Efeu - Die Kulturrundschau

Die Wangen der hübschen Dame Verwesung

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30.10.2017. München bekommt sein lang ersehntes Konzerthaus. Die SZ ist sehr zufrieden mit den Entwürfen für eine Kathedrale der Musik, die vielleicht auch Gewächshaus wird. Die Berliner Zeitung findet, man muss Münchner sein, um sich über reine Klimatechnik freuen zu können. Die NZZ erlebt am Hamburger Schauspielhaus, wie sich Ilse Ritter in Elfriede Jelineks Trump-Stück "Am Königsweg" gegen den dreieinhalb Stunden grausame Großmannssucht stemmt. Und die FAZ bringt Jan Wagners Eloge auf den nach Fisch stinkenden Georg Büchner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.10.2017 finden Sie hier

Architektur


Siegerentwurf Konzerthaus München. Abbildung: Büro Cukrowicz Nachbaur Architekten

Jetzt bekommt München nach fünfzehn Jahren Diskussion sein neues Konzerthaus. Der Wettbewerb für das junge Architektenteam Cukrowicz Nachbaur aus Bregenz entschieden. In der SZ kommen Gottfried Knapp gleich mehrere Assoziationen: Ist es Schiff, Scheue oder ein Gewächshaus? Oder doch eine Kathedrale der Musik? "Alle am Konzertsaalprojekt Interessierten und Beteiligten können also mit dem ersten Preis sehr zufrieden sein. Das Büro Cukrowicz Nachbaur hat vor allem die Wünsche der Musiker und Konzertveranstalter auf ideale Weise erfüllt. Das ganze hintere Drittel des langgestreckten siebengeschossigen Baus ist für Proberäume, Stimmzimmer, Künstlergarderoben, Büros und Kantine reserviert. Alle öffentlich zugänglichen Räume werden von der Eingangsfront aus erschlossen. Das Erdgeschoss, das als Sockel für den riesigen Glassturz wohl etwas zu niedrig geraten ist, soll sich mit Läden und einem Café in die Umgebung hinaus öffnen."

Der Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters Mariss Jansons beruhigt im SZ-Interview all jene, die auf einen spektakuläreren Entwurf gehofft hätten: "Wenn man durch die Glasfassade das Leben im Inneren sieht, dann ist das wunderbar. Der Entwurf ist nicht so spektakulär, aber auch nicht hässlich. Und es geht vor allem um die Musik, deshalb ist nun die Akustik die nächste wichtige Frage, die geklärt werden muss." In der Berliner Zeitung hängt sich Nikolaus Bernau weit aus dem Fenster: "Eine letztlich eher technisch-klimatische Umhüllung der eigentlichen Funktion, wie man sie für Geschäftshäuser, Museen, Verwaltungen, sogar Wohnbauten öfter findet. Man muss schon eingefleischter Münchner Lokalpatriot sein, um hier das spektakuläre Ereignis zu sehen, das von dem Wettbewerb erhofft worden war."

Richtig aufregend findet Peter Richter, was der junge Architekt Mathieu Bujnowskyj auf dem Berliner Forecast-Festival im Haus der Kulturen der Welt präsentierte: Möbel, die sich mit einem gewissen "querulatorischem Selbstbewusstsein" quer zur technologischen Lage stellen: Zum Beispiel "ein Schränkchen neben der Eingangstür, in das das Handy kommt, während man im Raum ist, schallisoliert, damit man nicht dauernd von eintrudelnden Nachrichten aufgescheucht wird und einigermaßen abhörsicher reden kann." (Bild: HKW)
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Bühne


Elfriede Jelineks "Am Königsweg" am Hamburger Schauspielhaus. Foto: Arno Declair

Am Hamburger Schauspielhaus hatte Elfriede Jelineks Stück "Am Königsweg" Premiere, für die Regisseur Falk Richter den Trumpismus als grellen Wahnsinn inszeniert. Bernd Noack zeigt sich in der NZZ etwas angestrengt von diesem hochtourigen Abend, den die famose Ilse Ritter aber immer wieder auf den Punkt bringe: "Es ist der permanente Ausnahme- und Kriegszustand, in dem sich ein aus allen Fugen seines Verstandes geratener Popanz als Herrscher eingerichtet hat. Richters Trump-Welt ist also voller Trash und absurder Normalitäten, ein surreales Panoptikum der grausamen Großmannssucht, vollgestopft mit grotesken Machtinsignien, kolonialer Beute, Plüschträumen, Schreckenswesen, und wird beherrscht von Waffen und den Symbolen des Glaubens an Gott und all seine selbsternannten Stellvertreter. Aber niemand 'sieht' hier mehr tatsächlich, in welches Unheil er rennt: Die Augen der Spieler sind wund und blutig gestochen, ihr Wüten führt in die Leere.

