9punkt - Die Debattenrundschau

Im Interregnum der digitalen Gegenwart

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2019. Michel Serres ist gestorben. Libération bringt einen Text, in dem er erklärt, wie man Identität und Zugehörigkeit unterscheidet. Die Briten müssen endlich aufhören, der Glorie ihres Empires hinterherzuträumen, schreibt David Olusoga im Guardian. Im Perlentaucher betrachtet Rüdiger Wischenbart besorgt die schrumpfende Mitte. Frauen wurden in der SPD noch nie gut behandelt, schreibt Alice Schwarzer auf emma.de. Auch in Afrika wird überwacht, warnt die taz, meist mit chinesischer Technik. In der SZ zieht  Bernhard Pörksen Lehren aus Rezo.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2019 finden Sie hier

Ideen

Bild : © CC-by-SA 3.0 Briand

Michel Serres ist gestorben. Kein anderer machte deutlicher, dass Natur- und Geisteswissenschaften zusammengehören, schreibt Arno Widmann in der FR: "Ich werde nie vergessen, als ich - Anfang der achtziger Jahre in 'Der Parasit' von Michel Serres - begriff, dass auch das Brummen und Krächzen, auf das ich stieß, wenn ich an meinem Radio drehte, um den Deutschlandfunk zu suchen, Informationen enthielt. Nicht die, nach denen ich suchte. Für andere aber viel wichtiger als die, nach denen ich lechzte." In der taz schreibt Cord Riechelmann, in der NZZ Sarah Pines, in der SZ Joseph Hanimann, in der Welt Hans Ulrich Gumbrecht. Das philomag bringt ein längeres Gespräch mit Serres. Le Monde hat Stimmen gesammelt.

In seinem letzten Buch hat Serres gefragt "Was war früher genau besser?" (nicht soviel, nämlich). Und zu den Dingen, die besser sind, gehört Europa:


Libération zitiert aus dem Editorial, das Michel Serres 2009 schrieb, als die Zeitung eine Philosophen-Ausgabe machte. Und er schrieb über die damals schon tosende Identitätsdebatte: "Ich kenne eine ganze Menge Leute, die Michel Serres heißen: Ich gehöre zu dieser Gruppe, wie ich zu der Gruppe der Leute gehöre, die im Département Lot-et-Garonne geboren sind. Auf meinem Personalausweis wird also nichts über meine Identität ausgesagt, sondern nur etwas über eine Reihe von Zugehörigkeiten. Zwei andere kommen dort noch vor: die Leute, die 1,80 Meter groß sind und jene, die französischer Nationalität sind. Identität und Zugehörigkeit zu verwechseln, ist ein logischer Fehler, der von Mathematikern beschrieben wird. Entweder sagen Sie 'a ist a', 'ich bin ich', und sie haben die Identität. Oder Sie sagen 'a gehört zu dieser Gruppe', und das ist Zugehörigkeit. Dieser Fehler führt ins Nirgendwo. Aber er verbindet sich mit einem politischen Verbrechen: dem Rassismus."

Die letzten Monate zeigen einen Paradigmenwechsel, der die politische Mitte plötzlich sehr sehr alt aussehen lässt, schreibt Rüdiger Wischenbart im Perlentaucher: "Das prekäre Dilemma in der Mitte besteht wohl am meisten darin, dass mittendrin kaum eine Perspektive bleibt - außer der Angst vor den kommenden Katastrophen der Veränderung! Dystopien auf allen Ebenen haben die sozialdemokratischen Utopien ebenso ersetzt wie die konservativen Selbstgefälligkeiten."

Weiteres: Die NZZ hat ihre Artikel zu Karl Barth online nachgereicht, dessen radikaler Kommentar zum Römerbrief vor hundert Jahren erschien. Friedrich Wilhelm Graf würdigt den Kommentar, Frank Jehle schreibt über die frühen Predigten des protestantischen Theologen. Zeit online übernimmt aus dem Merkur einen Artikel Jan-Werner Müllers über die Fallen des Populismus. In der NZZ ärgert sich Rainer Zitelmann über die Vorstellung, Reiche seien unmoralisch.
Archiv: Ideen

