichtigt das für 80 Millionen Euro entstaubte Pariser Architekturmuseum und bestaunt die französische Kritiklosigkeit am Bauen an sich. "Eindrucksvoll wird dem Besucher der Umbau von Paris durch Haussmann vor Augen geführt, der das mittelalterliche Paris hat abreißen lassen, was Kenner als das größte 'urbanistische Verbrechen' überhaupt bezeichnet haben. Aber von Einwänden und Infragestellungen dieser Art ist keine Spur. Auch das Kapitel über die ersten Sozialbauten der sechziger Jahre bleibt seltsam unvollständig. Hätte nicht ein Hinweis auf die Revolte in den 'banlieues' oder eine Fotodokumentation über die absichtliche Zerstörung von Hausfluren und Fahrstühlen die Entwicklung von der Utopie zur Wirklichkeit ergänzen müssen? Mit kritischen Frage aber wird hier niemand belästigt.

Weiteres: Martin Zähringer stellt den katalanischen Dichter Joanot Martorell vor, dessen 1490 veröffentlichtes Abenteuerbuch vom Ritter Tirant Lo Blanc von dessen engagiertem deutschen Übersetzer Fritz Vogelgsang allerdings selbst als ideologische Aufrüstung des christlichen Rittertums gegen den Islam gewertet wurde. Gemeldet wird, dass Julia Franck für ihren Roman "Die Mittagsfrau" den Deutschen Buchpreis erhält. Bei Craig Venters Generfolgen wird Christian Schlüter in einer Times mager ganz apokalyptisch zumute.

Besprochen werden die "umjubelte" Uraufführung der "Verbrennungen" des kanadisch-libanesischen Autors Wajdi Mouawad durch Stefan Bachmann am Wiener Akademietheater sowie zwei Ausstellungen mit Fotografien aus der Kölner Nachkriegszeit im Kölner Museum Ludwig.

SZ, 09.10.2007

Der Fundamentalismus in der Schweiz kommt erschreckend pragmatisch daher, meint Joseph Hanimann. Die rechtspopulistische SVP profitiere von der Schweizer Angewohnheit, selbst die Ausnahme normal erscheinen zu lassen. "Anders als Le Pens Front National in Frankreich, als die norditalienischen oder flämischen Regionalisten, als die polnischen Nationalisten, als Haiders Liberal-Patrioten und die sonstigen europäischen Fundamentalvarianten gegen die Globalisierung braucht die SVP-Ideologie keine kernigen Sätze, pointierten Provokationen und sakralisierten Prinzipien, sondern klingt irgendwie immer ein paar Töne zu leise. Das macht sie weit herum hörbar, weiter als ihre Schwesterparteien, und veranlasst auch die Gegner zu moderaten Antworten im Namen der höheren Vernunft."

Es gibt auch in China schon genügend Gesetze gegen Raubkopien, meint der Jurist Rainer Erd. Es mangelt nur an Unrechtsbewusstsein, was sich aber wenigstens philosophisch solide begründen lässt. "Zunächst die Tradition des Konfuzianismus, in der der Schutz des geistigen Eigentum nachrangig ist. Klug ist danach ein Handeln, das fremde Leistung aufgreift, sie sich aneignet und sodann nutzt. Der Plagiator, hierzulande verfemt, ist in China eine weise handelnde Person. Auch im Lernverhalten von Studierenden lässt sich dies beobachten. Es zielt nicht auf die Erarbeitung von eigenständig erworbenem Wissen, sondern auf das Nachahmen eines Vorbilds."

Weitere Artikel: Julia Franck erhält für ihren Roman "Die Mittagsfrau" den Deutschen Buchpreis, meldet "tost". In der jüngeren deutschen Geschichte gibt es seit der Leipziger Montagsdemonstration keinen Tag, der so für Freiheit und Gewaltlosigkeit steht wie der 9. Oktober 1989, schreibt Jens Bisky. Jonathan Fischer unterhält sich mit dem Reggae-Musiker Gentleman, der als Kölner Pastorensohn in Jamaika aufnimmt, auf Patois singt und sogar im Radio läuft. Ernesto "Che" Guevara erlebt mit dem Erfolg der Linksregierungen in Lateinamerika vierzig Jahre nach seinem Tod eine Renaissance als Galionsfigur, behauptet Peter Burghardt. Ernst Noltes groß aufgemachte Rezension der Erinnerungen von Joachim Fest und Günter Grass im Figaro bringt für "wms" nichts Neues. Wolfgang Schreiber nimmt sich eine "Zwischenzeit", um die selbstbewusste Eigensinnigkeit des Pianisten Glenn Gould zu bewundern.

