9punkt - Die Debattenrundschau

Innerhalb der Bubble

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2021. Baschar al-Assad hat sich gerade mit 95 Prozent wiederwählen lassen. In The Atlantic denkt die Autorin Janine di Giovanni darüber nach, wie an die Verbrechen Assads erinnert werden soll, solange er nicht selbst zur Rechenschaft gezogen werden kann. In American Purpose kritisiert  der Historiker Jeffrey Herf Benjamin Netanjahu, der jedes Bündnis der Mitte in Israel verhindere. Die SZ legt offen, wie der dänische Geheimdienst dem NSA half, deutsche Politiker abzuhören. In der NZZ attackiert der Ideenhistoriker Jürgen Große die Gründer des Humboldt Forums, die sich "als ehrliche Makler im endlosen Spiel der 'Narrative'" inszenieren wollten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2021 finden Sie hier

Politik

Die Autorin Janine di Giovanni hat für viele Medien über internationale Konflikte berichtet. In The Atlantic denkt sie darüber nach, wie an die Verbrechen Baschar Al-Assads erinnert werden soll, solange er nicht selbst zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Bürger selbst haben dafür da Material geliefert, so di Giovanni: "Im Jahr 2011, als der Syrienkonflikt begann, hatten viele Menschen im Land Smartphones. Das bedeutete: Wenn eine Fassbombe auf Aleppo abgeworfen wurde, wenn jemand mitten in der Nacht aus seinem Haus gezerrt wurde, wenn ein Demonstrant auf der Straße verprügelt oder erschossen wurde, konnte ein normaler Bürger dies dokumentieren. Diese Fotos - wie auch Tausende von Dokumenten, die mutig aus Syrien herausgeschmuggelt wurden - befinden sich nun in den Händen von Ermittlern der Vereinten Nationen, die in einer Art Clearinghouse für Kriegsverbrechen in Genf arbeiten, bekannt als 'Impartial and Independent Mechanism' (IIIM)." Besonders wichtig sind laut Di Giovanni auch die Aufzeichnenden der "White Helmets", einer syrischen Zivilschutzorganisation, deren Helfer mit GoPro-Kameras arbeiteten.

Fast verzweifelt kommentiert Richard Herzinger in seinem Blog nach der Rückendeckung die Wladimir Putin dem belarussischen Autokraten Lukaschenko gibt, aber auch nach der zynischen Wiederwahl Baschar al-Assads: "Es fragt sich, welchen Beweis die Europäer noch brauchen, um Putins Russland als das einzustufen, was es ist: Kein nur temporär verirrter potenzieller 'Stabilitätspartner', sondern ein zu allem entschlossener Feind der freien demokratischen Welt und aller Werte und Prinzipien, für die sie steht."

Für den Historiker Jeffrey Herf haben im jüngsten Konflikt in Israel die Extremisten gesiegt. Gerade hatte sich in Israel ein Bündnis der Mitte abgezeichnet, schreibt er in American Purpose, dann nahm die Hamas die Unruhen auf dem Tempelberg zu Anlass für ihren Raketenkrieg gegen israelische Zivilisten. "Netanjahu in Israel und Trump in den Vereinigten Staaten waren unfähig, sich der Herausforderung durch diesen Faschismus mit religiösem Gesicht zu stellen. Beide haben sich Illusionen über einen israelischen 'Sieg' über die Palästinenser hingegeben und den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland unterstützt. Beide haben auch Israels eigene Formen des Antimodernismus innerhalb der ultra-orthodoxen Gemeinschaft toleriert und sogar unterstützt. In den letzten Jahren hat dieses illiberale, vormoderne Element in der israelischen Gesellschaft eine entscheidende Rolle beim Machterhalt  Netanjahus und des Likud gespielt."
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Europa