Völlig erledigt kommt SZ-Kritikerin Christine Dössel aus dieser wilden Theatersause: "Dreieinhalb Stunden lang Textgewitter, Videogeflitter, Muppet Show und Grand Guignol. Dreieinhalb Stunden lang Horror-Entertainment rund um die Weltlage - mit der Hauptfrage, wie zum Teufel ein Mann wie Donald Trump amerikanischer Präsident werden konnte, hier nur 'der König' genannt. Ganz großes Weltkasperltheater. Und dann geht man raus und ist auch nicht klüger als zuvor. Oder irgendwie erlöst. Nicht einmal erbost." In der Welt kann Stefan Grund generell nichts mit Jelinek anfangen, die nur durchhechele, was ihr an der Welt nicht gefällt. In der Nachtkritik räumt allerdings auch Falk Schreiber ein: "Ein Stück gegen Trump, das ist Preaching to the Converted, dessen sind sich auch Regisseur und Autorin bewusst."

Besprochen werden Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung von Philip Glass' Oper "Satyagraha" an der Komischen Oper Berlin (taz, Berliner Zeitung), Anselm Webers Bühnenversion von Anna Seghers "Das siebte Kreuz" mit Max Simonischek am Schauspiel Frankfurt (FAZ).
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Film


Zahmer Zar: Lars Eidinger als Nikolaus II. in Alexej Utschitels leider nur angeblichem Skandalfilm "Mathilde".

Dass Alexej Utschitels Film "Mathilde" über eine historisch belegte Affäre von Zar Nikolaus II. in Russland auf derart militanten Widerstand bis hin zu Brandanschlägen gestoßen ist, ist weder für die deutschen Kritiker noch für den Regisseur - bis dahin strammer russischer Patriot und Liebling der staatlichen Kulturförderung - nachvollziehbar. "Viel staatstragender geht es kaum", schreibt Julian Hans in der SZ, nachdem er den "etwas unschlüssigen Kostümfilm", der diese Woche auch in Deutschland startet, gesehen hat. Auch Manuel Brug sah viele Szenen, die "unausrottbar auf Bling-Bling-Modus die Vergangenheit verklären": Der Film tauge noch nicht einmal zu jenem Porno-Skandal, zu dem ihn rechtsnationale Russen stilisieren wollten, beschwert sich der Welt-Kritiker: "Außer vielleicht drei Titten und einem Hintern gibt es nichts Nacktes zu sehen, der künftige Zar treibt es geziemt und ziemlich harmlos." Diesen in Liebesdingen wenig abenteuerlichen Zar spielt im übrigen Lars Eidinger, über den beide Kritiker lobende Worte verlieren - im aktuellen ZeitMagazin darf er träumen.

Francois Werner meldet auf der Website des Tatort-Fundus, dass die ARD den Sonntagabendkrimi mit einer Quote von maximal zwei "experimentellen" "Tatort"-Folgen pro Jahr noch langweiliger und stromlinienförmiger machen will als ohnehin schon. Worüber sich auch Michael Hanfeld in der FAZ entrüstet: "Die ARD sollte das Aufhebens, das vom 'Tatort' gemacht wird, wann immer eine Episode aus der Reihe tanzt, als Qualitätsausweis begreifen. Die erste 'Tatort'-Episode 'Taxi nach Leipzig' aus dem Jahr 1970 war übrigens auch ein Experiment. Darin muss die 'DNA' der Krimireihe bestehen: im Mut zu Experimenten."

