Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2006. Die Zeit stellt fest, dass im interaktiven Internet keine Schwarmintelligenz wirkt, sondern Herdenmentalität: Der Prozess ist reine Dynamik. In der Berliner Zeitung entlarvt Khalid Al-Maaly die Doppelzüngigkeit arabischer Intellektueller. Passend dazu berichtet die NZZ von einer peinlichen Solidaritätsadresse ebendieser an Günter Grass. Die SZ konstatiert ein neues Behagen am nautisch-militaristischen Jargon. Die FAZ schwärmt von Tom Tykwers atemberaubender "Parfüm-Verfilmung", und in der taz erinnert der Regisseur: "Das Buch riecht auch nicht."

Zeit, 14.09.2006

In einem ausführlichen Text zur Eroberung des Internets durch die Laien stellt Thomas Groß "sieben Thesen zur digitalen Zukunft" auf. Eine lautet, dass sich in der simultanen Vernetzung von Information jeglicher Sinn zerstreut: "Das semantische Web, von dem die Programmierer träumen, wird vorerst Illusion bleiben. Solange kein künstliches Denken die reale Vernetzung der Information zu erfassen vermag, erleiden die Versuche, das Unhierarchisierbare zu hierarchisieren, regelmäßig Schiffbruch. Die tatsächliche Bewegung im Netz folgt einer Logik, des Epidemischen, die von Bloggern, Zukunftsforschern und Mediaunternehmen als 'Schwarmintelligenz' beschrieben wurde. Das Bild ist schief, weil es die mediale Ausweitung des Körpers mit natürlichen Vorgängen in eins setzt. Tatsächlich handelt es sich um einen Netzwerkeffekt: Der Schwarm schwimmt einfach nur in die Richtung, in die alle anderen auch schwimmen beziehungsweise klicken. Dennoch ist damit etwas Richtiges benannt: Die Art und Weise, wie Internet-Inhalte sich verbreiten, folgt keinem steuernden Subjekt. Der Prozess ist reine Dynamik, er kreist um eine leere Mitte."

Weiteres: Sarah Schelp tummelt sich in Myspace. In der Randspalte kommentiert Peter Kümmel kritisch Angela Merkels Appell an deutsche Journalisten, sich künftig besser zu überlegen, wie ihre Worte von einem weltweiten Publikum aufgenommen werden. Im Nachruf auf den Historiker und Publizisten Joachim Fest stellt Jens Jessen klar, dass Fest "mehr Künstler als Bürger" gewesen sei. Katja Nicodemus resümiert noch einmal das Filmfestival von Venedig. Hanno Rauterberg berichtet von der dortigen Architekturbiennale. Thomas Miessgang fragt sich, warum eigentlich niemand das missglückte "Gaddafi"-Projekt der English National Opera gestoppt hat. Thomas E. Schmidt spekuliert über die Zukunft der Berliner Kulturpolitik nach den Wahlen. Claudia Herstatt stellt das Münchner Auktionshaus Karl und Faber vor, das auch als mittelständisches Unternehmen seinen weltweiten Markt findet.

Besprochen werden Aufnahmen der verstorbenen Sopranistin Astrid Vernay, das Debütalbum der israelischen Band Boom Pam und als moderner Klassiker Frank Sinatras "Only the Lonely".

Im Aufmacher des Literaturteils spricht Susanne Mayer mit Joan Didion über ihre Buch "Das Jahr magischen Denkens". Die amerikanische Autorin hat innerhalb eines Jahres erst ihren Mann, dann ihre Tochter verloren.

Im Politikteil stellt Susanne Gaschke fest, dass in der Wirtschaft von einer Gleichberechtigung der Frauen noch immer keine Rede sein kann. "In den Vorständen der dreißig größten Dax-Unternehmen ist nach wie vor nur eine einzige vertreten, im höheren Management wird der Frauenanteil auf fünf, im mittleren mit gutem Willen auf elf Prozent geschätzt." Und Frank Drieschner berichtet von einer interessanten Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die feststellt, dass zwar viele muslimische Frauen in Deutschland ihren Kopf mit einem Tuch bedecken, aber nicht ihr selbstständiges Denken aufgeben (leider ist die Studie noch nicht online abrufbar).