Wie weit rechts steht der CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen, der in Thüringen für den Bundestag kandidiert? taz-Redakteurin Sabine am Orde hat zur Beantwortung dieser Frage mit den Rechtsextremismusexperten Volker Weiß und Matthias Quent gesprochen, die beide auf "ziemlich weit rechts" erkennen. Linke und rechte Weltbilder scheinen da bei Maaßen, wie  auch bei Rechtsextremen üblich, immer ein wenig durcheinander zu purzeln, wie sie an einem Text Maaßens für ein rechtes Magazin feststellen: "Im Text folgt das, was Quent 'eine klare Feindmarkierung' nennt. Die Gesellschaft wird in zwei Gruppen aufgespalten. Auf der einen Seite die Guten, das sind''normale, regional verwurzelte Menschen' mit Traditionen, die zur Jagd gehen und Fleisch essen. Auf der anderen Seite die 'Feinde'. Früher, so Maaßen, hätte man die 'Feinde unserer Gesellschaftsordnung' noch als 'Revolutionäre' erkannt. Heute seien sie 'Geisteswissenschaftler, Journalisten, Berufspolitiker, EU- und UN-Bürokraten, Befürworter der ökonomischen Globalisierung sowie Manager multinationaler Konzerne und deren Dienstleister'."

Es ist in den letzten Wochen im Kontext der Gewalt in Israel zu einigen krass antisemitischen Ausschreitungen in London gekommen. Sie werden von vielen als "verständlich" angesehen und als Reaktion auf israelische Politik beschrieben, beobachtet der Autor und Comedian David Baddiel in der Londoner Times: "Das erinnert mich daran, dass Professor Gilbert Achar von der School of Oriental and African Studies in London in meinem Dokumentarfilm 'Confronting Holocaust Denial' letztes Jahr sagte, dass Holocaust-Leugnung im Gazastreifen und im Westjordanland - wo etwa achtzig Prozent der Menschen an die Verschwörungstheorie glauben - als Reaktion auf die Umstände verstanden werden müsse, als irrationaler Kampf gegen etwas, das vom Feind als heilig angesehen wird. Das ist als Analyse schön und gut, aber es wird kompliziert, wenn man 'verständlich' so versteht, dass es, wie es oft geschieht, entschuldbar ist." Mehr zu Baddiels Film hier.
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Überwachung

Laut einer Recherche des dänischen Senders DR und einer Reihe internationaler Medien hat der amerikanische Spionagedienst NSA (noch unter Obama) jahrelang ranghohe Politiker in Europa über ein Spähprogramm abhören lassen, das der dänische Geheimdienst Forsvarets Efterretningstjeneste (FE) betrieb, berichtet die SZ (eine Zusammenfasssung findet man bei Zeit online). Dazu gehörten Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Kanzlerkandidat der SPD Peer Steinbrück und der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sowie zahlreiche weitere "Politikerinnen und Politiker aus Schweden, Frankreich und Norwegen - das ergab offenbar eine FE-interne Analyse der Jahre 2012 und 2014". Dabei entdeckten die Dänen auch, dass die NSA "offenbar Ziele im dänischen Finanzministerium, dem Außenministerium und bei einer Rüstungsfirma ausspioniert. Der dänische Geheimdienst war demnach behilflich, die eigene Regierung auszuforschen: eine Ungeheuerlichkeit und nach dänischem Recht verboten. Damit aber nicht genug. Der FE hatte über Unterseekabel, deren Endpunkte - also jene Stellen, wo sie auf das Festland treffen - in Dänemark liegen, auch sensible Ziele der engsten Verbündeten Dänemarks ins Visier genommen." Als das in Dänemark rauskam, gab es viel Ärger über die Abhörerei im eigenen Land. Die europäischen Verbündeten informierte allerdings niemand.
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Gesellschaft

In der NZZ hat der Schriftsteller Jürg Halter nichts übrig für identitätes Denken, ob es von rechts, von links oder vom Mond kommt: Je mehr man von einer klar definierten, keine Abweichungen duldenden Bubble lebt, sei diese nun linker, rechter, liberaler oder queerer Art, desto mehr hat man Angst, Widersprüche, die einem innerhalb der Bubble plötzlich auffallen, zu benennen. Das führt zu Komplexitätsverdrängung, bubblespezifischer Gefallsucht, dann Selbstzensur und letztlich zu einem von Doppelmoral durchdrungenen Freund-und-Feind-Denken. Die Moral von der Geschichte: Moralische Selbstüberhöhung führt zu moralischem Verfall."
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Geschichte

