9punkt - Die Debattenrundschau

Lust am eigenen Irresein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2020. Entsetzt beschreibt Timothy Garton Ash im Guardian die Wahlkampfpropaganda der staatlichen Medien für die polnische Regierungspartei. In Deutschland verkündet Google, einige ausgewählte Medien mit ein bisschen Geld zu unterstützen - die Zeit mag nicht mal sagen, mit wieviel. Wer Achille Mbembe kritisiert, hat das Holocaust-Trauma nicht verstanden, sagt der Politologe Henning Melber in der taz. In geschichtedergegenwart.ch erzählt der Berliner Soziologe Aydin Süer, wie die türkische Regierung Jahr für Jahr die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 begeht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.06.2020 finden Sie hier

Medien

Google gibt seit Jahren Millionen von Dollars aus, um Medien- und Pressekonzerne in ihrer Kritik zu besänftigen - das nennt sich "News Initiative". Nun - vielleicht nicht von ungefähr im Vorfeld der Umsetzung neuer europäischer Leistungsschutzgesetze - verkündet Google in einem Blogbeitrag, großen Medienkonzerne Inhalte abzukaufen, um sie etwa in den Google News zu präsentieren. Leicht verklemmt klingt der Artikel in Zeit online dazu, einem der Medien, die neben der FAZ und dem Spiegel kooperieren und sich hier tatsächlich im wesentlichen auf einen dpa-Ticker stützt: "Bislang hatte sich Google hartnäckig geweigert, Inhalte bei Zeitungsverlagen und anderen Medien einzukaufen, und sich bei manchen Medienhäusern wie Axel Springer großen Ärger eingehandelt. Wie viel Geld die Verlage für die Darstellung der Inhalte auf Google News und Google Discover bekommen werden, teilte Google nicht mit. Das Programm sei aber 'breit und langfristig angelegt' und soll auf noch mehr Verlage - darunter auch kleinere Lokalzeitungen - sowie Radiostationen und TV-Sender ausgeweitet werden." Äh, die Zeit weiß nicht, wieviel Geld sie von Google bekommt?

Geichzeitig berichtet Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung, dass die Funke-Mediengruppe die VG Media verlässt, die Leistungsschutzrechte gegenüber Google durchsetzen soll. "Funkes Abgang trifft die VG Media schwer. Ihr gehören mit Axel Springer SE (Bild, Welt) und der Madsack-Gruppe (Hannoversche Allgemeine, Leipziger Volkszeitung) nun nur noch zwei Großverlage an. Die übrigen von ihr vertretenen Presse-Unternehmen sind klein bis mittelgroß." Spiegel, Zeit, FAZ und andere mit Google kooperierende Medienhäuser (was natürlich in nicht in Zusammenhang stehen muss!) waren nie Mitglied der Gesellschaft.

Sehr sarkastisch liest sich Joshua Bentons Nieman-Lab-Kommentar zu Googles jüngstem Beschluss, einige Qualitätsmedien zu subventionieren - die Presse hat seit dem Internet ein grundsätzliches Problem mit ihrem Geschäftsmodell, Google setzt wie auch Facebook einige Millionen für eine PR-Aktion ein, um News in Google News zu verlinken, die es auch so schon in Google News verlinkt, so Benton. News bringen Google übrigens nur wenig Geld. Und wo ist die Grenze? "Sie mögen glauben, dass Google der New York Times Geld schuldet, weil es all diese Nachrichten in seine Surche integriert. Ok. Schuldet es auch mir Geld für mein altes Blog aus den Nuller Jahren? Das steht auch in Googles Suchindex.Und wie steht's um Breitbart? Oder den Daily Stormer und Stormfront? Was ist mit Ihren Tweets? All dies ist digitaler Inhalt, der zum Wert von Google als Produkt beiträgt. Vielleicht glauben Sie, hier oder dort eine Linie ziehen zu können, aber wie soll man sie auf Millionen von Websites anwenden?"
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Politik

