Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2005. Die FAZ berichtet über einen kleinen Medienkrieg zwischen Russland und Polen. Die NZZ sieht durch Götz Alys Buch "Hitlers Volksstaat" einen neuen Historikerstreit heraufziehen. Die SZ versichert: Nicht jeder junge Mann ist ein Problemfall. In der FR erinnert Franzobel an Jules Verne.

NZZ, 24.03.2005

Joachim Güntner sieht in Götz Alys Buch "Hitlers Volksstaat" einen "echten Kracher", dessen Behandlung der Schuldfrage für "einen veritablen Historikerstreit" sorgen könnte. "Er stellt sie, darin Goldhagen ähnlich, neu - und zwar so, dass es aufdringlich nach einer variierten Kollektivschuldthese riecht. Denn wenn der Holocaust von einer Staatsmacht exekutiert wurde, die sich auf ein Volk stützen konnte, das nur wegen seiner sozialpolitischen Korrumpierung so lange bei der Stange blieb, wie muss man dann die Verantwortung für die Verbrechen adressieren? Goldhagen mit Aly gemischt hieße: Hitlers willige Vollstrecker agierten vor dem Hintergrund eines Kollektives williger Profiteure."

Weiteres: Christoph Fellmann hört im Innersten von Becks neuem Album "Guero" nackten, tiefschwarzen Funk. Die Residents haben ihr Commercial Album neu und mit zusätzlicher DVD aufgelegt, Olaf Karnik findet es auch nach fünfundzwanzig Jahren noch großartig. Roman Bucheli gratuliert dem Schriftsteller Peter Bichsel zum Siebszigsten. Jürgen Ritte schreibt zum hundersten Todestag von Jules Verne.

Auf der Medienseite berichtet S.B, dass die Buchsuche zumindest auf den englischen Google-Seiten erste Resultate zeitigt: "Der Inhalt der Bücher wird nur in kleinen Auszügen als Bild, als Reproduktion der gedruckten Ausgabe, gezeigt. Auch bei Werken, die wie dasjenige 'Vom Ursprung der Arten' (1859) längst Allgemeingut geworden sind, zeigt Google aus der Ausgabe der Oxford University Press neben dem Inhaltsverzeichnis nur gerade zwei Seiten vor und nach Seite 206, auf der 'species' als Suchbegriff durch gelbe Übermalung hervorgehoben ist. Für all diese Umständlichkeiten und Beschränktheiten sind vermutlich nicht technische Gründe verantwortlich zu machen - Google verfügt über viele der besten Software-Ingenieure der Welt -, es sind wohl eher rechtliche und wirtschaftliche Überlegungen, die hier Zurückhaltung anmahnten. Vielleicht sind es auch politische oder psychologische Faktoren: Die Bibliothek gilt als Root Directory - früher hätte man gesagt: Eckstein - der Kultur, Digitalisierung dagegen wird neuerdings assoziiert mit Brandschatzung, Verwüstung, Plünderung"

Andrea Höhne und Stephan Russ-Mohl analysieren journalistische Mauscheleien unter einem ökonomischen Gesichtspunkt und stellen fest: "Bei schwersten Verstößen gegen journalistische Standards, insbesondere bei Fälschungen, werden ertappte Täter 'sichtbar' aus dem Verkehr gezogen. Beim mangelnden innerredaktionellen Qualitätsmanagement ändert sich jedoch nichts, die diesbezüglichen Probleme werden vom Medienjournalismus eher unter den Teppich gekehrt - und auch gegenüber den eigentlich Verantwortlichen für die gravierenden Qualitätsmängel lässt man Milde walten."

Monika Ermert berichtet, dass die Internet-Behörde ICANN grünes Licht für die .eu-Domain gegeben hat. Laut einer Meldung, von "vss" fürchtet der deutsche Journalistenverband, dass das geplante Stalking-Gesetz auch auf hartnäckigen Rechercheure angewandt werden könnte.

FR, 24.03.2005

Ja, was hilft es uns, dass vieles, wovon Jules Verne in seinen Romanen fantasierte, inzwischen längst machbar ist. Bringt uns das etwa zu uns selbst? So klagt und fragt der österreichische Schriftsteller Franzobel zum hundertsten Todestag (hier gehts zur offiziellen Gedenkseite) des Science-Fiction-Erfinders. "In Fitnessstudios werden Körper solange verbeult, bis sie aussehen wie elektrische Milchschäumer von Alessi. In Restaurants delektiert man sich an Embryos der Nil-Wasserschlange - pochiert in verdampftem Gold - und nippt Pandabärenmilch-Drinks, deren gestampftes Eis abertausende Jahre alt, aus einem Pol geschnitten worden ist. In Reisebüros kann man die tollsten Abenteuer buchen, Bungee Jumping aus (oder in?) Passagierflugzeugen, Tauchgänge zum Urankern Tschernobyls, und bald wohl auch Weltraumausflüge.Um sich seiner selbst zu vergewissern, braucht der aus seinem Mittelpunkt gerissene Mensch etwas immer noch Verrückteres, etwas immer noch Extremeres. Eines aber kann er nicht buchen, eine Reise zum Mittelpunkt der Erde. Schon gar nicht so eine, wie sie Jules Verne vor fast eineinhalb Jahrhunderten geschrieben hat."