Berliner Zeitung, 14.09.2006

Der in Köln lebende irakische Schriftsteller Khalid Al-Maaly übt sehr schwere Kritik an den arabischen Intellektuellen, denen er Opportunimus und Doppelzüngigkeit vorwirft: "Viele von ihnen zeichnen sich durch eine geschickt verpackte Doppelmoral aus: Im Heimatland treten sie als Wachhunde überkommener Werte auf; in der fremden Sprache vor fremdem Publikum vertreten sie plötzlich ganz andere, kosmopolitische Auffassungen....Der arabische Intellektuelle verhält sich wie ein despotischer Vater. Keine innere Angelegenheit der Familie darf nach außen dringen. Nach außen muss sie das Bild einer festen Einheit geben, gleichgültig, wie es in der Realität aussieht. Sehr deutlich wird dies bei Themen wie den Beziehungen zu Israel, dem Skandal um die Fatwa gegen Salman Rushdie, den Attentaten vom 11. 9., dem Sturz von Saddam Hussein, der Affäre um die dänischen Mohammed-Karikaturen oder dem letzten Libanon-Krieg. In privaten Gesprächen erfährt man eine völlig andere Meinung als am nächsten Tag aus den Zeitungen. Es scheint, als ob die Stellungnahmen in den Medien nicht auf selbstständigem Denken fußen, sondern wie opportune Sprechblasen formuliert werden."

NZZ, 14.09.2006

Mona Nagger berichtet von einer peinlichen Solidaritätsadresse, die Günter Grass von 46 arabischen Intellektuellen erhalten hat: "Die Unterzeichner sehen in Grass' Geständnis, der Waffen-SS angehört zu haben, ein Zeichen des Mutes, das Respekt und Anerkennung verdiene. Die Kritik an Grass wird als Kampagne gedeutet 'mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit von den Verbrechen der Israeli, die in Palästina und Libanon begangen werden, abzulenken'. Die Israeli werden als 'Neonazis' bezeichnet: 'Sie töten Palästinenser und Israeli, zerstören ihre Länder, errichten um sie Trennmauern und stecken sie in Lager.' Der Wortlaut erinnert sehr stark an die Sprache des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad." Naggers Fazit: "Das Dokument sagt viel aus über die Befindlichkeit vieler arabischer Intellektueller. Sie leben in einer Welt von Verschwörungstheorien, fernab der Realität, verwechseln populistische Slogans und Rhetorik mit intellektuellem Diskurs und sehen keine Notwendigkeit, sich mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel diskutiert den Vortrag, den Papst Benedikt XVI. in Regensburg gehalten hat. Markus Jakob erzählt von der neuen Blüte des Flamenco, den südspanische Migranten in die Vorstädte Barcelonas exportiert haben. Besprochen werden die Ausstellung "Mathilda is calling" auf der Mathildenhöhe in Darmstadt und Clemens Meyers Roman "Als wir träumten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 14.09.2006

Israels Bereitschaft, deutsche Soldaten an seiner Grenzen zu positionieren, bedeutet für den in Jerusalem lehrenden Historiker Moshe Zimmermann eine Art Schlussstrich unter das Nachkriegsdeutschlandbild seines Landes: "Nur noch ein Sechstel der jüdischen Israelis, so eine Umfrage, halten Deutschland für Israel-unfreundlich. Etwa Dreiviertel der Israelis, die einen Ausweg aus dem letzten libanesischen Schlamassel suchten, begrüßten die Stationierung einer UN-Truppe im und um Libanon herum. Mehr als 80 Prozent dieser Mehrheit befürwortet die Beteiligung der deutschen Bundeswehr an der internationalen Truppe. Während in Deutschland der Schatten der NS-Vergangenheit auf den Umfragen zu diesem Thema lastete, war in Israel Ähnliches nicht zu spüren - und nicht nur, weil dort der Mythos von der 'sauberen Wehrmacht' noch nicht in Frage gestellt wird."

"Wir haben," lästert Christopher Schmidt aus dem gleichen Anlass, "in der kurzen Geschichte Deutschlands als Seemacht zuletzt die "Wilhelm Gustloff" im Opferdiskurs auftauchen und Wolfgang Petersens "Poseidon" im Kino untergehen sehen - kaum aber ist der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr beschlossen, hat sich ein Behagen am nautisch-militaristischen Jargon eingestellt. Selbst Renate Künast spricht das Wort "seeseitig" im Zusammenhang mit der Sicherung der syrisch-libanesischen Grenze durch deutsche Flottenverbände so genüsslich aus, als sei dies ein "robustes Mandat", auch den Wortschatz aufzurüsten."

