9punkt - Die Debattenrundschau

Aufs Äußerste instrumentalisierte Identität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2023. Überall wird gerätselt, warum die AfD so stark ist. Es liegt an Corona, meint der Soziologe  Klaus Hurrelmann in der SZ. Die AfD-Wähler sind nur unzufrieden mit den anderen Parteien, meint Hubertus Knabe in der FAZ. Wenn man mit ihren Wählern redet, und zwar kräftig, verschwindet die Partei, empfiehlt der sächsische Landrat Dirk Neubauer in der taz. In der FAZ rät die EU-Politikerin Francesca Bria zu einem europäischen Twitter. In der NZZ warnt Michi Strausfeld vor dem chinesischen Einfluss in Lateinamerika.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2023 finden Sie hier

Europa

Der parteilose Dirk Neubauer ist Landrat in Mittelsachsen und hat es in seinem Kreis Augustusburg geschafft, dass die AfD so gut wie keine Rolle spielt. Das einzige Rezept ist für ihn nicht Ausgrenzung, sondern permanente Gegenrede, sagt er im Gespräch mit Gareth Joswig von der taz: "Natürlich ist eine Brandmauer wichtig, aber sie funktioniert nicht da, wo die AfD schon zweitstärkste Kraft im Kreistag ist oder den Landrat stellt. Wir haben schon viel Land verloren, Ausgrenzung untermauert die Underdog-Position. Wir müssen inhaltlich dagegenhalten: Wenn jemand von der AfD im Kreistag am Mikro vom Leder zieht, bin ich der Nächste, der da steht und dagegenhält. Wir haben die besseren Argumente und tun uns keinen Gefallen, wenn wir dieses gesellschaftliche Problem nicht angehen." Hier kann man sehen, wie Neubauer auf Youtube gegen die AfD argumentiert. In einem längeren Betrag untersucht Joswig außerdem die Kluft zwischen Diskurs und Realität in der AfD.

Hubertus Knabe attackiert in der FAZ neben anderen eine Studie, die der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, in Auftrag gab und die zu dem wenig überraschenden Ergebnis kam, dass rechtsextreme Sympathien in den Neuen Ländern besonders groß seien. Aber Knabe findet die Fragen und Interpretationen der Studie suggestiv: "Nur diejenigen, die mit der Politik der Bundesregierung im Großen und Ganzen zufrieden waren, erhielten das Prädikat 'offene und liberale Menschen'. Alle anderen müssten sich als "verdrossene Populisten", "angepasste Skeptiker" und "kleinbürgerlich-konservative Menschen" bezeichnen lassen. Antworten für den Erfolg der AfD liefert Knabe nicht, es sei nur nicht so dramatisch wie behauptet: Dem jüngsten "ARD-Deutschlandtrend" sei zu entnehmen, "dass nur 32 Prozent der AfD-Wähler von der Partei 'überzeugt' sind. Die große Mehrheit - 67 Prozent - ist 'von den anderen Parteien enttäuscht'. Ihre Wahlentscheidung begründen sie zuerst mit der Migrationspolitik (65 Prozent), dann mit der Energiepolitik (47 Prozent) und schließlich mit der Wirtschaftspolitik (43 Prozent). Alle Themen weisen darauf hin, dass es eher um herausfordernde Probleme geht als um 'nicht salonfähige Positionen'."

Der Sozialforscher Klaus Hurrelmann, 79, hat in der SZ noch eine andere Antwort: Corona ist schuld am Erfolg der AfD, hat er in einer Studie herausgefunden: "Millionen von Menschen hatten während der Pandemie das Gefühl, das eigene Leben nicht gestalten zu können. Das hat eine tiefsitzende Ohnmacht hinterlassen, die immer noch nachwirkt. Ausbildung und Berufskarrieren konnten nicht wie geplant fortgesetzt werden, der Aufbau von Bindungen und sozialen Beziehungen war gestört, der souveräne Umgang mit Konsum-, Wirtschafts- und Medienangeboten blockiert, soziales und politisches Engagement wurde ausgebremst."
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Geschichte

