Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2002. In der taz sucht der amerikanische Philosoph Michael Walzer Gründe für das Versagen der Linken. In der SZ fordert die in Jerusalem lebende Autorin Cordelia Edvardsson zwei Staaten für zwei Völker. In der FR spricht der Comiczeichner Art Spiegelman über den 11. September. Die NZZ verteidigt die Literaturagenten gegen die Verlage. In der FAZ kritisiert der amerikanische Autor Ralph Peters die deutsche Zuwanderungspolitik.

TAZ, 13.04.2002

In einem leicht gekürzten Essay versucht der US-amerikanische Philosoph Michael Walzer (mehr hier), sein spätestens seit seinem Engagement für Bushs "gerechten Krieg" angekratztes Verhältnis zur Linken zu klären. Vier Gründe für das Versagen der Linken nennt Walzer. Erstens: Der fortlebende Glaube, dass wir in einem postidealistischen Zeitalter leben und die Missachtung der weiter bestehenden Macht der Religionen. Zweitens: Die Entfremdung von Mitbürgern und vom eigenen Land. Drittens: Die moralische Überzeugung, Amerika zuerst beschuldigen zu müssen. Und viertens: Der Glaube, kein Recht auf Kritik an anderen zu haben. "Ich würde gerne einmal sagen, dass es ganz gut um uns steht: dass die amerikanische Linke eine ansehnliche Geschichte hat, und das wir einiges doch sicher richtig gemacht haben, vor allem in unserem Widerstand gegen innere und globale Ungerechtigkeiten. Aber die Nachwirkungen des 11. Septembers zeigen, dass wir noch nicht sehr weit fortgeschritten sind - und nicht immer in die richtige Richtung. Die Linke muss noch einmal von vorne anfangen."

Außerdem: Max Dax verrät, wer der sagenhafte Musiker Earl Zinger ("Put Your Phazers on Stun, Throw Your Health Food Skyward") wirklich ist, und Jamal Tuschick liefert einen poetischen Erlebnisbericht aus dem Frankfurter Westend.

Die Tagesthemen feiern 10 Jahre taz-Genossenschaft mit einem Pro- und Contra-Text der ehemaligen tazler Klaus Hartung ("eine fragwürdige Umschreibung für Spendenwerbung") und Michael Rediske ("ein Segen").

Und im tazmag schreibt der Journalist Tsafrir Cohen einen Reisebericht über Israel und die besetzten Gebiete im April 2002, und Michael Rutschky rehabilitiert das Genre der Ratgeber- und Lebenshilfebücher.

Schließlich TOM.

SZ, 13.04.2002

Die in Jerusalem lebende Autorin Cordelia Edvardson ("Gebranntes Kind sucht das Feuer") weiß, warum Sharon die Westbank nicht einfach gegen Frieden tauschen kann: Dafür habe man viel zu häufig erklärt, warum man unbedingt an diesem architektonischen Disneyland festhalten müsse. "Ja, ich habe mich geirrt" zu sagen, wenn der eigene Irrtum, oder möglicherweise der eigene Größenwahnsinn, Hunderte der eigenen Bürger das Leben gekostet habe, so Edvardson, gehe eben nicht, auch wenn jeder wisse, dass es nur einen Weg gebe, sich aus dem Totentanz zu befreien. "Das Ziel ist von der israelischen Friedensbewegung vor über zwanzig Jahren formuliert worden: zwei Staaten für zwei Völker."

Über den Eingang des 11. September in die Perspektiven jüngerer amerikanischer Historiker freut sich Tim B. Müller. "Als würde die launige Muse Klio mit ihren Liebhabern Fangen spielen, erscheinen nun methodologische Moden der vergangenen Jahre als Teil einer hegemonialen Ideologie, die von den wahren Problemen ablenken sollte." Nach den barock-scholastischen Theoriegirlanden der Postmoderne sei es, als seien die Probleme der Historiker wieder dort angelangt, wo sie immer schon waren - in der "klassischen Moderne", der Situation der Weimarer Republik. Die Historiker, meint Müller, könnten den Sinn der Zeitgenossen dafür schärfen, dieses Mal die Potentiale der Moderne besser zu nutzen.