Die deutsche Regierung will sich bei den Herero und Nama entschuldigen und über dreißig Jahre eine Milliarde Euro an Unterstützung zahlen. Aus diesem Anlass wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Namibia reisen. In der taz erklärt der Historiker Jephta Nguherimo, Autor  Autor des Buches "unBuried-unMarked: The unTold Namibian Story of the Genocide of 1904-1908", warum das nicht genug ist. "Steinmeier und sein namibischer Amtskollege Hage Geingob verstehen nicht, worum es geht, wenn wir, die Betroffenen, die Wiederherstellung unserer Würde als von der Erinnerung und den Narben der Verbrechen gezeichnete Völker einfordern. Wiederherstellung unserer Würde heißt Entschädigung für unser gestohlenes Land und Rekonstruktion der dem Völkermord zum Opfer gefallenen soziokulturellen und ökonomischen Aspekte unserer Gesellschaften."
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Ideen

Die "Jerusalem Declaration on Antisemitismus" dient für den Politologen Lars Rensmann geradezu dazu, aktuelle Formen des Antisemitismus von eben diesem Vorwurf freizusprechen. Selbst extreme Formen der "Israelkritik" gelten ihr als "nicht per se" antisemitisch, schreibt Rensmann in belltower.de, dem Magazin der Amadeu-Antonio-Stiftung: "Dass der 'Zionismus' wie der Nationalsozialismus sei; dass es sich bei dem jüdischen Staat um einen einzigartigen Fall von 'Siedlerkolonialismus' und 'Apartheid' handele; dass an den jüdischen Staat Maßstäbe angelegt werden, die für kein anderes politisches Gemeinwesen geltend gemacht werden; dass der jüdische Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer eliminiert beziehungsweise 'vom Fluss bis zum Meer' 'befreit' werden soll-wovon, wenn nicht von Juden? - all das soll nun, so wünschen es die Verfasser:innen der 'Erklärung', nicht mehr 'per se' als antisemitisch gelten, obwohl es von der überwältigenden Mehrheit von Juden genau so verstanden wird-als antisemitisch."

Den Vorwurf des Eurozentrismus gegen die Aufklärung findet Susan Neiman geradezu schwachsinnig, wie sie in einer in der FAZ abgedruckten Preisrede darlegt: "Die Aufklärung hat die Kritik am Eurozentrismus ja erst erfunden. Sie empfahl den Europäern, von anderen Völkern zu lernen, und hat ihre Kritik europäischer Zustände oft gerade aus der Perspektive anderer Kulturen formuliert. So benutzte Montesquieu fiktionalisierte Perser, um die Pariser Gesellschaft zu persiflieren, Diderot stellte Tahiti gegen patriarchalische europäische Sitten, Voltaires schärfste Kritiken an der Kirche wurden wahlweise in den Mund eines chinesischen Kaisers oder eines indigenen südamerikanischen Priesters gelegt."

In der NZZ blickt der Ideenhistoriker Jürgen Große fast schon mitleidig auf die Gründer des Humboldt Forums, die er grenzenlos naiv und unbedarft findet: "Die neuen Schlossherren verzichten explizit auf eine eigene Erzählung, beanspruchen aber auch keine alles integrierende Masterperspektive. Die vergrößerte Bundesrepublik hofft sich als ehrlicher Makler im endlosen Spiel der 'Narrative' gleichsam unsichtbar zu machen. Das verspricht Unangreifbarkeit. Angreifbar nämlich wäre eine singuläre, unvermeidlich einseitige Erzählung, etwa als nationalgeschichtliche Selbstdarstellung. Dennoch könnte gerade sie auf dem Weg der Verneinung wieder ins Spiel kommen. Nationales Kulturgut: Wäre dies nicht genau dasjenige, was in der Bundesrepublik Deutschland nach Entfernung aller Raubkunstobjekte übrig bleiben dürfte?"
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