In gerade mal zwei Eisenbahnwaggons - Güterwagen, wie sie einst zu Deportationen dienten - gedenkt Moldau zur Zeit seiner Geschichte unter dem Stalinismus. Die Ausstellung ist auf ein großes Interesse gestoßen, berichtet Daniela Calmis für die taz: "Der Zweite Weltkrieg hatte für Moldau katastrophale Folgen. Nach Kriegsende erlebte das sowjetisch besetzte Land eine große Zahl von Deportationen nach Sibirien und Mittelasien. Allein in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 verbannte das Regime in Moskau 35.796 Menschen, darunter rund 12.000 Kinder, in Arbeitslager. Sie verließen in Viehwaggons das Land. Es war eine von insgesamt drei Deportationswellen zwischen 1940 und 1951, beginnend kurz nach der Annexion Moldaus durch den Kreml im Juni 1940..." Nur die Russen sind nicht zufrieden mit der temporären Ausstellung: "Der russische Botschafter in Moldau, Oleg Wasnezow, erklärte, die beiden Waggons vor dem Regierungsgebäude seien Belege für Russophobie und eine bewusste Anstiftung zum 'Hass auf Russland und alles Russische'."

Ebenfalls in der taz schreibt Claus Leggewie aus Anlass des Films (mehr hier) über die Aktualität des Falls Oppenheimer.

Der Band "Geschichte der Welt 600-1350 Geteilte Welten", herausgeben von dem Konstanzer Religionshistoriker Daniel G. König und Teil der sechsbändigen "Geschichte der Welt" bei C.H. Beck, erzählt die Geschichte einer frühen, vor allem von der Expansion des Christentums und des Islams getriebenen Globalisierung. Rückschläge wie die Pest stärkten diese Tendenz am Ende sogar, sagt der Historiker im Gespräch mit Michael Hesse von der FR: "Die Pestwellen des 14. Jahrhunderts haben vor allem China, den islamisch geprägten Mittelmeerraum und Europa getroffen, weniger den Indischen Subkontinent und das subsaharische Afrika. In der Pest manifestiert sich, was der amerikanische Historiker William McNeill als 'mikrobielle Vereinigung der Alten Welt' bezeichnet hat. Diese immunologische 'Stärkung' zeichnet wohl dafür verantwortlich, dass es nach 1492 in den Amerikas zu einem krankheitsbedingten Massensterben der Indigenen, nicht aber der Europäer kam."
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Politik

Das europäische Interesse an Lateinamerika war - abgesehen von Ländern wie Spanien - lange Zeit nicht gerade stark. Das rächt sich jetzt, und zwar längst, schreibt Michi Strausfeld, legendäre Entdeckerin lateinamerikanischer Literatur bei Suhrkamp, in der NZZ: "21 Länder haben sich bereits der von Peking intensiv beworbenen neuen Seidenstraße angeschlossen. Dabei ist China bereits allgegenwärtig: Es gibt weitreichende chinesische Pläne für Argentinien, Pekings Einfluss in Brasilien, Chile und Peru steigt. Mexiko derweil profitiert enorm dank chinesischen Firmen, die sich verstärkt im Norden des Landes niederlassen wegen der Nähe zum amerikanischen Markt."

Der UN-Menschenrechtsrat ist im Grunde seit Jahren keine ernstzunehmende Institution mehr. Die wichtigsten Posten werden hier meist an die Vertreter der schlimmsten Autokratien vergeben, meist ist der Rat damit beschäftigt Israel zu verurteilen. Jacob Mchangama warnt in Yascha Mounks Blog Persuasion dennoch vor einer im Rat verabschiedeten Resolution gegen "religiösen Hass". Sie richtet sich oberflächlich gegen Koran-Verbrennungen durch durchgedrehte Rechtsextreme in Schweden, dient aber nur der Festigung diktatorischer Regimes: "Man muss sich nur einige der 28 Staaten ansehen, die für die Resolution gestimmt haben, um zu erkennen, dass das eigentliche Ziel nicht darin besteht, Hassrede zu bekämpfen oder Gleichheit und Toleranz zu fördern… Zu den Befürwortern der Resolution gehört Pakistan, wo auf Blasphemie die Todesstrafe steht und wo der Vorwurf der Blasphemie zur Verfolgung religiöser Minderheiten und Säkularisten verwendet wird. Auch China stimmte für die Resolution, obwohl es eine atheistische politische Ideologie vertritt. Offenbar ist China der Meinung, dass Muslime in Demokratien vor Bücherverbrennungen geschützt werden sollten, nicht aber vor der systematischen und willkürlichen Inhaftierung von mehr als einer Million Uiguren - die meisten von ihnen sind Muslime - in 'Umerziehungs'-Lagern durch die Kommunistische Partei Chinas."
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Gesellschaft

