Heute in den Feuilletons

Eine fast tierhafte Schönheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2011. Die SZ beschreibt die Tücken der literarischen Globalisierung, die dazu führt, dass Übersetzungen ins Englische eine sonst nicht existente Mittelsprache zwischen Englisch und Amerikanisch wählen. Im Freitag beschreibt dagegen Michael Schischkin die Gefahren einer literarischen Provinzialisierung am Beispiel der russischen Literatur. Meedia spottet: Eine Studie hat herausgefunden, dass die Tagesschau-App, gegen die die Zeitungsverleger jetzt klagen, besser ist als alles, was die Presse so fürs Iphone präsentiert. In der NZZ feiert Georg Klein die Windräder seiner Heimat.

Freitag, 22.06.2011

Während Lothar Müller in der SZ die Effekte der literarischen Globalisierung beschreibt (siehe unten), erklärt Michail Schischkin, der für seinen Roman "Venushaar" (Vorgeblättert) den Internationalen Literaturpreis bekommt, im Interview mit Ekkehard Knörer, warum eine Literatur ohne Kosmopolitismus erst recht nicht funktioniert: "Leider ist die russische Literatur im Lauf des 20. Jahrhunderts ins Abseits geraten. Wenn man die Menschen in eine Art Käfig steckt, dann grenzen sie sich ab, dann entsteht eine Art Subkultur, eine eigene Sprache mit eigenen Witzen, dann interessieren sie sich nicht mehr dafür, was draußen passiert. Die Orientierung nach außen wurde jahrzehntelang unterbunden. Die russische Literatur hat über Jahrzehnte die ganze erzähltechnische Entwicklung der Morderne und der Weltliteratur verpasst... Schon deshalb denke ich: Ja, ein Autor muss auch einmal im Ausland leben. Wer das nie tut, lebt in einem Haus ohne Spiegel. Und man braucht Spiegel, um sich selbst zu verstehen."

Außerdem erklären die Berliner Kunstfälscher Eugen, Semjon und Michael Posin im Interview mit Uta Baier den Sinn des Kopierens und wie sich Falsifikate vermeiden lassen.

Aus den Blogs, 22.06.2011

Das Web 2.0 hat seine Konsolidierungsphase hinter sich, meint Martin Weigert in Netzwertig. Facebook und Twitter haben sich als die großen sozialen Netze etabliert. Aber "das absehbare Ende der rasanten quantitativen Zuwächse (läutet) eine neue Epoche im Internet ein. Eine, die im Vergleich zu den recht leicht prognostizierbaren Ereignissen der vergangenen Jahre (Facebook und Twitter gewinnen Mitglieder, verändern Netzkultur und Verhaltensmuster, werden von Unternehmen eingesetzt) mehr Spannung verspricht." Nach Facebook und Twitter beginnen neue Erfolgsmodelle. Weigert zählt dazu Dropbox, Tmblr und Instagram.

Sebastian Strangio liest in Slate nordkoreanische Superhelden-Comics. Folgendes passiert etwa, wenn ein Flugzeug voller nordkoreanischer Agenten im afrikanischen Dschungel abstürzt: "Using the wisdom of Kim Il Sung's revolutionary juche ideology, and enriched by the power of Korean-grown ginseng, hero Kim Yeong-hwan leads survivors to safety."

Nicht ganz ohne Spott zitiert Alexander Becker in Meedia eine Studie, wonach die von acht Zeitungsverlagen juristisch angefochtene Tagesschau-App "bessere Inhalte und eine bessere Textqualität (lieferte) als die Vergleichs-Apps der elektronischen Presse."

NZZ, 22.06.2011

Von der ostfriesischen Küste schickt der Schriftsteller Georg Klein eine Erzählung über den Wind und die Windräder, unter denen er ästhetisch kein bisschen leide: "Am schönsten sind die Windräder kurz davor, in jener bestechenden Spanne, während deren es schon sehr stark, aber noch nicht allzu stark windet. Wirkliche Lebendigkeit und eine fast tierhafte Schönheit wachsen ihnen zu, sobald ihre sausenden Libellenflügel im fortwährenden Krieg, den unsere Gattung mit der Fremdheit der Natur führt, dem anstürmenden Riesenkind Wind, mutig und anmutig zugleich, Paroli bieten."

Weiteres: Miriam Ronzoni berichtet von der zunehmenden Schwulenfeindlichkeit in der italienischen Gesellschaft. Lisette Gebhardt meldet, dass sich nach Kenzaburo Oe nun auch Haruki Murakami auf die Seite der japanischen Atomkraftgegner geschlagen hat. Manuel Gogos porträtiert den Schriftsteller Benjamin Stein, der vor elf Jahren zum orthodoxen Judentum fand.

