Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2006. Die FAZ erkennt in der Ausstellung "Erzwungene Wege" keine Umdeutung der Geschichte. Die SZ auch nicht, dafür aber eine "geschmeidigere Strategie". Ebenfalls in der SZ macht Ulrich Beck auf die europäische Dimension des demografischen Problems aufmerksam. Die NZZ staunt über die glockenförmig gestauchten Pumpärmel eines in Paris ausgestellten Kleides von Cristobal Balenciaga. Navid Kermani erklärt in der FR, warum er den Aufruf zur sofortigen Waffenruhe im Libanon unterschrieben hat. In Spiegel Online beschuldigt Ralph Giordano den Schriftsteller Jostein Gaarder des Antisemitismus.

FAZ, 11.08.2006

Für Regina Mönch wird die Ausstellung "Erzwungene Wege" im Berliner Kronprinzenpalais ihrem Thema - die europäische Dimension der Vertreibung zu zeigen - gerecht: "Ist das die Umdeutung der Geschichte, die dem 'Zentrum gegen Vertreibungen' seit Jahren im Lande, aber auch in Polen und Tschechien unterstellt worden ist? Wer sich Zeit nimmt und die Zeitreise durch das schreckliche zwanzigste Jahrhundert im 'Europaraum' der Ausstellung beginnt, kann sich vom Gegenteil überzeugen. Sofern man dazu bereit ist. Hier werden, mit den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich beginnend, bis zu den ethnischen Säuberungen in Bosnien in den neunziger Jahren, neun exemplarische Fälle für die Vertreibung von Millionen Menschen in Europa dokumentiert. Der historische Kontext ist kompliziert, jedenfalls nicht so eindimensional, wie der Stiftung immer unterstellt wurde, als deren Kritiker das Konzept noch beharrlich ignorierten."

Aus aktuellem Anlass ist ein Auszug aus dem am 23. August erscheinenden Buch "Die Kinder des Dschihad" zu lesen, in dem unter anderem Souad Mekhennet die Rekrutierung junger Briten für den Dschihad beschreibt. Der als "Hassprediger" aus London ausgewiesene Omar Bakri Mohammed etwa operiert jetzt aus Beirut. "Als 'Stadtführer' und 'Sprachlehrer' führt er Besucher aus Großbritannien durch die Palästinenserlager in Beirut, und bei diesen Exkursionen ist der libanesische Geheimdienst nicht dabei. Erst als der britische Auslandsgeheimdienst misstrauisch wurde und sich bei den libanesischen Kollegen über Bakris 'Stadtführungen' erkundigten, reagierte man in Beirut. Vier britischen Touristen wurde nahegelegt, schnellstmöglich nach London zurückzukehren. Doch der 'Bakri-Tourismus' hat immer noch Konjunktur, wie wir bei unserem Besuch feststellen."

Edo Reents glossiert Studien über den wirtschaftlichen Einfluss der Fußball-WM. Eberhard Rathgeb meditiert über die Wäscheleine seiner Nachbarn. Die Germanistin Gesine Bey schreibt über Bertolt Brecht und die Journalistin und Ärztin Angela Rohr.

Auf der Medienseite stellt Jürg Altwegg Überlegungen an, über die man nur staunen kann: "Ebnet Springer seiner Bild-Zeitung den Weg nach Frankreich, indem er zunächst Liberation den Rettungsanker reicht, nach deren Vorbild die deutsche taz entstand und die einst von Jean-Paul Sartre begründet worden war?" Die Möglichkeit besteht, so Altwegg, denn Liberation ist praktisch pleite und der Springer Verlag würde gern nach Frankreich expandieren. Außerdem: Olsu. stellt kurz den erfolgreichen, vor fünf Jahren gegründeten polnischen Privatsender TVN24 vor. Regina Mönch schreibt den Nachruf auf die Schauspielerin Jenny Gröllmann.