Identität ist ein Argument, meint Julius Betschka im Tagesspiegel mit Blick auf den Casus Fabian Wolff (unsere Resümees), aber kein gutes: "Ob Wolff eine Art deutsche Rachel Dolezal ist oder selbst getäuscht wurde, muss noch aufgeklärt werden. Dennoch legt das plötzliche Wegbrechen einer zuvor aufs Äußerste instrumentalisierten Identität offen, was so gefährlich im Kampf um die einzig richtige Sprechposition ist: Der Autor kann (theoretisch) immer recht gehabt haben, aber alles Gesagte hat plötzlich kaum noch Wert, weil die Identität des Sprechenden als so zentral für den Gehalt des Gesagten beschrieben wurde ('Ich als... darf...'), dass ihr Wegfall es nichtig werden lässt."

Wie hat Corona die Gesellschaften verändert, fragen die Pandemiehistoriker Christoph David Piorkowski und Malte Thießen im Tagesspiegel: "Tatsächlich hat die Zeit des Virus die Geschlechterungerechtigkeit intensiviert und die soziale Schere geweitet. So stellte die Europäische Kommission 2021 fest, dass 'die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in fast allen Lebensbereichen verschärft und hart erkämpfte Fortschritte der vergangenen Jahre zunichtegemacht' habe." Andererseits starben doppelt so viele Männer an Corona wie Frauen (mehr hier)!
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Medien

Andreas Bernard beklagt auf der Medienseite der SZ eine neue Dominanz der "Thinktanks" in Nachrichtensendungen und Talkshows der Sender. Angebliche Experten werden wie Orakel befragt. Dabei sind diese Institutionen meist von irgendjemand finanziert, dessen Interessen sie auch vertreten. Solange Thinktanks öffenlich nicht so präsent waren, war das kaum ein Problem, meint Bernard. Aber "jetzt, da die Repräsentanten der Denkfabriken fast täglicher Gast in Nachrichtensendungen und Talkshows sind, da die Grenzen zwischen dem wissenschaftlichen Experten, dem politischen Lobbyisten und dem meinungsstarken Aktivisten verfließen, werden diese traditionell undurchsichtigen, konspirativen Strukturen der Institution zum Problem."
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Stichwörter: Thinktanks, Talkshows

Internet

Wenn eine europäische Funktionärin wie Francesca Bria, die Ursula von der Leyen in der Digitalpolitik berät und in der FAZ von Niklas Maak befragt wird, ein europäisches Twitter fordert, kann man sicher sein, dass es nicht kommen wird: Oder wie genau ist es mit der vor Jahren geforderten europäischen Suchmaschine oder einem europäischen "Google Books" ausgegangen? Bria bleibt dennoch zuversichtlich. Schließlich sei "Europa stark im Bereich der Regulierung zum Schutz der demokratischen Rechte und der Privatsphäre der Bürger; da sind wir weltweit eine Referenz." Und auch bei Euro-Twitter bleibt sie optimistisch: "Der Wechsel so vieler Nutzer von Twitter zu Threads hat gezeigt, dass die Marktdominanz von sozialen Medien wie Twitter kein Naturgesetz ist, sondern dass auch hier Veränderung möglich ist. Der Aufbau eines 'Euro-Twitter' sollte die Aufgabe der europäischen öffentlich-rechtlichen Medienanstalten sein."
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Stichwörter: Twitter, Soziale Medien

Religion

Niklas Zimmermann schildert in der FAZ die Konflikte um die "Ukrainische Orthodoxe Kirche" (UOK). Das Problem sei, dass weder ukrainische Politiker noch die Russische Orthodoxe Kirche die Eigenständigkeit der UOK ernstnähmen: "Seit Präsident Selenski im vergangenen Dezember das Ziel einer 'spirituellen Unabhängigkeit' der Ukraine formuliert hat, wird der UOK vorgeworfen, sie werde noch immer aus Moskau gesteuert. Diesem Eindruck tritt der dortige Patriarch nicht entgegen. Im Gegenteil: Diese Woche ließ Kirill verlauten, dass die UOK ein untrennbarer Teil der Russischen Orthodoxen Kirche sei. Und die Ukraine überhaupt ein Teil des 'Heiligen Russlands'."
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