Besprochen werden Hannelore Schlaffers Buch über "Die intellektuelle Ehe", Übersetzungen der "Märchen aus Tausendundeiner Nacht" und Alain Ehrenbergs Studie "Das Unbehagen in der Gesellschaft" (mwehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 22.06.2011

Filmproduzent Stefan Arndt erzählt im Interview von seiner neuen Produktion, "Der Wolkenatlas" (nach dem Roman von David Mitchell), der von den Brüdern Wachowski und Tom Tykwer gedreht wird und mit 100 Millionen Dollar der teuerste Film der deutschen Kinogeschichte ist. Arndt kann zwar seit einem Jahr "nicht so gut" schlafen, aber das ist die Sache wert: "Bei einem schlechten Film ist das Leben nicht so viel lustiger. Langweilige Probleme verursachen langweilige Streits, interessante verursachen interessante. Dafür bin ich Michael Haneke unendlich dankbar: Ich habe durch ihn gelernt, dass man seine Grenzen ausweiten kann. Man kann sich ein höheres Ziel setzen muss und nicht innerhalb des 'Ist doch okay'-Levels vor sich hinschwimmen."

Weitere Artikel: Hollywood ist heute überall, ruft Hanns-Georg Rodek Filmemachern zu: "Das System ist so offen wie seit einem halben Jahrhundert nicht. Nun nutzt das aus!" Hannes Stein berichtet von Whitman-Papieren, die im Archiv des Attorney Generals gefunden wurden, für den Whitman einige Jahre gearbeitet hatte. In Amsterdam konnte Louis van Tilborgh vom Van Gogh Museum ein van-Gogh-Gemälde als das Porträt von Vincents Bruder Theo identifizieren, berichtet Stefan Koldehoff. Ekkehard Kern klagt über die Tagesschau-App der ARD, gegen die acht Zeitungsverlage - darunter Springer - jetzt vor Gericht gezogen sind. In seiner J'accuse-Kolumne nimmt sich Alan Posener das Kölner Finanzamt zur Brust, das die Stolpersteine, mit denen der Künstler Gunter Dennig an die Opfer des Holocaust erinnert, mit 19 statt 7 Prozent Mehrwertsteuer belegen will: Sie seien nicht als Kunst, sondern als "fabrikmäßig hergestellte Schilder" zu bewerten. Besprochen wird eine Ausstellung von Werken des Malers Gerhard Merz in der Sammlung Bastian in Berlin.

FR, 22.06.2011

Pünktlich zu Fronleichnam (ja, das ist morgen) bringt die FR "Notate zu Tod und Sterben" des Schriftstellers Thomas Lang. Eines davon: "Umfrage 1. Wie beurteilen Sie die Umstände ihres Sterbens: a) äußerst angenehm b) überwiegend angenehm c) weiß nicht d) eher widrig e) vollkommenbeschissen. 2.Wenn am kommenden Sonntag Wiedergeburt wäre..."

Weiteres: Daniel Kothenschulte erklärt beeindruckt, wie Denis Villeneuve in seinem Film "Die Frau, die singt" Wajdi Mouawads Libanonkriegsdrama "Verbrennungen" verfilmt ("Villeneuve verwendet visuelle Andeutungen, die sich erst ganz am Ende entschlüsseln"). Martin Oehlen nimmt die siegreichen Entwürfe für das neue und hoffentlich haltbare Stadtarchiv in Köln unter die Lupe. Besprochen werden Filme, darunter Ulrich Köhlers "Schlafkrankheit".

TAZ, 22.06.2011

Simone Kaempf freut sich über die Rückkehr der Komödie an die deutschen Theater und besonders über die Stücke der Autorin Rebekka Kricheldorf. Stefan Reinecke erinnert an den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion und seine mörderischen Konsequenzen. Christian Semler berichtet von einer Tagung über den Westen als Begriff und Kampfbegriff.

Besprochen werden Stefan Nagels Dramatisierung von Rolf Dieter Brinkmanns Stücks "Keiner weiß mehr" am Schauspiel Köln und Jake Kasdans Schulkomödie "Bad Teacher" mit Cameron Diaz.

Und Tom.

SZ, 22.06.2011

Liebevoll porträtiert Helmut Mauro den Komponisten und Oboisten Heinz Holliger, der mit 72 Jahren über alle Bühnen des Landes zu turnen scheint. Zuweilen ist er durchaus esoterisch: "Es gibt auch viel zu erklären: all die schönen Einfälle, die man auf der Bühne kaum hört, wenn man nicht um sie weiß. Für die japanischen Glocken bastelte Holliger ein Klangalphabet, ordnete jedem Glockenton einen bestimmten Buchstaben zu. Und nun können diese Glocken einen Text rezitieren, den Hölderlin in ein Gästebuch geschrieben hat."