Weiteres: In Teil vier seines Indien-Tagebuchs, schreibt Martin Mosebach über ein Gymnasium für Beamtenkinder und öffentliche Toiletten mit Swastika. Jürgen Berger fasst die wichtigsten Thesen des Symposions "Reality strikes back" über dokumentarische Theaterformen im Düsseldorfer Forum Freies Theater zusammen. Jonathan Fischer schreibt über Amerikas berüchtigstes Gefängnis (mehr) in Angola/Louisiana. Lothar Müller schreibt zum achtzigsten Geburtstag des Schriftstellers und Essayisten Michel Butor. Anke Sterneborg unterhält sich mit Mads Mikkelsen, dem Protagonisten des Films "Adams Äpfel".

Besprochen werden Marc Bauders Dokumentarfilm über den Freikauf von DDR-Häftlingen "Jeder schweigt von etwas anderem", Renaud Delourmes Film über das Werk des Fotografen Yann Arthus-Bertrand "Die Erde von oben" (für Fritz Göttler "ein hochartifizielles Unternehmen, zugleich immer an der Grenze zum Kunstgewerbe"), Nicole Holofceners Film "Friends with Money", die "ambitionierte, thesenfreudige" Ausstellung "Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg" in Halle, die von David Cronenberg kuratierte Schau "Andy Warhol Supernova: Stars, Deaths and Disasters, 1962-64" in der Art Gallery of Ontario in Toronto, und Thomas Hettches Roman (Leseprobe hier) "Woraus wir gemacht sind" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 14.09.2006

Reinhard Wengierek ist empört über Christoph Schlingensiefs neueste Produktion für die Berliner Volksbühne: "Sein raffiniert unsensationell geheißenes Spektakel 'Kaprow City' blieb entsetzlich ruhig. Schlimmer noch, wahnsinnig langweilig. Zwei erregungs- und ereignislose Stunden endeten mit sieben (oder gar elf?) Sekunden spärlichstem Applaus - so flau verreckte noch kein Happening des postkatholischen Welterklärers."

Weiteres: Uwe Wittstock nimmt die "routinierte Medienstrategie" deutscher Schriftsteller unter die Lupe. "Drei der eifrigsten Zuwortmelder des Literaturbetriebs, Martin Walser, Peter Handke und Botho Strauß, stilisieren sich zugleich zu inbrünstigen Feinden unseres täglichen Meinungsmarktes." Matthias Heine preist das Album "5.55" der französischen Schauspielerin Charlotte Gainsbourg ("so schmeichelnd und zärtlich wie ein Sonnenstrahl"). Wieland Freund berichtet, dass der Münchner Medienunternehmer Michael Kölmel den Frankfurter Verlag Zweitausendeins gekauft hat, und verabschiedet damit ein "weiteres Stück 1968". Rüdiger Sturm berichtet, dass der Prozess um den Rothenburg-Film in eine neue Runde geht.

Für Welt.de unterhält sich Hanns-Georg Rodek mit zwei der drei sogenannten Tipton-Three, britische Muslime, deren Inhaftierung in Guantanamo Basis für Michael Witterbottoms Film "Road to Guantanamo" war.

FR, 14.09.2006

Peter Michalzik erkennt, dass der Papst durch die Medien jezt mehr von der Allgegenwart Gottes verkörpert als in der Vergangenheit. Thomas Venker hat von Justin Timberlake erfahren, dass sein neues Album "Future Sex / Love Sounds" wie ein "Cyberspace-Sex-Soundtrack" klingen soll. Harry Nutt vernimmt antisemitische Zwischentöne in der Debatte um die Restitution der Berliner Straßenszene von Ernst Ludwig Kirchner an die Erben des ehemaligen Besitzers. In der Kolumne Times Mager befasst sich Julia von Sternburg mit verschiedenartigen Vergnügungen an der Nordsee.

Besprochen werden Jörg Adolphs Dokumentarfilm über John von Düffel "Houwelandt - Ein Roman entsteht" (den die Filmkritikerin Heike Kühn beharrlich John von Dussel nennt) und Robert Delourmes Film "Die Erde von oben".

