Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2003. In der NZZ erklärt der polnische Autor Stefan Chwin, warum er die deutschen Vertriebenen beneidet. Die SZ malt sich das Leben nach den Sozialreformen aus. Die taz freut sich über eine "Sinfonie der Großstadt" in Comicform. In der FAZ macht Amos Oz Frieden mit den Palästinensern.

NZZ, 20.10.2003

Der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin (mehr hier) fragt mit Blick auf das Schicksal seiner eigenen Familie, ob die Vertreibung der Deutschen nicht auch positive Aspekte gehabt hat. Denn im Grunde, meint er, war die Aussiedlung der Pommern, Schlesier und Ostpreußen "wie ein Glücksfall in der Lotterie des Lebens. Aus der roten Zone, in der nicht nur mit den Deutschen unsanft verfahren wurde, gelangten sie in die zivilisierte Welt, und viele von ihnen lebten nach dem Krieg besser als früher in ihrer alten Heimat. Die Deutschen, die die Elbe überquerten, waren den Fängen des sowjetischen Leviathan wie durch ein Wunder entronnen. Auch wenn sie große Verluste erlitten - sie haben die kommunistische Unfreiheit und Armut nicht erleben müssen. Viele von ihnen haben von ihr bis heute keine rechte Vorstellung. Vielleicht wird jemand einwenden, man hätte nicht einige Millionen Deutsche an den Polarkreis schicken können. Doch eine solche Operation wäre für Sowjetrussland kein Problem gewesen. So wurde zum Beispiel das ganze tschetschenische Volk nach Kasachstan deportiert. Fast eine halbe Million Polen wurde nach Sibirien gebracht. Angesichts dieser Tatsachen konnten die nach dem Krieg deportierten Deutschen, die in den Westen gelangt waren, von Glück reden."

Der Kulturanthropologe Thomas Macho (mehr hier) macht sich Gedanken über den modernen Terror und das ihm innewohnende Prinzip der Eskalation: "Im Terror wird die paranoische Inversion - ich verfolge, weil ich verfolgt werde, und ich werde verfolgt, weil ich verfolge - gleichsam totalisiert."

Weiteres: Albrecht Buschmann schreibt zum Tod des spanischen Autors Manuel Vazquez Montalban (mehr hier). Paul Jandl begeht das zehnjährige Bestehen des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Besprochen werden Meret Matters Inszenierung des "Wilhelm Tell" am Zürcher Schauspielhaus und das Ballett "Amusias" des Freiburger Ensembles "Pretty Ugly" in Luzern.

SZ, 20.10.2003

Der Soziologe Hans-Peter Müller malt sich im Aufmacher aus, wie unser Leben nach den Sozialreformen in Deutschland aussehen wird. "Das Versprechen einer dauerhaften Sozialstaatsexistenz als Lebensform gehört nicht mehr dazu. Der Sozialstaat konzentriert sich auf sein 'Kerngeschäft' und kehrt in gewisser Weise zu seinen Ursprüngen zurück: das schiere Überleben angesichts existentieller Wechselfälle wie schwerer Krankheit, Unfall oder Alter zu garantieren, die Vorstellungen vom 'guten Leben' aber der Gesellschaft und ihren Bürgern zu überlassen."

Bob Dylan spielte zum Auftakt seiner Deutschlandtournee in Hamburg, und Karl Bruckmaier war überrascht. Angenehm, wie immer. "Aus den Musikruinen von 'Maggie?s Farm' erstand im Lauf von zwei Stunden wieder eines jener wunderlichen Gesamtkunstwerke, die man Dylan-Konzert nennt. Auch wenn ich ihn hier zum vielleicht zwanzigsten Mal sehe, den großen Trick kann ich einfach nur beschreiben, nicht erklären."