Weiteres: Franz Anton Kramer feiert das legendäre französische Choreografenpaar Dominique und Francoise Dupuy als Wegbreiter des modernen Tanzes in Frankreich und ihren dreiteiligen Tanzabend "W.M.D.", mit dem sie jetzt im Pariser Theatre Chaillot Einblicke in ihre tänzerische Vorgeschichte wie ihr aktuelles Schaffen gegeben haben. Gemeldet wird der Tod des amerikanischen Historikers Herbert A. Strauss, Gründungsdirektor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Rudolf Walther widmet die Kolumne Times Mager dem Philosophen Rene Descartes (mehr hier) und runzelt die Stirn, dass die Universität in Utrecht erst 363 Jahre nach dem Verbot von Descartes Schriften den Philosophen rehabilitiert hat. Besprochen wird die große Bernhard-Heisig-Retrospektive im Leipziger Museum der Bildenden Künste.

In der FRplus fragt sich Tim Gorbauch, warum das Wort Krise in keinem einzigen deutschen Popsong auftaucht. Auf der Filmseite geht's um Paul Weitz' Komödie "Reine Chefsache", Bill Condons Film "Kinsey", Pirjo Honkasalos Film "The Three Rooms Of Melancholia" und Andrew Horns Film über den Sänger und Musiker Klaus Nomi "The Nomi Song".

TAZ, 24.03.2005

"Wenn es Kinsey nicht gegeben hätte, hätte Michel Foucault ihn sich ausdenken müssen", schreibt Diedrich Diederichsen zum Kinostart von Bill Condons Film über den Sexualforscher. "Selten hat eine Figur die Idee des Historikers, dass die Macht den Sex in den Griff bekomme, indem sie das Sprechen über Sex fördere und kontrolliere, anschaulicher verkörpert." Den Film findet Diederichsen trotzdem nicht gelungen. "Nur da, wo eine Konsequenz von Kinseys These die ganz großen Tabus antastet, wird die Probe aufs persönliche Exempel gemacht: Ehebruch und Homosexualität, das will einmal durchgespielt werden. Wollen doch mal sehen, ob der steife Prof mit seiner New-Deal-Körperlichkeit auch mit Knaben. Es gibt da einen sehr ansehnlichen Mitarbeiter, mit dem auch Hetero-Zuschauer ins Bett gehen würden. An ihm spielt das Ehepaar Kinsey das einmal durch. Es bleibt, glaubt man dem Film, bei je einem Mal. Mehr will das Experiment nicht, als sich zu vergewissern, dass der auch selber praktiziert, was er predigt... Der Rest wird unter die Konventionen des Biopic gekehrt."

Weitere Artikel: Anhand seines oscargekrönten Films "Million Dollar Baby" schlüsselt Andreas Busche Clint Eastwoods sozialpolitische Position zwischen Republikanern und Demokraten auf. Matthias Echterhagen schickt eine Postkarte aus Kasachstan.

Besprochen werden Billy Idols Comeback-Album "Devils Playground" und das neue Album von Stereo Total "Do The Bambi".

Schließlich Tom.

SZ, 24.03.2005

"Wenn Sie einem Mann auf der Straße begegnen, wechseln Sie zügig die Straßenseite", rät Alex Rühle leicht entnervt von holzschnittartigen Thesenbüchern über tumbe Jungen und troglodytische Männer sowie darin verbreitete neuere Theorien über die Ursachen wachsender Gewälttätigkeit junger Männer. "So sind junge Männer für Soziologen, was die Länder der Sahelzone für die Weltbank sind: ein ständiger Quell der Sorge, ohne Hoffnung auf Besserung."

Weitere Artikel: Zum heutigen Gründonnerstag legt sich Alexander Kissler für das Zölibat ins Zeug. Der Berliner Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber (mehr hier), macht sich stark für ein selbstbewusstes Vertreten europäischer Auffassungen zum Verhältnis von Religion und Politik, und zwar den USA ebenso wie dem Islam gegenüber. Hans Schifferle war auf dem Filmfestival "Diagonale" in Graz. Anke Sterneborg unterhält sich mit Liam Neeson, dem Darsteller von Professor Alfred C. Kinsey. Albert von Schirnding gratuliert Peter Bichsel (mehr hier) zum siebzigsten Geburtstag und Eva-Elisabeth Fischer berichtet mit großer Beglückung von der Eröffnung der Münchner Ballettwoche. Einer Meldung entnehmen wir, dass Klaus Pierwoß, Intendant des Bremer Theaters, enttäuscht das Handtuch wirft und seinen 2007 auslaufenden Vertrag nicht verlängern will.