Am 31. Mai wurde aus Südkorea 20 Heißluftballons mit Propagandamaterial gefüllt Richtung Norden geschickt. Das löste eine diplomatische Krise aus. Wer waren die Initiatoren und stehen die Südkoreaner hinter ihnen, fragt Hoo Nam Seelmann in der NZZ. "Drei nordkoreanische Flüchtlinge - zwei davon sind Brüder - stehen im Zentrum dessen, was im Süden als 'Nordkorea-Flugblatt-Geschäft' bezeichnet wird ... Die Nordkoreaner im Süden sind gespalten, aber die Mehrheit steht dem Ganzen skeptisch gegenüber. Sie sagen, es sei eine reine Geschäftemacherei, gefährde die Versöhnungspolitik und schüre nur Spannungen. Zudem würden solche Aktionen überhaupt nicht dazu beitragen, die Menschenrechtslage im Norden zu verbessern. Was die Aufklärung betreffe, so seien die Nordkoreaner inzwischen besser informiert, als man es von außen vermute. Südkoreanische Fernsehserien, Filme, Mode und Pop-Musik seien im Norden bekannt und sehr populär." Auch die Südkoreaner sind mehrheitlich gegen diese Aktionen.

In China verschwinden immer mehr alte Stadtviertel zugunsten neuer Wohnanlagen, die lückenlos überwacht sind, erzählt Thomas Baumann in der NZZ. "Dass die Preise dieser Wohnungen mittlerweile astronomisch hoch sind, ist umso besser: Die Lokalregierung verdient an diesem Geschäftsmodell mit, und Leute, die von früh bis spät arbeiten müssen, um die Hypothek abzuzahlen, haben keine Zeit, zu demonstrieren." Auch dass der Zugang nur durch Sicherheitskontrollen möglich ist, stört kaum jemanden. "Im Gegenteil: am besten vollautomatisch oder gar biometrisch aufgerüstet. Solche technischen Spielereien steigern den Wert der Immobilie. Was vordergründig dem Schutz der Bewohner dient, erlaubt es aber auch der Regierung, gegebenenfalls ganze Quartiere schnell abzuriegeln. Und dass zwischen diesen Hochhaussiedlungen kreuz und quer breite Schnellstraßen verlaufen, ist praktisch für die dort wohnenden Pendler - und gegebenenfalls auch der Armee von Nutzen."
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Geschichte

Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 wird Jahr für Jahr im türkischen Fernsehen durch eine große nationalistisch-frömmlerische Show gefeiert, die einiges über das Erdogan-Regime aussagt. Der Berliner Soziologe Aydin Süer untersucht in geschichtedergegenwart.ch die Bildsprache der Übertragungen aus der Hagia Sophia, die einst bekanntlich die größte Kirche des Christentums war, dann eine Moschee und nun (noch) ein Museum. Aber die Bilder "setzen die Hagia Sophia dezidiert als Moschee in Szene. Stets werden die islamischen Bauelemente in den Fokus gerückt. Die byzantinisch-christlichen Mosaiken im Innenraum des Gebäudes werden bis auf ein einziges Mal im weit entfernten Hintergrund nicht gezeigt. Vor der Hagia Sophia ist eine den byzantinischen Stadtmauern nachempfundene Leinwand aufgebaut, auf der per Videoprojektion deren Einstürzen simuliert wird. Nach einem gigantischen Feuerwerk ertönt schließlich der islamische Gebetsruf."
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Gesellschaft

Die Gewalt in Stuttgart soll eine neue Qualität haben? Iwo, meint taz-Redakteur Jan Feddersen. "Das hat nie aufgehört und wird es nie. Riots in den französischen Vorstädten, in Hamburg bei Rock-'n'-Roll-Konzerten von Bill Haley, die Schwabinger Krawalle Anfang der Sixties, vor Paris oder anderswo, in Zürich, Tumulte im London der achtziger Jahre - Empörung nicht nach dem Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der Ungewissheit an der eigenen Perspektive, die man aber, siehe aktuell Stuttgart, wenigstens für einen lauen Sommerabend vergisst."

In der FAZ findet Sandra Kegel die Vorurteile gegen deutsche Polizisten, die oft einfach mit den amerikanischen Kollegen gleichgesetzt würden, gefährlich: "Jede Situation, jede noch so kleine Kontrolle sei inzwischen unvorhersehbar und könne eskalieren, wissen sie, befeuert durch Vorwürfe eines 'latenten Rassismus' wie zuletzt von Saskia Esken. Die Zahlen erzählen eine andere Geschichte, wenn etwa nach offiziellen Angaben unter den 49000 Bundespolizisten seit 2012 nur fünfundzwanzig Verdachtsfälle mit rassistischem Hintergrund aufgefallen sind."
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Stichwörter: Rassismus, Diskriminierung