Weiteres: Stephan Maus sehnt sich nach einem Tag auf der Erotikfachmesse Venus nach lebenslanger Enthaltsamkeit - nicht ohne zuvor alle Absonderlichkeiten genüsslich geschildert zu haben. Annette Ramelsberger untersucht das Wesen der Politikerreise anhand des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit, der fleißig besucht, fliegt und reist. Denn: "Für was hat man Partnerstädte?" Maike Albath schreibt zum Tod von Manuel Vasquez Montalban (mehr). Susan Vahabzadeh weiß Neues vom Streit über das DVD-Verbot im Rahmen der Oscar-Prämierung. Andrian Kreye informiert uns über die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Geburtstag der Kompagnie des Choreografen Merce Cunningham in New York. Roswitha Budeus-Budde gratuliert Schriftsteller Otfried Preußler zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite klärt uns Oliver Fuchs über die vielgepriesene Charlotte Roche auf, die nun bei Pro7 eine Talkshow hat. Klaus Podak porträtiert den Journalisten und Schriftsteller Theodor Wolff (1868-1943, mehr hier).

Besprochen werden die Aufführung der Berlioz-Oper "Les Troyens" unter John Eliot Gardiner am Pariser Chatelet, die Ausstellung über Jean Cocteau im Centre Pompidou, Reuben Leders Katastrophenfilm "Baltic Storm" (Links) über den Untergang der Estonia, und Bücher, darunter Fritz J. Raddatz? Autobiografie "Unruhestifter", Annie Proulx' Roman "Mitten in Amerika" sowie Roman Grafes Chronologie der alltäglichen Grausamkeiten an der "Grenze durch Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 20.10.2003

Der katalanische Schriftsteller Manuel Vazquez Montalban (mehr) ist gestorben, und Karin Ceballos Betancur widmet der intellektuellen Ikone der spanischen Demokratie zum Abschied ein kleines Porträt. "Weltweit bekannt wurde der Katalane vor allem mit seinem Detektiv Pepe Carvalho, Protagonist von mehr als zwanzig seiner Romane. Mit dem früheren CIA-Agenten und Ex-Kommunisten, der seinen Kamin mit Büchern heizt, teilte Vazquez Montalban nicht nur die ihm eigene Form widerständiger Traurigkeit, sondern auch ausgeprägte kulinarische Vorlieben."

Weitere Artikel: Bernhard Uske fasst die Höhepunkte der "Frankfurter Positionen 2003" zusammen, einer Tagung zu den Gestaltungsmöglichkeiten der modernen Musik. Michal Rudolf nutzt die Zeilen von Times mager, um den Diebstahl seines Fahrrades während des Pilzesammelns bekannt zu geben. Gemeldet wird, dass der Münchner Historiker und Publizist Christian Meier wegen seines Einsatzes für die deutsche Sprache den mit 35 000 Euro dotierten Jacob-Grimm-Preis 2003 erhalten hat.

Auf der Medienseite ärgert sich Eckhard Stengel, dass bei der bald beginnenden Digitalisierung der Fernsehwelt der Zuschauer nicht gefragt, aber zur Kasse gebeten wird.

Besprochen werden die Uraufführung von Einar Schleefs "Gertrud" in Düsseldorf, ein Auftritt von David Bowie und Bücher, darunter Egon Bahrs Gedankensammlung "Der deutsche Weg" sowie Karl Schlögels essayistische Studie zu "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 20.10.2003

Ein Comic für Romanleser: Ekkehard Knörer ist von Jason Lutes' (mehr) gut 200-seitigem Opus "Berlin. Steinerne Stadt" recht angeregt und spart nicht mit Lob. "'Berlin' will mit Entschiedenheit ein richtiger Roman sein, ja eine Sinfonie der Großstadt in Comicform, ein Ineinander und Durcheinander der Träume, Hoffnungen und Ängste der Zeit. Faszinierend tatsächlich der Reichtum der Stimmen, die in geradezu hörspielartigen Arrangements als Ballons und Kästchen, als Dialoge, Tagebuchtexte und auch als unausgesprochene, beinahe unbewusste Gedanken durch die Panels zu treiben scheinen." Ein längeres Interview Knöerers mit Lute finden Sie hier.