Auf der letzten Seite berichtet Irene Bazinger von Gerüchten, Peter Steins Wallenstein könnte Klaus Maria Brandauer sein. Der australische Naturforscher Tim Flannery erklärt im Interview, warum er Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel wie höhere Dämme oder Flutungsräume für Unsinn hält: "Ihr in Europa glaubt zu wissen, was zu tun ist, wenn der Erwärmungstrend anhält. Aber was ist, wenn wegen der Erwärmung plötzlich der Golfstrom stoppt und die sibirische Kälte über Europa hereinbricht?" Felix Johannes Krömer erinnert die Schweden, die offenbar recht gelassen mit dem Störfall im Kernkraftwerk Forsmark umgehen, an den "Harrisburg-Monolog" des 1985 gestorbenen Komikers Tage Danielsson, wonach "das, was in Harrisburg passiert ist, hier (in Schweden) nicht passieren kann, weil es nicht einmal dort (in Harrisburg) passiert ist, obwohl es sicherlich ein wahrscheinlicherer Ort dafür gewesen wäre, wenn man bedenkt, daß es dort passiert ist".

Besprochen werden die Uraufführung von Albert Ostermaiers Drama "Ersatzbank" in Salzburg, Konzerte beim Klavier Festival Ruhr mit Alfred Brendel, Adrian Brendel und Till Fellner und Bücher, darunter Linda Maria Koldaus Handbuch "Frauen-Musik-Kultur" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 11.08.2006

Marc Zitzmann besucht eine Austellung im Pariser Musee de la mode, die 150 Kreationen des Couturiers Cristobal Balenciaga zeigt. Besonders fasziniert ist er von "Balenciagas Einfallsreichtum bei der Gestaltung von Volumen. Schon Namen wie 'robe sac', 'robe tonneau' ('Tonnenkleid') oder 'robe chenille' ('Raupenkleid') zeigen, dass der Couturier keineswegs nur den natürlichen Linien des Körpers folgte, sondern auch nach quasi-skulpturalen Formen suchte. Solche Formen können auf historische Vorbilder verweisen, wie die 'manches lampion' von 1951, die an zum Ellbogen hinuntergerutschte, glockenförmig gestauchte Pumpärmel gemahnen - Balenciagas Inspiration durch Goya, Velazquez und Zurbaran ist oft genug unterstrichen worden."

Auf der Medienseite thematisiert Uwe Paul die mittlerweile weit verbreitete Filmform der "Semi- oder Pseudodokumentation": "Selbst die sonst eher puristischen Dokumentaristen von den Britischen Inseln inszenieren mittlerweile den Untergang Pompejis oder die Feldzüge ägyptischer Pharaonen als gelte es, jede Geschichtsdokumentation wie ein Remake von Ben Hur zu gestalten. Erlaubt ist, was gefällt, und Gefallen findet das Publikum gegenwärtig augenscheinlich vor allem an aufwendig nachgedrehten Szenen der Vergangenheit oder an Versuchssituationen, die einer Art menschlichen Terrariums entstammen könnten."

Auf der Filmseite berichtet Alexandra Stäheli vom "Tag des Schweizer Films" beim Internationalen Filmfest in Locarno.

Weiteres: Klaus Bartels erklärt, woher das Wort "Salär" kommt. Besprochen werden zwei Ausstellungen, eine im Wiener Sigmund-Freud-Museum über "Die Couch" und eine im Frankfurter Literaturhaus zu Robert Walser, und der neue Roman von Ugo Riccarelli (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 11.08.2006

"Das ist keine Ausstellung, das ist ein an die Wand geklebtes Manuskript", klagt Stephan Speicher über den ersten Raum der Ausstellung "Erzwungene Wege" der Vertriebenenverbände im Berliner Kronprinzenpalais. Auch der Rest kann ihn nicht überzeugen, die beabsichtigte "seelische Bewegung" für die Vertriebenen spürt er nicht. "Und das hängt mit ihrer politischen Ausrichtung zusammen. Die Ausstellung ist nicht gerade revisionistisch. Von den Ostpolen, die nach Pommern, Schlesien und ins südliche Ostpreußen umgesiedelt wurden, heißt es, dort hätten sie "ein neues Zuhause" gefunden. So spricht nicht, wer auf diese Gebiete noch Ansprüche erheben will. Auch die deutschen Verbrechen an den Juden oder der Generalplan Ost werden nicht verschwiegen. Aber dass die Vertreibung der Deutschen eine Antwort war auf deutsche Verbrechen, das kommt dann doch etwas kurz. Solche kontrollierte Rechthaberei durchdringt alles, und erstickt auch die Anteilnahme."