Zurück nach Weimar blickt auch Franziska Augstein, die eine Parallele zwischen Israel und der Weimarer Republik sieht: "So wie einst in Weimar wird in Israel den kleinen Parteien zuviel Einfluss eingeräumt." Holger Liebs war unterwegs auf der Mailänder Möbelmesse (Plastik ist angesagt), Sebastian Zabel poträtiert Sven Väth, unseren glamourösesten Techno-DJ, Reinhard J. Brembeck lotet Münchens Chancen aus, mit Christian Thielemann nun philharmonische Weltklasse zu werden, Peter Burghardt besuchte in Madrid die zweite UN-Konferenz zum Thema Altern und fragt sich, was passiert, wenn die Pyramide kippt, Jens Bisky berichtet von Korrekturen an den Sparmaßnahmen im Berliner Kulturetat, Fritz Göttler freut sich, dass mit dem "Y tu Mama tambien" ein mexikanischer Film am strikten US-Ratingsystem vorbeigehuscht ist, in dem andauernd der Pimmel im Bild ist, Manfred Geier liefert einen Nachtrag zum Heidegger-Cassirer-Streit und findet Cassirers "Sprache" als Korrektiv zu Heideggers "Gerede" noch immer lesenswert, Manfred Sack gratuliert dem Architekten, Stadtplaner und Multitalent Hardt-Waltherr Hämer zum achtzigsten Geburtstag, und Julia Encke erzählt, wie Sigmund Freuds Nachbar in der Berggasse die Damen der k.u.k. Monarchie mit Busencreme beglückte.

Besprochen werden Felicia Zellers "Triumph der Provinz" am Theaterhaus Jena, die Cop-Komödie "Showtime" mit Robert De Niro und Eddie Murphy, ein Konzert mit dem Ausnahmepianisten Jonathan Gilad im Münchner Herkulessaal, Leo? JanaCeks Oper "Jenufa" in einer Inszenierung von Barbara Beyer in Hannover, schließlich Lektüre: Joshua Sobols Roman "Schweigen", eine Geschichte Italiens im Reclam-Format, Victor Hugos "Glöckner von Notre-Dame" in einer erfrischend alten Übersetzung und anderes mehr (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11).

In der Wochenendbeilage schließlich zeigt Jonathan Fischer, wie das schwarze Amerika im Boxring zu sich selbst fand, Volker Wörl kommt zu der Einsicht: Das marktwirtschaftliche System ist wichtig und erfolgreich. Aber es kann nicht alles (zum Beispiel die Ungleichheit der Zugangsbedingungen eliminieren). Und im Gespräch gibt Helmut Dietl schnurrige Erinnerungen an Billy Wilder zum Besten und erklärt, wieso Marlene Dietrich im Hause Wilder das beliebteste Streitobjekt war: "Sie hatte offenbar diesen Hang zum Bemuttern - und dann soll sie sehr gut gekocht haben, und das hat Audrey (Wilders Frau, die Red.) wahnsinnig gestört. Die Dietrich habe das und das gekocht, hat Billy gesagt, und da ist die Audrey gleich hoch gegangen - so gut sei die Kartoffelsuppe gar nicht gewesen!"

FR, 13.04.2002

Das Magazin bringt ein langes Gespräch mit dem Comiczeichner Art Spiegelman ("Maus"), der gerade an einer Comic-Reportage über den 11. September arbeitet und sich sehr misstrauisch zeigt, was Amerikas Motive für sein Nahost-Engagement betrifft: "Die US-Regierung scheint derzeit viel mehr daran interessiert, die Scheiße aus Saddam Hussein herauszubombardieren, als den tödlichen Konflikt in Israel und den besetzten Gebieten zu schlichten. Was sie jetzt machen, ist Folgendes: Sie versuchen, das Knäuel zu entwirren, damit sie nachher Saddam Hussein bombardieren können. Das ist kein gesundes Motiv."

Petra Kohse prüft Varianten moderner Trostsysteme in der desorientierten Gesellschaft und stellt fest, dass Körperübungen, Ernährungskontrolle und sensitive Neuausrichtung zwar das Wohlbefinden fördern. "Sinn aber wird dadurch natürlich nicht produziert. Zumindest nicht, solange der Bereich des Glaubens nur umkreist wird. Und Glauben, zumal einer, der mehr als ein Für-möglich-Halten wäre, erforderte Bekenntnis. Die Suche müsste für beendet erklärt und in eine von weiterem Konsum befreite Ankunft umdefiniert werden. Nie wieder einkaufen?!?" Für ein "funktionierendes Trostsystem der Zukunft", meint Kohse, müsste schon eine Marktwirtschaft simuliert werden, die in der Wirklichkeit längst nicht mehr funktioniert. "Trotz aller Importe aus Fernost ist es letztlich ja doch der Kapitalismus, an den die westlichen Menschen noch immer am tiefsten glauben."