Europa

Vielleicht ist der Brexit doch ein Segen für die Briten, überlegt David Olusoga im Guardian. Vielleicht werden die harten, von vielen geleugneten Folgen die Briten endlich davon überzeugen, dass es kein Empire mehr gibt und auch keine britische Besonderheit: "Die meisten derer, die von einem 'Empire 2.0' träumen oder uns auffordern, unseren verlorenen 'Freibeutergeist' wiederzuerlangen, waren im Zweiten Weltkrieg Kinder, und sie sahen nur das Ende des Empires. Sie sprechen mit verklärten Augen über die verlorene Macht Britanniens und die besonderen Beziehungen, die wir einst zu Nationen hatten, die uns glücklich hinausgeworfen haben, aber für sie sind die letzten Tage des Raj keine entfernte Erinnerung, sondern ein lokales Curryhaus. Wenn man als als Verräter bezeichnet oder beschuldigt werden will, Großbritannien zu hassen, dann muss man einfach behaupten, dass Britannien eine normale Nation sei oder dass unsere Geschichte bemerkenswert, aber nicht außergewöhnlich sei. Besonders Dickhäutige können auch Sklaverei oder die Gewalt des Empire erwähnen. Man könnte darauf hinweisen, dass es anderen Nationen, zum Beispiel den Niederländern, gelungen ist, sich damit abzufinden, dass ihr goldenes Zeitalter vorbei ist. Die Niederlande sind bei weitem nicht perfekt, aber ihre Bewohner träumen nicht davon, den 'Freibeutergeist' wiederzufinden, den auch sie einst besaßen. Dies würde darauf hindeuten, dass es möglich ist, eine Blütezeit zu haben und dann weiterzumachen, erwachsen zu werden und mit dem Leben fortzufahren."

Der Komiker Wolodimir Selenski hat die Wahlen in der Ukraine mit sagenhaften 73 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen. Aber das war keine Wahl für Selenski, sondern eine gegen Poroschenko, erklärt der ukrainische Dichter Serhij Zhadan in der NZZ. Wohin das führt, zeichnet sich bereits ab: "Bis jetzt war es praktisch unmöglich, Selenskis Aktivitäten zu kommentieren. Aus dem einfachen Grund, weil der neue Präsident bis jetzt noch gar keine Aktivitäten unternommen hat. Verbreitet wurden lediglich Videobotschaften und Kommentare, die aus seinem Team kamen. Bis jetzt hören wir nichts als die schönen und vorhersehbaren Ankündigungen, Worte, die von Selenski erwartet werden und die zu seinen Wahlkampfversprechen passen. Versprechen sind allerdings ein Kapital, das rasant an Wert verliert. Versprechen müssen umgesetzt werden. Und da erhebt sich natürlich die Frage, ob es Selenskis Wählern gefallen wird, dass sich die Wirklichkeit signifikant vom Kino unterscheidet."
Archiv: Europa

Urheberrecht

Die arg in Bedrängnis geratenen Parteien der großen Koalition wollen auf nationaler Ebene Verbesserungen an der EU-Urheberrechtsreform anbringen, die sie selbst maßgeblich mitbetrieben haben (zusammen mit den beliebten Grünen übrigens). Aber diese Idee dürfte Grenzen haben, meint Christian Ratz in der taz: "Der Bundesregierung ist allerdings klar, dass sie eine Lösung ohne Uploadfilter nicht im Alleingang beschließen kann, schließlich will die EU-Richtlinie eine europaweit einheitliche Lösung schaffen. Außerdem ist es nur schwer vorstellbar, dass globale Plattformen wie YouTube in Deutschland nach anderen Prinzipien funktionieren als im Rest der EU."
Archiv: Urheberrecht

Überwachung

Auch afrikanische Staaten nutzen das Internet, das für viele Afrikaner vor allem mit dem Mobilfunk zu einem Mittel der Befreiung wurde, immer öfter zum Zweck der Überwachung und Unterdrückung, schreibt Dominic Johnson in der taz. Neben internationalen Firmen seien besonders die Chinesen auf dem Markt aktiv: "Der globale Markt für Gesichtserkennungssysteme soll Prognosen zufolge 2017-2025 um das Achtfache wachsen. Chinas Anteil soll knapp die Hälfte betragen, das chinesische Start-up 'Cloudwalk' ist Marktführer. Simbabwes Regierung vereinbarte 2018 mit Cloudwalk den Aufbau eines landesweites Gesichtserkennungssystems, das in Städten und Verkehrssystemen die Kriminalitätsbekämpfung unterstützen soll - die Daten dürfen in China gespeichert werden, womit der chinesische Entwickler endlich seinen Rückstand bei der Gesichtserkennung Schwarzer aufholen kann, ein hartnäckiges Hindernis beim Export."
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

