Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2004. IIn der SZ erklärt Umberto Eco, wie Silvio Berlusconis Medienregime andere Meinungen zulässt - und dennoch verhindert.  In der FAZ beklagt Hans Magnus Enzensberger die Unbotmäßigkeiten der "Boulevardinquisition". Die taz liest einen Klassiker des Islamismus. In der FR analysiert Norbert Bolz die Tücken des Beratergeschäfts. Die NZZ staunt über die Marktentwicklung der Wiener Aktionisten.

TAZ, 27.01.2004

Auf der Seite tazzwei resümiert Rafael Seligmann (hier) anlässlich des heutigen Holocaust-Gedenktags noch einmal die verzwackte Geschichte der zentralen Gedenkstätte in Berlin und schließt mit einem Appell: "Noch ehe die zentrale Gedenkstätte am Brandenburger Tor ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das scheinbar unvermeidliche Mahnmal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Der Völkermord an den Juden war einmalig. Aber das waren die Euthanasie und der Massenmord an den Zigeunern ebenfalls. Zumindest im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen."

Im Feuilleton empfiehlt Robert Misik ein "Urdokument des islamischen Terrorismus" zum (Wieder)Lesen, um "die Resonanzen zu verstehen, die es ausgelöst hat und immer noch auslöst": das vor 40 Jahren von dem ägyptischen Denker Sayyid Qutb (mehr) im Gefängnis geschriebene Buch "Meilensteine". Das "antiautoritäre Freiheitspathos", mit der sich Qutbs Doktrin "als Alternative zu Kommerz, Götzendienst und innerer Leere präsentiert", hat ihn überrascht.

Wo, fragt Dorothea Marcusin in ihrem Bericht vom 4. Festival Internationaler Neuer Dramatik der Berliner Schaubühne, sind "eigentlich die Geschichten, die sprachlich bearbeitet über sich selbst hinausweisen und doch nicht zynisch sind?" Eine hat sie dann doch gefunden, nämlich das Stück "Kopftot" der bisher unbekannten jungen österreichischen Autorin Gerhild Steinbuch. Über einen ebenso regelrechten wie konzeptlosen Hochhauswildwuchs in seiner Heimatstadt berichtet der Wiener Stadtplaner und Filmemacher Reinhard Seiß. Jürgen Gottschlich erklärt, warum der inzwischen in der Türkei frei gegebene Film "Ararat" von Atom Egoyan dort trotzdem nicht in den Kinos laufen wird.

In seiner Jazzkolumne widmet sich Christian Broecking dem "politischen Jazz", wie etwa der Mingus-Komposition "Fables of Faubus".

Und hier TOM.

FAZ, 27.01.2004

Gerade wollten wir die Debatte um "Eine Frau in Berlin" vergessen, da greift Hans Magnus Enzensberger, Gründer der "Anderen Bibliothek", noch mal ein und beschuldigt die SZ, die die Identität der Autorin aufdeckte und nach der Geschichte ihres Manuskripts fragte, der "Boulevardinquisition". "Der Trick ist einfach: Er besteht in der Umkehrung der Beweislast. Das Heilige Offizium hatte es bekanntlich nie nötig, stichfeste Beweise gegen den Beschuldigten vorzulegen." Für Enzensberger steht jedenfalls fest, dass ihm die jetzige Rechte-Inhaberin Hannelore Marek die Wahrheit sagte: "Sie war es, die dem Herausgeber des Buches versichert hat, dass der veröffentlichte Text von der Verfasserin, so wie er gedruckt vorliegt, autorisiert worden ist. Für die Behauptung, dass Frau Marek die Unwahrheit gesagt hat, fehlt jeder Beweis." Und in welchem Land leben wir, dass Journalisten nach einer solchen Versicherung auch noch nachfragen?

Weitere Artikel: Christian Schwägerl beklagt einen Demographen-Mangel in dem von Geburtenrückgang betroffenen Deutschland - immerhin soll in Rostock ein deutsches Zentrum für Demographie entstehen. Jürgen Kaube mokiert sich in der Leitglosse über die Kungelei von Politik und Beratungsbusiness. Jordan Mejias stellt einen kühnen Entwurf des Architekten Santiago Calatrava für einen Bahnhof am Ground Zero vor. Robert von Lucius berichtet aus Schweden über anhaltende Debatten um das Kunstwerk "Schneewittchen und der Wahnsinn der Wahrheit", das eine Selbstmordattentäterin in ihrem Blute schwimmend zeigt. Michael Althen gibt die Preisträger der Golden Globes bekannt. Christian Schwägerl greift die unmögliche Formulierung "Brain up" auf, mit der Forschungsministerin Bulmahn nach Spitzenuniversitäten sucht (die dann hoffentlich Ministerinnen hervorbringen, die entweder deutsch oder englisch können). Renate Schostak nennt die traumhaften Zahlen der bayerischen Staatsoper (96 Prozent Auslastung), die dennoch sparen soll. Andreas Rossmann berichtet, dass der Kulturminister in NRW etwas weniger kürzt, als ursprünglich angedroht.