Hier spielt er eine Fantasie von Telemann:



Lothar Müller befasst sich im Aufmacher unter Bezug auf ein Daniel Kehlmann-Interview im Guardian und einen Blogbeitrag von Tim Parks mit den Subtilitäten des "transatlantischen Englisch", also einem ortlosen Mittelding zwischen dem englischen und dem amerikanischen Englisch, das die Übersetzungen international erfolgreicher Autoren aus anderen Sprachgebieten charakterisiert. Das Schielen auf den internationalen Markt, so Müller, prägt die Ursprungswerke von Anfang an: "Die Zielsprache der meisten Autoren, ob sie aus Indien kommen oder aus Europa, ist das Englische. Sie ist aber nicht mehr nur lingua franca im alten Sinne, der äußere Horizont der Nationalsprachen, sie ist als verborgenes gemeinsames Skelett in die Literatursprachen der einzelnen Länder eingewandert."

Weitere Artikel: Auf der Medienseite erklärt Katharina Riehl aus Sicht der SZ, warum acht Zeitungsverlage, darunter der Verlag der SZ, gegen die Iphone-App der Tagesschau klagen. Jens Bisky verfolgte eine Tagung zur bangen Frage, ob das europäische Zeitalter ende.

Besprochen werden eine Buckminster Fuller-Ausstellung in Herford, Dirk Lauckes Stück "Alles Opfer!" bei den Ruhrfestspielen und Filme, darunter Denis Villeneuves "Die Frau die singt" (mehr hier) und Steven Silvers "The Bang Bang Club" (mehr hier) über vier südafrikanische Kriegsfotografen.

FAZ, 22.06.2011

Recht ausgelassener Stimmung waren die Feiernden bei einer Eichborn-Buchparty. Grund dazu, entnimmt man Sandra Kegels kurzem Bericht, gab es eigentlich nicht: "Die Schriftsteller haben sich im Moment des Konkurses in Gläubiger verwandelt. Denn ihre Honorare werden derzeit nicht gezahlt, die für den Herbst bereits angekündigten Bücher zum großen Teil nicht einmal mehr produziert."

Weitere Artikel: Von einem Besuch im Celebrity Center der Scientology Church in Los Angeles, bei dem eigentlich nicht viel passiert ist, berichtet sehr ausführlich Verena Lueken. Bei der Wiedereröffnung des Goethe-Insituts in Nikosia auf Zypern war Renate Klett vor Ort. Von einer Tagung zum türkisch-israelischen Verhältnis in Tel Aviv berichtet Joseph Croitoru und informiert dabei auch über die jüngsten diplomatischen Winkelzüge der Türkei in seiner Positionierung im Nahen Osten. Swantje Karich meldet das spurlose Verschwinden der iranischen Sportjournalistin Maryam Majd. Auf der DVD-Seite geht es um Filme von Denys Arcand, die in den Neunzigern in den USA gelaufene Fernsehserie "Dark Skies" und die zehn DVDs umfassende Fellini Collection. Auf der Seite 1 erklärt Michael Hanfeld den Lesern, warum seine Zeitung gegen die Tagesschau-App klagt.

Besprochen werden Bettina Bruiniers Dresdener Inszenierung von Kurt Weills Oper "Street Scene", die große "William Turner"-Ausstellung im Bucerius Kunstforum Hamburg, die Ausstellung "Juni 1941 - Der tiefe Schnitt" im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst, Denis Villeneuves Nahost-Bürgerkriegs-Melodram "Die Frau, die singt" und Bücher, darunter Rene Girards "Shakespeare"-Studie (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 22.06.2011

Roger Willemsen preist die emanzipatorischen Möglichkeiten des Frauenfußballs. Andrea Hanna Hünninger spaziert mit dem 68-Autor Bernd Cailloux durch Schöneberg. Hanno Rauterberg reißt leider die grundsätzlichen Fragen nach den Multirollenspielern in Feuilleton und Kulturbetrieb nur an, die die Verwicklung des Kunsthistorikers Werner Spies im Kölner Kunstfälscherskandal aufwirft. Ijoma Mangold wünscht sich mehr Emphase für das geplante Berliner Humboldt-Forum. Im Wissen schildert Stefan Schmitt die Tücken der personalisierten Suche im Netz, wie sie Eli Pariser beim Ted-Gespräch im März und die Forscher Martin Feuz, Matthew Fuller und Felix Stalder in ihrer Studie "Personal Web searching in the age of semantic capitalism" beschrieben haben (hier eine Kurzfassung).

Besprochen werden Ulrich Köhlers Film "Schlafkrankheit" (der laut Katja Nicodemus gekonnt beiläufig vom großen spätkolonialen Drama erzählt), Stefan Herheims Inszenierung des "Eugen Onegin" in Amsterdam und Bücher, darunter Jesper Juuls gelassener Erziehungsberater "Elterncoaching" und Sayed Kashuas Roman "Zweite Person Singular" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).