Weiteres: Kaspar Heinrich (Tagesspiegel), Hanns-Georg Rodek (Welt) und Philipp Bovermann (SZ) berichten von den ersten Hofer Filmtagen unter dem neuen Leiter Thorsten Schaumann: Rodek bezeugt im traditionell auf deutsches Kino spezialisierten Festival einige "Lichtblicke in dem Trüberlei der deutschen Produktion" (etwa in Axel Ranischs "Waldlust"), sah Bovermann in den Spielfilmen starke Frauen und schwache Männer (etwa in Jan Zabeils "bildgewaltigem" Eröffnungsfilm "Drei Zinnen"). Im Tagesspiegel wirft Gunda Bartels einen Blick auf die Geschichte des Festival DOK Leipzig, das heute seinen 60. Jahrgang beginnt. Mit dessen Programmchef Ralph Eue spricht Denis Giessler in der taz. Patrick Straumann gratuliert Claude Lelouch in der NZZ zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Serie "The Handmaid's Tale" nach Margaret Atwoods gleichnamiger literarischer Vorlage (eine der "großen filmischen Annäherungen an die Literatur", schwärmt Claudia Schwartz in der NZZ), Philipp Hartmanns Essayfilm "66 Kinos" (SZ), Jörg Beckers Buch "Spiegelungen. Variationen einer Metapher" (Freitag), der vom ZDF ins Netz gestellte Mehrteiler "Bruder - Schwarze Macht" mit Sibel Kekilli (FR) und eine neue Marvel-Comicsause mit dem Superhelden Thor (Tagesspiegel, Standard).
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Literatur

In Darmstadt wurde am Wochenende der Büchnerpreis an Jan Wagner verliehen. Die FAZ dokumentiert die Dankesrede, in der der Preisträger nicht nur darüber spekuliert, wie sehr Georg Büchner seinerzeit wohl nach Fisch gestunken haben muss, sondern auch, was für Verse er wohl geschrieben hätte, wäre er, wie Wagner, ein Dichter gewesen: "Mit seinem galligen Humor und dieser offenkundigen Lust am Sprachspiel und am kühnen Bild" hätte Büchner sicher Aufsehen erregendes geschrieben: "Da werden ohne Schwielen an den Fingern die Wangen der hübschen Dame Verwesung gestreichelt, wird man am Ende der Bettlerin Erde in den Schoß geworfen wie ein durchgelaufener Schuh; da ist die Erde so nass und klein, dass man sie hinter den Ofen setzen will, muss der Kopf gerade auf den Schultern getragen werden wie ein Kindersarg; die Sonnenstrahlen wiegen sich an den Grashalmen wie müde Libellen, Käfer summen wie gesprungene Glocken ... Herrlich ist das, und damit wäre man noch gar nicht bei den brillanten Beleidigungen und den Obszönitäten, die ja vorführen, dass Dichtung immer auch ein Spiel ist - wenn auch eines, das mit Präzision betrieben wird."

Beim Deutschlandfunk kann man Wagners Rede nachhören. Judith von Sternburg (Berliner Zeitung), Tilman Spreckelsen (FAZ) und Volker Breidecker (SZ) berichten von der Verleihung, beziehungsweise der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Martin Ebel unterhält sich in der SZ mit Daniel Kehlmann über dessen neuen Roman "Tyll", den Dreißigjährigen Krieg und wie ein Schriftsteller über eine untergegangene Epoche schreiben kann: "Indem man keine Konzepte verwendet, die diese Figuren nicht gehabt haben können", erklärt der Autor. "Ein Wort wie 'deprimiert' etwa geht nicht, weil dahinter ein modernes psychologisches Konzept steckt. All das muss man rausfiltern. Und dann gehört natürlich Intuition dazu, dafür ist man ja Schriftsteller geworden, um sich in andere Menschen zu versetzen." Etwa in Menschen, "für die Paradies und Hölle so real sind wie Nürnberg oder Augsburg. Oder für die Magie funktioniert. Es gab den Gegensatz von Vernunft und Aberglaube gar nicht. Selbst bei den Gebildeten."