Ideen

In Wirklichkeit sind wir dem Kolonialismus noch gar nicht entkommen. Die Kritik an Achille Mbembe ist einzig und allein dazu da, "von den Blindstellen europäischer Gewaltgeschichte" abzulenken, meint der in Südafrika lehrende Politologe Henning Melber in der taz: "Dabei kommt es den Kritiker*innen kaum in den Sinn, das Holocaust-Trauma als Verantwortung zu begreifen, um im Sinne des Never Again gegen jede Form von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt Position zu beziehen (was auch eine Kritik an Menschenrechtsverletzungen durch den Staat Israel verlangt). Nicht nur aus Empathie oder Solidarität mit den Betroffenen, sondern weil es gilt, das 'Nie wieder' als (Selbst-)Verpflichtung ernst zu nehmen. Genozidale Denk- und Handlungsweisen sind ja nicht durch exklusive Auseinandersetzung mit dem Holocaust bewältigt und ausgeräumt."

Cristina Nord, ehemals Goethe-Institut, jetzt Leiterin des Berlinale-Forums, legt im Merkur einen langen und persönlichen Essay zur Mbembe-Debatte vor. Sein BDS-Engagement will sie ihm nicht durchgehen lassen und hofft am Ende eher darauf, dass Mbembe es schafft, die israelische Erfahrung in seine Philosphie der Segregation und Versöhnung aufzunehmen: "Je schärfer die Auseinandersetzung um ihn geführt wird, umso unwahrscheinlicher ist, dass dies geschieht. Wem wirklich daran liegt, dass Mbembe sein Verhältnis zu Israel und zum Antisemitismus reflektiert, sollte sich fragen, wie er dieses Ziel erreicht: mit Maximalvorwürfen und Ausladung? Oder indem er auf eine Weise Kritik übt, die es dem Kritisierten erlaubt, sein Gesicht zu wahren?"

In der NZZ erklärt der Soziologe Rainer Paris den Unterschied zwischen Typisierung und Etikettierung von Menschen und stigmatisierendem Vorurteil: "Etikettieren heißt bezeichnen. Indem wir Dinge oder Personen in bestimmter Weise benennen, nehmen wir nicht nur Klassifizierungen, sondern auch Festlegungen vor. Diese können neutral, aber auch mehr oder minder wertend und abwertend sein, ja es ist geradezu ein Charakteristikum der Wortwahl und Namensgebung, hier mit subtilen Mischungen zu operieren. ... Wir können nicht nicht bewerten, sonst wären wir vollkommen orientierungslos - wer behauptet, dies sei dennoch möglich, macht es sich zu leicht. Und wir sind auch nicht frei, auf Benennungen und Bezeichnungen zu verzichten - ohne sie wären jeder Austausch und jede Verständigung unmöglich."

Außerdem: In der FAZ fragt der Autor Ernst-Wilhelm Händler, ob Niklas Luhmann, Bruno Latour und Pierre Bourdieu doch nicht recht hatten, als sie in ihren Gesellschaftstheorien den Menschen abschafften.
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Europa

Am Sonntag sind in Polen Präsidentschaftswahlen. Gabriele Lesser erzählt in der taz, wie im Wahlkampf des Pro-Kaczynski-Kandidaten Andrej Duda gegen den liberalen Herausforderer Rafal Trzaskowski im gleichgeschalteten Staatsfernsehen auch antisemitische Ressentiments bedient werden. Es geht um die Enteignung der Juden durch die polnischen Kommunisten nach dem Krieg, die Trzaskowski immerhin anerkannt hat: "In Wirklichkeit sollte der Adressat der jüdischen Forderungen der deutsche Staat sein, findet der Historiker Robert Derewenda aus Lublin. 'Denn er ist der Nachfolger des Deutschen Reichs, das damals die Juden ausgebeutet und ausgeraubt hat.' Nach den Schwarz-Weiß-Bildern aus der Zeit des Kriegs ist nun wieder der heutige Trzaskowski zu sehen. Aus dem Off erläutert der Reporter, dass die Politiker rund um Rafal Trzaskowski und diejenigen rund um Andrzej Duda sich fundamental unterschieden, wenn es um die 'jüdischen Forderungen' gehe. Wieder ist Trzaskowski im Bild: 'Wir müssen mit den Juden reden', dann Jarosław Kaczyński auf einer Kundgebung: 'Polen hat keinerlei Verpflichtungen!' Viele Menschen klatschen laut und anhaltend."