Roman Luckscheiter nimmt die Plakat- und Internet-Aktion "Deutschland packt's an" unter die Lupe, kann aber partout nichts Packendes daran finden: "Wie von Geisterhand sprüht sich da die Deutschlandflagge auf den Bildschirm, und wer nicht auf die Idee kommt, das kleine 'skip' anzuklicken, muss weiter ohne Ruck auskommen. Dem Bürger, der findig und anpackend genug ist, um auf die nächste Seite zu gelangen, brüllt ein 'Mach mit!' entgegen, bevor er von seinen neuen Duz-Freunden über das handgreifliche Projekt aufgeklärt wird: 'Jeder Einzelne ist aufgefordert, Verantwortung und neue Aufgaben zu übernehmen, zu Hause, am Arbeitsplatz, in Deutschland und in der Welt.' Also ab nach Afghanistan?"

Rüdiger Suchsland berichtet von einer Tutzinger Tagung, auf der Michel Foucaults Begriff der Biopolitik auf seine historische und aktuelle Relevanz abgeklopft wurde, Michael Rutschky entdeckt uns die Jugend als Roman und Utopie, Navid Kermani beschäftigen die Zahl Eins und ihre zuhöchst transzendenten Implikationen, Heribert Kuhn erinnert an Robert Musil, der vor 60 Jahren starb, und Robert Kaltenbrunner schreibt zum 80. des Stadtplaners Hardt-Waltherr Hämer.

Besprechungen widmen sich einem Ganzkörperkonzert mit Herman Van Veen im Deutschen Theater München, einem Bildband mit hübschen Leichen, inszeniert vom japanischen Modefotografen Izima Kaoru sowie Romanen: Ben Faccinis Kindheitsgeschichte "Luft anhalten" und Bodo Morshäusers "In seinen Armen das Kind".

NZZ, 13.04.2002

Joachim Güntner denkt über das Phänomen der Literaturagenten nach. Sie bieten Kontinuität in einer Ära hektisch wechselnder Besitz- und Personalverhältnisse. Und die Autoren profitieren: "Zu den Machtverhältnissen im Verlagsgeschäft gibt es ein hübsches, ihre Ohnmacht als Autorin derb kennzeichnendes Aperçu von Katja Lange- Müller: 'Die Autorinnen und Autoren können an dem ganzen Kuhhandel nur als Kühe teilnehmen.' Das war, wie Lange-Müller anmerkt, ihre Ansicht in der Zeit, als es noch keine Agenten gab. Heute lässt sie sich von einer Agentur vertreten und benutzt ihr Aperçu nur noch als historisches Zitat. Mögen auch die Verleger murren - die Autoren genießen, im Agenten einen Anwalt gefunden zu haben, der ihre Wünsche und Rechte vertritt, wie sie allein es nie vermochten."

Weiteres: Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" meditiert Angelika Overath über "Kirschbäume und frühe Zweifel". Uwe Justus Wenzel resümiert ein Elmauer Kolloquium über protestantische Religionskultur. Besprochen werden eine New Yorker Inszenierung von Max Frischs "Andorra", eine Jochen-Gerz-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou und einige Bücher, darunter Dieter Kühns Biografie der Naturkundlerin Sibylla Merian und Jochen Laabs' Erzählungsband "Verschwiegene Landschaften".

Viele Essays in der Beilage Literatur und Kunst, die seit dem Ende von Bilder und Zeiten so einzig dasteht. Thomas Zaunschirm analysiert die Strategie zwischen Kitsch und Banalität des Jeff Koons (die zumindest kommerziell aufzugehen scheint: Eine kleine Porzellanskuptur, die Michael Jackson und einen Affen zeigt wurde kürzlich für 5,6 Millionen Dollar versteigert). Jörg Zutter widmet sich der Situation der aktuellen Kunst in Ostasien. Susanne Ostwald versucht darzulegen, warum George Eliot "keine Verräterin der Frauenbewegung" war. Jörg Fisch erinnert an die Kriege die Großbritannien in Afghanistan führte. Und Albrecht Betz untersucht die französische Tradition des Pathos, die mit ihrer Grandiloquence so sehr im Gegensatz zum deutschen Gemüt steht. Buchbesprechungen gelten Peter Ackroyds Biografie über William Blake (mehr hier) und Uwe M. Schneedes "Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert" (mehr hier).