Weiteres: Auf der Belgrader Buchmesse hat Herta Müller mit ihrer Einschätzung, dass die Nato-Bomben auf Serbien im Jahr 1999 eine Folge der Milošević-Kriege waren, für erzürnte Reaktionen gesorgt, berichtet Marko Martin kurz und knapp in der Welt, um anschließend in die Partyszene Belgrads abzutauchen. Für die Reportage auf der Seite Drei der SZ hat Hilmar Klute den Schweizer Schriftsteller Paul Nizon in Paris besucht. Deutschlandfunk Kultur bringt ein Feature von Ute Rüvenauer über "Schüchternheit und Literatur". Harald Eggebrecht gratuliert in der SZ dem Schriftsteller Ernst Augustin zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Brecht/Benjamin-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin (Welt), Uwe Timms "Ikarien" (Berliner Zeitung), Werner Tübkes "Mein Herz empfindet optisch" (Tagesspiegel) und Bachtyar Alis "Die Stadt der weißen Musiker" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Michael Krüger über Harald Hartungs "Nachts im Bad":

"Das ferne Autobahngeräusch
Die Welt ist noch unterwegs
..."
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Kunst

NZZ-Kritikerin Gabriel Katzenstein freut sich in der Ausstellung der Künstlerin Marion Richter im Zürcher Counter Space, dass ihre Erwartungen ein ums andere mal konterkariert wurden: "Grau ist nicht einfach die Mischung von Schwarz und Weiß, es fließt eine Spur von Blau, Chromgrün oder Siena natur hinein." Hannes Schwenger liest die gegebenen Tagebücher des DDR-Malers Werner Tübke, der mit seinem Pläydoyer für den sozialistischen Realismus den Kotau vor der Staatsführung vollführte. Letzte Einsicht geben sie nicht: "War Werner Tübke ein Opportunist? Ja und nein."

Besprochen werden die Ausstellung "Gesichter Chinas" zur Porträtmalerei der Ming- und Qing-Dynastie von 1368 bis 1912 im Berliner Kulturforum (taz) und eine Ausstellung über die Secessionisten von Zagreb im Belvedere in Wien (Standard)
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Musik

In der Nord-Ausgabe der taz spricht Jan Paersch mit Achim Reichel über dessen psychedelische Aufnahmen aus den frühen Siebzigern, die er unter dem Namen A.R. & Machines veröffentlichte und die jetzt gesammelt als Box erscheinen. Den Anstoß zu dieser Musik gab ihm damals sein neues Bandgerät Akai X-330D, erklärt der Musiker: "Ich wollte eigentlich nur ein Gitarrenmotiv aufnehmen, drückte den falschen Knopf, und plötzlich kam das Motiv als Echo zurück. Plötzlich hatte ich einen Gitarrenwald im Kopfhörer. ... Ich war an einem Punkt angelangt, an dem mich fragte, ob ich mein Leben lang Tanzmusik machen will. Die Musik der Rattles geht nach außen. A.R. & Machines gehen nach innen, dazu legt man die Beine hoch und lässt sich davontragen. Das kannte ich bis dahin nur von der Klassik." Das klang dann so:



Weiteres: Gregor Dotzauer porträtiert im Tagesspiegel den Schlagzeuger und Komponisten Tyshawn Sorey, der beim Berliner Jazzfest vier Konzerte geben wird. Ljubiša Tošić spricht im Standard mit Bernhard Günther über dessen Pläne für das Festival Wien Modern. Im Standard unterhält sich Heidemarie Klabacher mit dem norwegischen Pianisten Leif Ove Andsnes über die Kompositionen von Jean Sibelius. Wolfgang Sandner resümiert in der FAZ das 48. Jazzfestival in Frankfurt, wo ihn vor allem das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks als "wahre Supergroup des Jazz" besonders beeindruckte. Thomas Stillbauer erinnert in der FR an das vor 40 Jahre erschienene Album "Never Mind the Bollocks" der Sex Pistols. Wir erinnern uns mit:



Besprochen werden Kaitlyn Aurelia Smiths neues Konzeptalbum "The Kid" (Jungle World), King Krules neues Album "The Ooz" (Standard), das neue Destroyer-Album "Ken" (SZ), die von Omer Meir Wellber dirigierte europäische Erstaufführung von Sofia Gubaidulinas Tripelkonzert in Zürich (NZZ), eine Aufführung von Hector Berlioz' "Romeo und Julia" durch das Sinfonieorchester Basel unter Ivor Bolton (NZZ) und neue Musikveröffentlichungen, darunter Alexei Lubimovs Einspielung von Carl Philipp Emanuel Bachs Musik auf einem Tangentenflügel (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wilm über "Everlasting Everything" von Wilco:


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