Auch Timothy Garton Ash beschreibt im Guardian entsetzt die Wahlkampfpropaganda der staatlichen Medien für die polnische Regierungspartei, deren Antisemitismus und offene Feindlichkeit gegen den Oppositionsführer Rafał Trzaskowski ihm sauer aufstößt: "Das polnische Staatsfernsehen lässt Fox News wie die Canadian Broadcasting Corporation aussehen. Es ist zwar immer noch fiktiv als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt gedacht, aber seit die Partei Recht und Gerechtigkeit vor fünf Jahren sowohl die Parlaments- als auch die Präsidentschaftswahlen gewann, ist sie zu einem parteilichen Sprachrohr geworden, das weithin als 'TVPiS' bekannt ist. Da die Regierungspartei offensichtlich durch die Trzaskowski-Herausforderung verunsichert ist, hat sie nun neue Tiefen erreicht. Ein Medienbeobachtungsdienst fand heraus, dass zwischen dem 3. und 16. Juni fast 97 Prozent der TVP-Nachrichtenbeiträge über Duda positiv waren, während fast 87 Prozent der Beiträge über Trzaskowski negativ waren. Schlimmer noch, er ist in die paranoide Gedankenwelt der extremen Rechten hinabgestiegen, wo dunkle internationale deutsch-jüdische LGBT-plutokratische Kräfte sich heimlich in Schweizer Schlössern treffen um sich gegen makellose, heroische, ständig missverstandene Polen zu verschwören."

In Osteuropa ist die "Denkmalitis als hochentzündliche Erkrankung des Erinnerungsvermögens" noch sehr viel verbreiteter als im Westen, erklärt in der SZ Karl-Markus Gauß und erzählt die Geschichte des kommunistischen kroatischen Widerstandskämpfers Stjepan Filipović, der mit 26 Jahren 1942 von der SS hingerichtet worden war. In Kroatien wurde sein Denkmal nach der Wende entsorgt, weil er nicht nur die Nazis, sondern auch die kroatischen Faschisten bekämpfte, "während ihn in der serbischen Industriestadt Valjevo, wo er einst gehenkt wurde, weiterhin ein Denkmal als Märtyrer ehrt. Wenn auch unter merkwürdigen Umständen: Damit er in Serbien als Held gelten kann, ist aus dem kroatisch-katholischen Stjepan ein serbisch-orthodoxer Stevan geworden; und großzügig sehen die serbischen Nationalisten auch darüber hinweg, dass an der Ermordung von Filipović antikommunistische serbische Tschetniks beteiligt waren, die in Serbien heute nahe daran sind, rehabilitiert zu werden."
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Urheberrecht

Regierungsinternen Streit um die Umsetzung der europäischen Urheberrechtsreform offenbart Till Kreutzer bei Netzpolitik. Es geht vor allem um die Einnahmen aus Verwertungsgesellschaften. Bei der VG Wort hatte Martin Vogel erstritten, dass die Einnahmen allein den Autoren zustehen (mehr hier), dies wurde auf europäischer Ebene gekippt. Jetzt wird zwischen Wirtschafts- und Justiziministerium darüber gestritten, ob Autoren überhaupt noch etwas abbekommen sollen, so Kreutzer: "Unterstützt vom Kanzleramt fordert das BMWi rundheraus, zwei Regelungen zu streichen, die für den Schutz der Kreativschaffenden durch das neue Urheberrecht elementar wären. Zum einen enthält der BMJV-Entwurf einen Passus, nach dem Autor*innen zumindest zwei Drittel der Einnahmen aus Pauschalabgaben von Verwertungsgesellschaften zustehen sollen. Die beiden 'schwarzen Ministerien' verlangen, diese Mindestbeteiligung der Urheber*innen zu streichen. Damit legt die Verwertungsgesellschaft nach § 27a des Verwertungsgesellschaftengesetzes die Höhe des Verlegeranteils fest. Zudem soll das BMJV die Klausel streichen, nach der den Journalist*innen zumindest ein Drittel aus den Einnahmen des neu einzuführenden Leistungsschutzrechts für Presseverleger (LSR) zustehen sollen."

Patrick Beuth berichtet zugleich bei Spiegel online, wie Justizministerin Christine Lambrecht das Problem mit den Uploadfiltern lösen will.
Archiv: Urheberrecht