Auf der Literaturseite berichtet Hans-Peter Kunisch vom europäischen Poesiefestival im rumänischen Hermannstadt. Lothar Müller unterhält sich mit Woody Allen über dessen neue komische Erzählungen "Pure Anarchie". "Was ist das Zentrum des Lebens?" - Allen: "Das Zentrum des Lebens ist tragisch."

Besprochen werden die Schau mit Eugene Atgets "grandiosen" Fotografien des alten Paris im Berliner Martin-Gropius-Bau, Sasha Waltz' "grandiose" Choreografie zu Hector Berlioz' "Romeo et Juliette" an der Pariser Opera Bastille, Michael Thalheimers grandiose, nein "klug entschlackte" Aufführung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" am Deutschen Theater Berlin, und Greg Mottolas Highschool-Filmkomödie "Superbad".

Die heutige Literaturbeilage eröffnet Thomas Steinfeld mit einer Hymne auf den Ritterroman im Allgemeinen, der seinen Informationen zufolge das "meistgelesene literarische Genre" ist, und im Besonderen Joanot Martorells Roman vom Weißen Ritter Tirant Lo Blanc aus dem 15. Jahrhundert.

FAZ, 09.10.2007

In Manchester beging man die Berufung des Autors Martin Amis auf den Lehrstuhl für Creative Writing mit einer Podiumsdiskussion unter anderem über das Wesen des Romans, die mit - neben Amis - John Banville und Will Self illuster, wenngleich in der Kombination etwas kurios besetzt war. Gina Thomas war vor Ort: "Während Amis seine, wie er etwas gravitätisch meinte, 'kühne Feststellung' erläuterte, wonach der Roman auf der Liebesbeziehung zum Leser beruhe, erwiderte Self, er hasse den Leser, er wolle ihn treten, er wolle mit ihm schlafen, er wolle ihn in Verlegenheit bringen, um dann kundzutun, dass er nur für sich selbst schreibe und zudem, als ausgesprochener Technikfeind, eine uralte Schreibmaschine benutze. Banville bezeichnete das Buch als die erotischste Erfindung aller Zeiten und gestand, erst nach Fertigstellung des Manuskripts an den Leser zu denken."

Weitere Artikel: Wenig Grund zur Beruhigung sieht Jürgen Kaube beim Gedanken an die Zukunft, die der Welt mit dem Klimawandel bevorsteht. "jvo" muss in der Glosse konstatieren, dass der Evolutionsbiologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt von der Kunst wenig Ahnung hat. Reinhard Wandtner stellt die Arbeit der diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger Mario Capecchi, Martin Evans und Oliver Smithies vor. Christina Hoffmann hat sich in der Bayerischen Staatsbibliothek den Giftschrank angesehen, der, findet sie, "Stoff für eine Kulturgeschichte des Verbotenen" böte. Aus Russland berichtet Kerstin Holm, dass der rechte "Staatsclown" Wladimir Schirinowskij sich jetzt mit Andrej Lugowoj zusammengetan hat, der als Drahtzieher des Mordes an Alexander Litwinenko verdächtig ist. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass in Russland eine Konferenz zum Gedenken an Anna Politkowskaja abgesagt werden musste, vor allem, weil die Konten der Organisatoren eingefroren wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "Turner, Hugo, Moreau. Entdeckung der Abstraktion" in der Frankfurter Schirn, die Hannoveraner Uraufführung von Tankred Dorsts Stück "Ich bin nur vorübergehend hier", die Kieler Festaufführung von Beethovens "Fidelio", eine Mannheimer Ausstellung mit Polizeifotografie, die zweite Box der Gulda Mozart Tapes und Literatur, darunter Michael Kleebergs Roman "Karlmann" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).