Frauen in der SPD wurden noch nie gut behandelt, schreibt Alice Schwarzer auf der Website von Emma. Und erinnert sich an ein Treffen mit der einstigen SPD-Familienministerin Renate Schmidt: "Ich sagte: 'Renate, trau dich das doch mit dem Elterngeld! Ich verspreche dir, wir unterstützen dich.' Mit 'wir' meinte ich mich und andere engagierte Journalistinnen. Da seufzte Renate tief und sagte: 'Ach, Alice, du kennst doch den Schröder. Ich habe da gar keine Chance.' Ein paar Monate später wurde Merkel Kanzlerin und Ursula von der Leyen Familienministerin. Die holte dann, mit Merkels Rückendeckung, Schmidts Pläne aus der Schublade und machte eine moderne Familienpolitik."

(Via taz) Der Fall Marie Sophie Hingst ist schon eine Art zweiter Fall Relotius, denn obwohl sie vor allem in ihrem Blog schrieb, veröffentlichte sie auch große (und gefälschte) Artikel etwa in Zeit online. Dass sie sich selbst eine jüdische Herkunft erdichtete, macht den Fall noch symptomatischer. Die Autorin Anke Gröner hat schon zwei sehr persönliche Einträge zu Hingst veröffentlichte, deren Blog sie kannte und immer eher  mit Unbehagen gelesen hatte, ohne Hingst auf die Spur zu kommen. In ihrem ersten Blogbeitrag schreibt Gröner: "Es geht nicht darum, dass die Dame eventuell ihr Leben in Dublin ein bisschen aufgehübscht und Lichterketten in Bäume gehängt hat. Es ist egal, ob die Tasse, aus der sie morgens Tee trinkt, nun blau oder grün ist, ob das Kälbchen existierte oder welches Auto der Tierarzt fuhr, wenn es ihn denn gab. Mich haben gestern die vielen Reaktionen auf Twitter überrascht, in denen Hingst bescheinigt wurde, dass, selbst wenn das alles ausgedacht war, es doch immerhin schön zu lesen war." In ihrem zweiten Blogbeitrag setzt sie nach: "Jeder Fake sorgt dafür, dass echte Opfer von Gewalt, Traumata, Übergriffen etc. erstmal irgendwie beweisen müssen, dass ihnen wirklich Schlimmes widerfahren ist. Ich kann mich nur wiederholen: Es kotzt mich an."

Im Tagesspiegel erläutert Carolin Fetscher zum Fall, der prominent im letzten Spiegel behandelt wird: "Recherchiert hatte laut Spiegel schon seit Monaten eine wachsende Gruppe von Archivaren und Genealogen, der auch eine Juristin beisprang. Sie werden ähnlich vorgegangen sein wie die Kollektive der Internet-Plattform 'Wikiplag' bei Plagiatsaffären mit Instant-Promotionen à la Karl-Theodor zu Guttenberg. Das Internet machte die Pseudo-Biografie von Hingst erst möglich, das weltweite Netz trug allerdings auch dazu bei, dass sie schnell aufflog."

Allein aus den Reaktionen auf den Videoblogger Rezo, der mit seinem CDU-Bashing auf Youtube Millionen Menschen erreichte, kann man ablesen, dass die Digitalisierung die Kommunikations- und Machtverhältnisse grundlegend verändert hat. Ausweichen, beschwichtigen, umarmen - das funktioniert alles nicht mehr, warnt in der SZ der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen Politiker und alte Medien: "Die Taktiken im Umgang mit Rezo - sie reichen von draufhauen, Regeln fordern bis zur ungefragten Umarmung - stammen, aus der Vergangenheit des Gatekeeper-Zeitalters. Es sind die Reaktionsformen einer Macht, die im Interregnum der digitalen Gegenwart so angreifbar geworden ist wie nie zuvor. Und heute lässt sich eine erlebte Repräsentationskrise, ganz gleich, ob es um das Klima- oder das Flüchtlingsthema geht, nicht mehr tabuisieren, weil unabweisbar geworden ist, was andere darüber glauben und denken. Und wenn man eine Tabuisierung dennoch versucht, dann bilden sich sehr schnell über Nacht mediale Gegenöffentlichkeiten."

In der NZZ warnt Felix Simon vor Verschwörungstheorien im Netz, die allerdings, wie er konstatiert, auch von traditionellen Medien und Politikern verbreitet werden.
Archiv: Gesellschaft