Thema des Tages sind die Globalisierungskritiker von Attac, die neue Geschäftsfelder entdecken müssen und nun auch die Sozialreformen in Deutschland kritisieren wollen: Im Gespräch mit Ulrike Winkelmann gibt der Soziologe Roland Roth Tipps, wie Attac das anstellen kann. Hannes Koch berichtet über die Sparzwänge in der Vereinigung. Dirk Eckert beschreibt, wie Attac die eigene Sozial-Kampagne unabhängig von den Gewerkschaften halten will.

Im Feuilleton schreibt Diemut Röther zum Tod des spanischen Poeten, Gourmets, Kommunisten und Essayisten Manuel Vazquez Montalban (mehr). Detlef Kuhlbrodt hat sich auf dem 46. Internationalen Leipziger Dokumentarfilmfestival utopisch gefühlt, trotzdem amüsiert und viele gute Filme geguckt.

Auf der Medienseite verfolgt Tobias Moorstedt den Wandel von MTV vom visuellen Radio zum voll ausgeprägten Fernsehsender. Und Christoph Schultheis findet Harald Schmidt "behäbig und gedankenfaul, routiniert, langweilig und doof".

Schließlich Tom.

FAZ, 20.10.2003

Der israelische Autor Amos Oz ("Allein das Meer") berichtet von einer prominent besetzten israelisch-palästinensischen Gesprächsrunde, die in Jordanien tagte, um die Möglichkeiten eines Friedens zu erkunden. Es handelte sich nicht um ein offizielles Gespräch, und das Dokument, das am Ende verabschiedet wurde, sei "zahnlos". "Aber wenn die Menschen auf beiden Seiten es akzeptieren, morgen oder übermorgen, werden sie feststellen, dass das Fundament für einen Friedensschluss gelegt ist. Und wenn Scharon einen anderen Plan vorlegt, ein besseres, ausgefeilteres, patriotischeres Dokument, das ebenfalls von der Gegenseite akzeptiert wird? Kein Problem, meine Freunde und ich würden dem Mann gratulieren. Und ihn auf Schultern tragen, obwohl er, wie jeder weiß, nicht gerade ein Federgewicht ist."

Weitere Artikel: Mark Siemons freut sich über die ästhetische Rehabilitierung der DDR-Kunst durch die gerade zu Ende gehende Retrospektive in der Berliner Nationalgalerie. Walter Haubrich schreibt zum Tod des spanischen Autors Manuel Vazquez Montalban. Jürgen Kaube hat einem Leipziger Vortrag des einst bei Suhrkamp verlegten vermeintlichen Moralphilosophen Ted Honderich zugehört, der im wiederholten Falle des Recht auf Selbstmordattentate verteidigte. Michael Gassmann berichtet über Kölner Bestrebungen zu einem Migrationsmuseum. Frank Schirrmacher unterhält sich auf einer Seite mit dem Kinderbuchautor Otfried Preußler, dem wir den "Räuber Hotzenplotz" und "Die kleine Hexe" verdanken.

Auf der letzten Seiten begeht Klaus Ungerer die Touristenattraktionen in der Mitte Berlins und bekommt angesichts einiger bunt angemalter Plastikbären gegenüber vom Holocaust-Mahnmal unheilbare Depressionen. Joachim Müller-Jung meldet, dass sich die Naturforscher-Akademie Leopoldina eine kulturwissenschaftliche Abteilung zulegen will. Und Verena Lueken zeigt sich bestürzt von Woody Allens Absicht, in gut honorierten Memoiren Details über sein Privatleben auszubreiten, an denen wir gar nicht interessiert sind. Auf der Medienseite informiert uns Jörg Thomann über den Erfolg von Pocket-Heften für junge Frauen.

Besprochen werden ein Konzert David Bowies in Frankfurt, eine Ausstellung des Bildhauers Ron Mueck in Berlin ("not found", meldet die zum Hamburger Bahnhof gehörige Internetadresse), Einar Schleefs Stück "Gertrud" in Düsseldorf und einige Sachbücher, darunter Rainer Prätorius' "In God we Trust" über Religion und Politik in den USA.