FAZ, 13.04.2002

Harsche Kritik leistet der amerikanische Autor Ralph Peters (ein ehemaliger Offizier der US-Army) an der deutschen Ausländerpolitik. Das hierzulande noch umstrittene Zuwanderungsgesetz findet er vielzu halbherzig: "Trotz der lachhaften Bedenken, die im Bundesrat geäußert wurden, bietet das Zuwanderungsgesetz kaum Anreize für Talentierte, nach Deutschland zu kommen. Es soll vor allem deren Chancen beschränken, falls sie dennoch kommen sollten, und die Möglichkeit schaffen, sie hinterher schnell wieder loszuwerden; es soll gar nicht erst den Gedanken bei ihnen aufkommen lassen, sie könnten sogleich unternehmerische Aktivitäten entfalten; und es fasst ihre Rechte so eng wie eben möglich." Wir hängen halt an unsere westdeutschen Idylle aus den sechziger Jahren.

Christian Salmon setzt die Reihe von Palästina-Reiseberichten der Autoren des Internationalen Schriftstellerparlaments fort, dessen Generalsekretär er ist. Der Krieg wird nicht nur mit Waffen geführt, schreibt er. "Beton und Asphalt breiten sich über einer der schönsten Landschaften der Menschheitsgeschichte aus. Die Hügel sind zerfurcht von 'Umgehungsstraßen' für den sicheren Zugang zu den israelischen Siedlungen. In deren Umgebung wurden Häuser zerstört, Olivenbäume entfernt, Orangenhaine niedergemacht zum Zweck der größeren Übersichtlichkeit. An ihre Stelle tritt Niemandsland, von Wachtürmen gesäumt. Die allgegenwärtigen Bagger sind strategisch so wichtig wie die Panzer. Nie kam mir dieses sonst eher friedfertige Gefährt so kriegstreiberisch vor."

Weiteres: Brita Sachs erzählt den Krimi um das Erbe des Milliardärs Gustav Rau, der seine berühmte Kunstsammlung der Unicef vermachte - aber auch andere Erben melden Ansprüche an. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, die sich mit dem Algerienkrieg beschäftigen. Mark Siemons kommentiert die Boulevard-Affäre um den geschassten Schweizer Botschafter Thomas Borer, seine Frau und seine Geliebte. Gina Thomas berichtet über einen kuriosen Streit zwischen Grafen Cadogan, dem Londons feinstes Stadtviertel gehört (ehrlich, das ganze Viertel) und einem Bauunternehmer - auf einem Grundstück ist Platz für Neubauten, aber ein Vorfahr des Grafen hat festgelegt, dass hier Wohnungen für die Arbeiterklasse entstehen sollen, und der Graf hält daran fest, wogegen der Bauunternehmer nun klagt. Peter Kemper begleitet Bob Dylan auf seiner immer währenden Tournee, die zur Zeit die deutschen Städte streift.

Ferner meldet "breb.", dass das berühmte kommunale "Arsenal"-Kino von den Sparmaßnahmen des Berliner Senats bedroht ist. Und Niklas Maak meldet zugleich, dass Kultursenator Thomas Flierl einige angekündigte Sparmaßnahmen nun doch wieder zurücknehmen will

Auf der Medienseite informiert uns Siegfrid Stadler, dass der MDR ein Buch von Erich Loest über den 17. Juni verfilmt. Birgit Svensson berichtet über eine Serie, die in Ägypten die Vielehe zur Debatte stellt. Und Heike Hupertz berichtet über den Erfolg der Reality-Show "The Bachelor" mit männersuchenden Frauen bei ABC.

Besprochen werden Gastspiele des Petersburger Mariinski-Theaters, das bei seinem Rivalen, dem Bolschoi-Theater in Moskau gastierte, Tom Shadyacs Film "Im Zeichen der Libelle", ein "Ödipus" in der Regie von Tadashi Suzuki in Düsseldorf und Thomas Kronthalers Heimatfilmparodie "Die Scheinheiligen".

In den Überresten von Bilder und Zeiten erzählt ein (zumindest im Internet) namenloser Autor von Kafkas Liebe zur Naturheilkunde (die ihn nicht gerade alt werden ließ). Und außerdem werden Auszüge aus dem Notizbuch des Regisseurs Luc Bondy publiziert. Der Anfang: "Warum ich Theater mache? Diese Frage darf mir niemand stellen, ohne dass ich durch den Plafond schieße."

In der Frankfurter Anthologie stellt ein unbekannter Autor das Gedicht "Beginn des Endes" von Theodor Storm vor:

"Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben..."