Auf der Medienseite stellt Jordan Mejias die Reality-Show "Apprentice" vor, auf der Donald Trump einen neuen Tycoon sucht Und Lorenz Jäger fragt angesichts widersprüchlicher Überlieferung , ob der Papst zu Mel Gibsons Jesus-Film nun gesagt hat: "It is at it was" oder auch nicht.

Die letzte Seite ziert die zweite Folge des von Helmut Newton vorbereiteten, aber leider nicht abgeschlossenen Fotoromans mit vielen nackten Frauen im dekadenten Wien.

Besprochen werden die Ausstellung "Beutekunst unter Napoleon" im Landesmuseum Mainz, eine Dramatisierung der Odyssee (nicht mehr und nicht weniger) in Basel, Ödön von Horvaths "Jüngster Tag" im Münchner Residenztheater, Erich Wolfgang Korngolds Oper "Diie tote Stadt" an der Deutschen Oper Berlin "Der sonst die Sänger trägt, jagt sie diesmal außer Atem", schreibt eine mit Christian Thielemann diesmal nicht ganz zufriedene Eleonore Büning) und Richard Wherlocks neue Choreografie von "Romeo und Julia" in Basel ("erst ein Kuss, dann fiel ein Schuss, und dann war Schluss", resümiert Wiebke Hüster die Handlung).

FR, 27.01.2004

Der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz (hier) analysiert in einem Essay über die von ihm so genannte "Fünfte Gewalt" die Tücken des Beratergeschäfts. Die von unbeirrbaren Rettungsfantasien genährten, durch die Außenperspektive auf einen zu beratenden Betrieb naturgemäß beschränkten Berater, leisteten, so Bolz, "durchaus Bedeutsames - aber nicht das, was sich die meisten ihrer Klienten erhoffen. "Berater helfen vergessen, warum frühere Reformen gescheitert sind. Das ist für Politiker, die unsere Gesellschaft verbessern wollen, überlebenswichtig. Denn der Glaube an die Reformfähigkeit einer Organisation nährt sich vom Vergessen früherer Reformanstrengungen. Deshalb sollte man auch regelmäßig die Berater wechseln." Was Florian Gersters Rauswurf betrifft, glaubt Bolz: "Gerster war chancenlos. Ähnlich wie Ulla Schmidt ist er das Opfer einer simplen Logik: Je geringer die Reformfähigkeit einer Organisation, desto größer die Anfälligkeit für Skandalisierung. Der Skandal ist gewissermaßen der Platzhalter der Reform."

In Times mager kommentiert Petra Kohse ärztliche Bemühungen, für das neue Praxisgeld nicht über Gebühr belangt und gescholten zu werden. Berichtet wird über die Vergabe der Golden Globes, und gemeldet wird der Tod von Alexandra Ripley, Autorin der "Vom-Winde-verweht"-Fortsetzung "Scarlett".

Besprechungen gelten einer Inszenierung von Grillparzers "Das goldene Vlies" am Wiener Burgtheater, Lars-Ole Warburgs Inszenierung der "Odyssee" am Theater Basel, Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" in Berlin und einer Ausstellung im NRW-Forum Düsseldorf über "25 Jahre Videoästhetik", die den Videoclip ins Museum einziehen lässt und "dem Pop-Format damit das Totenbett" bereitet.

NZZ, 27.01.2004

Paul Jandl hat einen neuen Ausstellungstrend entdeckt: Neuerdings würden die österreichischen Museen den Vorreitern des Wiener Aktionismus - Hermann Nitsch (mehr), Günter Brus (mehr) und Otto Mühl - rote Teppiche ausrollen. Und das nicht ohne Grund, schließlich sei der Wert der Kunstwerke stark gestiegen, und die Werke der einstmals Unbotmäßigen versprächen auch eine programmatische Sanierung der angeschlagenen Haushalte. Andererseits, so Jandl, "mutet das Pathos der aktionistischen Ekstasen mitunter seltsam an. Und banal wie vielleicht schon ehedem. Als sich der nackte und bepinselte Günter Brus in den sechziger Jahren einmal bei dröhnendem Beethoven auf der Leinwand wälzt, öffnet sich das Fenster einer Grazer Nachbarin, die das Treiben des Künstlers beobachtet hat: 'Herr Brus, was is denn um Gottes Willen?'"