TAZ, 14.09.2006

"Ehrlich gesagt, finde ich es eine ziemlich fantasielose und langweilige Vorstellung, hinzugehen und zu sagen, weil das 'Parfum' von Geruch handelt, soll der Film irgendwie riechen," sagt Tom Tykwer im Gespräch mit Dietmar Kammerer. "Das Buch riecht ja auch nicht."

Weiteres: Anne Francoise Weber hat die Beiruter Cineastin Hania Mroue (mehr hier) interviewt, die jetzt in Beirut das Filmfest "Ayam Beirut al-Cinema'iya" organisiert. Ayala Goldmann beschäftigt sich mit der Kritik des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, am Berliner Jüdischen Museum.

Besprochen werden: die Schau "The Wonderful World of irational.org - Tools, Techniques, Events 1996-2006" mit der der Hartware MedienKunstVerein in Dortmund sein zehnjähriges Bestehen feiert, Soffy Os Soloalbum "Missy Queens Gonna Die" und Philipp Tinglers Buch "Leute von Welt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages.)

Und Tom.

FAZ, 14.09.2006

Die Verfilmung von Patrick Süskinds "Parfum" wird publizistisch von einem Interview mit dem Regisseur Tom Tykwer und Franz Josef Görtz' Erinnerung an den Vorabdruck des Romans im Feuilleton 1984 begleitet. Im Aufmacher schwärmt Michael Althen von "atemberaubenden Bildern" und verteidigt den Film gegen die Kritiker. "In einem Gerangel ohnegleichen um die ersten Plätze im Meinungsstreit wurde dem Film schon Wochen vor dem Start vorgeworfen, er rücke dauernd die Nase des Helden ins Bild. Das ist in etwa so, als wolle man einem Porno vorwerfen, er zeige dauernd Geschlechtsteile. Darum geht es doch, und die stets behende und lyrische Kamera von Frank Griebe fährt natürlich immer wieder darauf zu, läßt sich geradezu aufsaugen, um sich dann davontragen zu lassen wie die Düfte im Wind. Und natürlich ist es eine Augenweide zu sehen, wie die Gerüche in leuchtenden Farben ins Bild gesetzt werden, wie der Lavendel auf den Feldern blüht und die Mirabellen golden leuchten."

Weiteres: Dirk Schümer sammelt italienische Nachrufe auf Joachim Fest, die im Berlusconi-eigenen Blatt Il Giornale erstaunlich reserviert und im eher linken Il manifesto sehr wohlwollend ausgefallen sind. Christian Geyer erläutert die Regensburger Rede des Papstes, in der dieser den Islam als Herausforderung an das Christentum interpretierte, während Michael Gassmann die zeitnah vorgenommene Orgeleinweihung in der Alten Kapelle kommentiert. Jürgen Kaube ist skeptisch, ob eine jetzt wieder anvisierte "Deutsche Akademie der Wissenschaften" der föderalistisch geprägten Zunft eine Stimme verleihen kann. Dieter Bartetzko fürchtet um das Profil des jetzt vom Kinowelt-Besitzer Michael Kömel aufgekauften Verlags Zweitausendeins. Richard Kämmerlings beglückwünscht den französischen Schriftsteller Michel Butor zum Achtzigsten. Abgedruckt wird ein Kapitel aus Bernhard Buebs "Lob der Disziplin".

Auf der letzten Seite berichtet Dieter Bartetzko aus Venedig, wo auf der Architekturbiennale den Metropolen ein pessimistischer Schwerpunkt gewidmet wird. Felicitas von Lovenberg porträtiert den Diogenes-Gründer Daniel Keel, der bei Manuskripten immer nur die erste Seite liest. Robert von Lucius macht auf das nun 175 Jahre alte Museum Braunschweig aufmerksam.

Besprochen werden der "glänzende" Auftritt der 23-jährigen Geigerin Julia Fischer beim Auftakt-Festival in Frankfurt, die Uraufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper "Wut" in Erfurt, Ausstellungen mit Fotografien von Ed Ruscha im Museum Ludwig und der SK-Stiftung in Köln, und Bücher, darunter Isabel Allendes Roman "Mein erfundenes Land" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).