Welt, 11.08.2006

Hellmuth Karasek lässt zum 50. Todestag von Bert Brecht noch einmal die größten Erfolge des Dichters, die "Dreigroschenoper" und "Mutter Courage", Revue passieren. Aus gleichem Anlass veranstaltet die Redaktion auch eine kleine Umfrage unter heutigen Dramatikern zur Aktualität Brechts. Moritz Rinke sagt: "Ich glaube, die Zeit der Marxisten kommt erst noch, auch weil sie ja nicht mehr ständig vom realexistierenden Sonstwas ausgekontert werden. Bis dahin muss dem jetzigen Brecht, dem Brecht ohne Parabel, der Lyriker aushelfen."

Weitere Artikel: Ulf Meyer besucht die vom Tokioter Büro SANAA entworfene "School of Management and Design" in Essen. Cosima Lutz unternimmt eine Reise zu den Sorben in der Lausitz. Matthias Heine schreibt zum Tod der Schauspielerin Jenny Gröllmann und kommt dabei auch nochmal auf den Prozess zurück, den sie gegen ihren Ex-Mann Ulrich Mühe anstrengte, der sich öffentlich über ihre dicke Stasi-Akte geäußert hatte.

FR, 11.08.2006

Siebzig internationale Intellektuelle haben einen Aufruf verfasst, in dem sie eine sofortige Waffenruhe fordern. "Wir, Juden und Muslime, Künstler, Intellektuelle und Weltbürger, verabscheuen die Gewalt, Militarisierung und das Blutvergießen unschuldiger Menschen, das derzeit zwischen Israel und seinen arabischen und muslimischen Nachbarn stattfindet..."

Navid Kermani, einer der Unterzeichner, erläutert im Gespräch mit Harry Nutt seine Motivation. "Das unterscheidet diesen Aufruf vielleicht von anderen: dass er nicht mit der Verurteilung eines jeweils anderen beginnt, der Aggressoren, der Israelis, der Hisbollah. Sondern damit zu sagen: Wir finden es schrecklich und akzeptieren nicht, was mit unseren und in unseren eigenen Traditionen geschieht. Zugleich beharren wir auf diesen Traditionen und wollen sie weder den Fundamentalisten überlassen noch denen, die unsere Kulturen am liebsten abschaffen würden. Dazu muss man nicht religiös sein, um ein solches, in der Kritik loyales Verhältnis zur eigenen Welt zu haben. Es geht darum, sich der eigenen Vergangenheit, dem eigenen Gedächtnis und seiner fortdauernden Wirkung bewusst zu sein, egal ob man in einem theologischen Sinne daran glaubt oder nicht."

Weiteres: Harry Nutt ist mit der Vertriebenen-Ausstellung "Erzwungene Wege" im Berliner Kronprinzenpalais im Großen und Ganzen zufrieden. "Ein erster, gewiss zu flüchtiger Rundgang lässt keinen Zweifel an der Legitimation der Themenstellung aufkommen." Franz Anton Cramer gratuliert zum geschmackvollen Umbau eines ehemaligen Berliner Pumpwerks in einen Kulturkomplex, den unter anderem die Tanzcompagnie von Sasha Waltz bespielen wird. Christian Schlüter kritisiert die CDU in einer Times mager mit Hilfe Niklas Luhmanns.

TAZ, 11.08.2006

Auf der Kulturseite bespricht Tobias Rapp neue deutsche Popplatten von Jan Delay, Fler und Mia. Besprochen wird außerdem das Album "Die Tiere sind unruhig" der Band Kante. Und Michael Zimmermann fragt sich, was Jostein Gaarder zu seinen antisemitischen Ausfällen trieb. Auf der Meinungsseite untersucht der Journalist Tsafrir Cohen die israelisch-amerikanische Allianz. Und der Kuba-Experte Hans-Jürgen Burchardt entwickelt im Interview mit Wolf Schmidt Perspektiven für den Postfidelismus: "Raul Castro wird vermutlich eine chinesische Lösung anstreben: also wirtschaftlich weiter modernisieren, politisch wenig ändern." In tazzwei unterhält sich Michael Aust mit den Musikern der Band Blumentopf, die vor dem Krieg eine Tournee in Israel und dem Libanon unternommen haben.

Und Tom.