Weitere Artikel: Tobias Hoffmann feiert die Inszenierung von Robert Walsers "Jakob von Gunten" im Theater Luzern als "überwältigendes, bezugs- und bilderreiches Spektakel". Marianne Zelger-Vogt berichtet von der Premiere der Oper "Vögel" von Walter Braunfels im Grand Theatre in Genf (MP3-Hörproben). Besprochen werden außerdem Urs Widmers Roman "Das Buch des Vaters" und der "Antiroman" "Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone" von Mark Haddon (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 27.01.2004

Auf der Medienseite denkt Umberto Eco über die Regeln der Macht in einem Medienregime nach. Zunächst mal gelte: Kontrolliert werden muss das Fernsehen, "die Zeitungen können sagen, was sie wollen". Es koste ja nichts, "einigen Zeitungen (solange man sie nicht kaufen kann) eine abweichende Meinung zu gestatten. Was soll es nützen, einen kritischen Journalisten in die Verbannung zu schicken und ihn somit zum Helden zu machen? Es genügt, ihn nicht mehr im Fernsehen sprechen zu lassen ... In einem Medienregime, in dem zehn Prozent der Bevölkerung Zugang zur Oppositionspresse hat und der Rest von einem kontrollierten Fernsehen informiert wird, herrscht", so Eco, immer noch "die Überzeugung, dass Widerspruch geduldet wird ('es gibt Zeitungen, die gegen die Regierung reden, sogar Berlusconi beschwert sich darüber, also herrscht Freiheit')."

Feuilleton: An anderer Stelle war unlängst zu lesen, Anekdoten über die Einreise in die USA seien überholt und stünden im privaten Rahmen längst auf dem Index. Das darf und muss die Historikerin Ute Frevert (mehr), die seit vergangenem Herbst in Yale lehrt, nicht hindern, die ihre zu erzählen - allerdings klug gespiegelt in einem Artikel des italienischen Philosophen Giorgio Agamben in der SZ vom 10. Januar (hier unsere Zusammenfassung, mehr zu Agamben hier), der die neuen Einreiseprüfrituale mit Auschwitz in Beziehung setzte. Nach einer demütigenden Erfahrung am Flughafen in New York lautet ihr Resümee: Er übertreibe damit - und gleichzeitig auch nicht. "Nach wie vor ist mir der Zusammenhang von Tätowierung und Fingerabdruck uneinsichtig: Im einen Fall prägt mir jemand ein Zeichen auf und unter die Haut, brandmarkt mich sichtbar als seinen Besitz, während im anderen Fall 'nur' meine Haut fotografiert wird. Die Warnung allerdings, der Fingerabdruck könne das Einfallstor für eine immer weitergehende Durchleuchtung, Kontrolle und Bemächtigung sein, ist bedenkenswert."

Weitere Artikel: Im Interview gibt Berlinale-Chef Dieter Kosslick Auskunft über die Liebe zum Film, die Fragen der Politik und den Luxus der Kultur. Ulrich Raulff beklagt die erwartbar "nächste Blockadeposse" um die Einrichtung einer Nationalen Akademie. Susan Vahabzadeh resümiert die Vergabe der Golden Globes und mobilisiert nationales Restdaumendrücken für "Good bye Lenin" bei der Oscar-Nominierung. In der "Zwischenzeit" schwärmt Harald Eggebrecht vom Kanu, und "shan" berichtet über eine clevere Gegenklage illegaler Musikpiraten gegen ihre Verfolger.

Ansonsten viele Besprechungen. Gewürdigt werden eine "verniedlichende" Inszenierung der "Odyssee" durch Lars-Ole Walburg am Theater Basel, zwei Stücke von William Forsythe und Sang Jija im Bockenheimer Depot, Armin Petras Inszenierung von "Die Gerechten" am Deutschen Theater Berlin, Thielemanns Dirigat der "Toten Stadt" an der Deutschen Oper Berlin, die Aufführung von Verdis "Nabucco" an der Staatsoper Hamburg und schließlich die Ausstellung "Why not!" im Kulturspeicher Würzburg, die den Sinn von künstlerischen Wettbewerben hinterfragt.

Rezensiert werden die Neuausgabe von zwei Romanen von Patricia Highsmith, der Porno-Roman "The Cocka Cola Company" von Matias Faldbakken, zwei Studien zu Völkerstrafrecht und internationale Gerichtsbarkeit, eine Untersuchung antiker Rechtskulturen, die Biografie der Karriere von Vincenz Müller, "General bei Hitler und Ulbricht", und eine Betrachtung von Konflikten zu Beginn des 21. Jahrhunderts (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).