Besprochen werden Gerhard Richters RAF-Zyklus in der Galerie Neuer Meister in Dresden, Bill Condons Film "Kinsey" ("Es ist ein Film über Statistiken, Gallwespen, Masturbation geworden ... kurz gesagt, einer der großen romantischen Filme des Jahres", hebt Fritz Göttler hervor, der das Werk als Wunder der Sinlichkeit preist.) Paul Weitz' Film "Reine Chefsache", John Pasquins Film "Miss Undercover 2" mit Sandra Bullock ("Ein Film über Frauen, in dem es nicht darum geht, einen passenden Mann zu finden, hat Seltenheitswert", stellt Susan Vahabzadeh mit einiger Zufriedenheit fest), Cong Sus Oper "Cuba Libre" im neuen Opernhaus von Erfurt (ein Unternehmen, das nach Ansicht von Jürgen Otten letztlich auf einem kaum diskursfähigen Niveau gescheitert ist), das neue Album von New Order "Waiting For The Sirens' Call" und Bücher über Jules Verne, darunter Alberto Savinios wunderbarer Essay "Jules Verne" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 24.03.2005

Eine Kiste mit Briefen Hans-Georg Gadamers aus der Nazizeit ist aufgetaucht, berichtet Uwe Wittstock. Die Briefe werfen neues Licht auf das Leben des Philosphen in jener Zeit: "Anrührend ist es zu sehen, mit welcher Intensität sich Gadamer darum bemüht hat, die Beziehungen zu den ins Exil gezwungenen Freunden am Leben zu erhalten. Er besucht Leo Strauss in Paris und pflegt engen Briefkontakt mit Löwith, dem er 1926 die Patenschaft für seine Tochter Jutta angetragen hatte."

FAZ, 24.03.2005

Karol Sauerland berichtet über einen kleinen Medienkrieg zwischen Polen und Russland: Die liberalkatholische Zeitschrift Tygodnik Powszechny zeichnete sich durch eine mit der Revolution in der Ukraine sympathisierende Berichterstattung aus. Nun zirkulieren im russischen Internet (etwa hier) gefälschte Artikel aus der Zeitung, die diese Sympathie mit Polens "Drang nach Osten" erklären, und außerdem werden die Server der Zeitung mit Viren überschwemmt: "Man muss wissen, dass Polen im offiziellen Russland von jeher als eine Kraft angesehen wird, der es um die Schwächung seines Nachbarn geht. Die Erklärung des polnischen Außenministers, dass die Ermordung von Maschadow ein politischer Fehler Moskaus gewesen sei, das Verständnis dafür, dass zwei baltische Republiken ihre Vertreter nicht zu der Siegesfeier am 9.Mai in Moskau senden werden, und die innerpolnische Debatte darüber, ob Präsident Kwasniewski an diesem Tag auch darauf verweisen soll, dass die Befreiung von der deutschen eine sowjetische Besatzung nach sich zog, versetzt gewisse Kreise in der russischen Hauptstadt verständlicherweise in Rage..." Die Kollegen von Tygodnik Powszechny hoffen auf die Solidarität von Kollegen im In- und Ausland, berichtet Sauerland.

Weitere Artikel: Im Aufmacher schreibt Dietmar Dath zum hundertsten Todestag von Jules Verne. Joseph Hanimann schlendert durch die Sartre-Ausstellung in der Bibliotheque nationale und berichtet über eine gewisse Sartre-Renaissance, die vor fünf Jahren durch Bernard-Henri Levys Sartre-Buch eingeleitet worden sei. Gerhard Stadelmaier kommentiert in der Leitglosse wiederholte Spenden und Praktikaangebeote, welche Claus Peymann ehemaligen Terroristen angedeihen ließ. Mark Siemons hat die deutsch-israelischen Literaturtage in Berlin verfolgt. Wiebke Hüster hörte ebendort einem Symposion über juristische Aspekte des Tanzes zu. Auf einer ganzen Seite denken Heinrich Wefing, Patrick Bahners und Christian Geyer über den Fall der Terri Schiavo und seine ethischen Abgründe nach (hier das Special des FAZ.Net). Dieter Bartetzko meldet, dass Frankfurts Gerbermühle umgebaut wird. Pia Reinacher gratuliert Peter Bichsel zum Siebzigsten.

Auf der Kinoseite erzählt Michael Althen, wie der Regisseur Paul Schrader es doch noch schaffte seine vom Studio auf Eis gelegte Version eines Prequels zum "Exorzisten" ins Kino zu bringen. Und Martin Kämpchen porträtiert den indischen Schauspieler Amitabh Bachchan, der in in seinem neuesten Film "Black" einen Alzheimerkranken spielt.

Auf der letzen Seite schildert Susanne Klingenstein ausführlich die Schwierigkeiten des Harvard-Präsidenten Lawrence H. Summers. Michael Gassmann erklärt, warum die Katholiken zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag statt mit Glocken mit Ratschen zum Gottesdienst rufen.

Besprochen werden eine Ausstellungen über die Geschichte von Frauenklästern in Essen und Bonn und Paul Weitz' Film "Reine Chefsache".