Spiegel Online, 11.08.2006

Der Schriftsteller Ralph Giordano zeigt im Interview mit Anna Reimann wenig Verständnis für den norwegischen Schriftsteller Jostein Gaarder, der in einem Essay (hier auf Englisch) erklärte, Israel habe durch die Angriffe auf den Libanon seine Existenzberechtigung verloren. "Den, der dem Originaltext von Gaarder zustimmt, nicht als Antisemiten zu bezeichnen, fällt mir schwer. Dazu sind Gaarders Worte zu eindeutig." Verantwortlich für alle Gewalt sei letztlich, wer angefangen hat. "Es ist fürchterlich was im Libanon geschieht, aber ich bin unfähig, die Hisbollah und deren Geldgeber aus Syrien und Iran von dieser Erstverantwortung freizusprechen."

SZ, 11.08.2006

"Nicht Deutschland altert, die Welt altert. Nicht Deutschland hat die geringsten Kinderzahlen (1,32 pro Frau), sondern Länder wie Ukraine (1,17), Slowakei, Slowenien, auch Süd-Korea (alle 1,2), gefolgt von Italien (1,29), Spanien (1,3)", schreibt der Soziologe Ulrich Beck und warnt vor der "Nabelschau-Demografie", die in der deutschen Debatte vorherrsche. Fest stehe nur eins: "Die Weißen europäischer Herkunft schrumpfen auf ein Fünftel der Weltbevölkerung und weniger". Statt nun Selektionsprinzipien für nicht-weiße Migranten aufzustellen, sollten wir lieber versuchen, "den Zusammenhang von Bevölkerungsrückgang, alternder Gesellschaft, notwendiger Reform sozialer Sicherungssysteme und gezielter Einwanderungspolitik als europäisches Problem zu definieren".

"Ja, den Kuratoren gelingt es, Kapitel europäischer Geschichte ins Gedächtnis zu rufen, von denen bislang nur Experten wussten", schreibt Sonja Zekri über die vom Zentrum gegen Vertreibungen organisierte Ausstellung "Erzwungene Wege" im Berliner Kronprinzenpalais, "Und doch. Und doch belegt der unbestreitbar europäische Ansatz nur eine neue, geschmeidigere Strategie des Zentrums, aber keinen fundamentalen Sinneswandel. Das wird an Kleinigkeiten deutlich, an mangelnden Bezügen, kleinen Lücken. Zwar fehlt es nicht an Schilderungen deutscher Verbrechen. Der Hitler-Stalin-Pakt, die Verheerungen im Generalgouvernement, die Vernichtung der polnischen Intelligenz, alles dies wird in wünschenswerter Klarheit dargestellt - nur mit der Vertreibung der Deutschen scheint es nichts zu tun zu haben."

Während der chaotischen Proben zur "Dreigroschenoper", die heute abend im halb renovierten Admiralspalast Premiere hat, staunt Christine Dössel Bauklötze über Mackie Messer: "Campino ist schlicht zum Verlieben. Es lieben ihn auch alle im Ensemble, inklusive Brandauer, der ihn in einem Interview ein 'erotisches Knubbelchen' nannte, was ein unzulänglicher Diminutiv ist."

Weitere Artikel: Marcus Jauer meldet, dass die Unesco David Chipperfields Entwurf für den Eingangs-Neubau zur Museumsinsel kritisiert hat. Der amerikanische Schriftsteller und Mitbegründer des Literaturmagazins n+1, der 33-jährige Benjamin Kunkel, zeigt sich am Ende des Gesprächs mit Andrian Kreye ganz als Intellektueller seiner Zeit: "Ich werde mir jetzt erst einmal ein Bier bestellen. In der Hoffnung, dann noch etwas Interessantes zu erzählen." Christoph Kappes stellt ein Projekt des amerikanischen Filmemachers Jeremy Xido vor, der berühmte Kriminalfälle wie den Mord an Hatun Sürücü nacherzählen lässt. (Mehr online in einem Artikel aus der Welt)

Besprochen werden Erwin Schulhoffs Oper "Flammen" im Theater an der Wien, die Uraufführung von Lera Auerbachs Schostakowitsch gewidmeten Sonett für Streichquartett "Cetera desunt" mit dem Petersen Quartett in Hamburg, das neue Album von Lambchop und Bücher, darunter Paula Fox' Roman "Luisa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).