Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2001.

NZZ, 03.09.2001

Maike Albath hat Umberto Eco, dessen neuester Roman "Baudolino" gerade auf deutsch erschienen ist, in seiner Mailänder Wohnung besucht: "Wie ist wohl ein berühmter italienischer Philosoph eingerichtet, der sich sein Leben lang mit Zeichen und ihren Bedeutungen beschäftigt hat, mit Interpretationsgewohnheiten und der Erkenntnis von Welt? Als Erstes fallen die verschachtelten Regale ins Auge, die aussehen wie alte Ladeneinrichtungen. Alles wirkt sehr warm, von Abstraktion keine Spur. Es gibt einen langen Esstisch aus dunklem Holz, Folianten in einer Vitrine, eine imposante Statue, überall Bücher und Zeitschriften. Als Umberto Eco in seine Mailänder Wohnung an der Piazza Castello stürmt, drei Schweizer Fernsehleute im Schlepptau, schrumpft der weitläufige Raum plötzlich zusammen. Ein großartiger Hintergrund, murmelt der Kameramann ehrfürchtig."

Luc Bondy inszeniert erstmals in seiner Geburtsstadt Zürich. Im Interview mit Barbara Villiger Heilig vergleicht er die Städte: "Paris: keine Stadt, um konzentriert zu arbeiten; allein an einen Ort zu kommen, braucht so viel Energie. In Zürich ist weniger los; eine ideale Voraussetzung. Zürich, auch Wien, das sind ja nicht gerade hektische Metropolen."

Weitere Artikel: Alena Wagnerova zeichnet ein Städtebild des böhmischen Prachatice. Andres Briner schreibt zum 70. Geburtstag des Komponisten Rudolf Kelterborn und Markus Jakob zum Tod des Bildhauers Juan Muñoz. Besprochen werden ein Konzert des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Claudio Abbado in Luzern und das Stück "Kopenhagen" von Michael Frayn in Bern.

TAZ, 03.09.2001

Katja Nicodemus hat in Venedig Woody Allens neuen Film "The Curse of the Jade Scorpion" gesehen: "Es ist einer dieser nett-nostalgischen Woodies, die unterhaltsam dahinplätschern und keine großen Spuren hinterlassen - außer einem großartigen Arsenal kreativer Schimpfwörter, die sich Allen und seine Bürokonkurrentin Helen Hunt zwei Stunden lang an den Kopf donnern: schleimiges kleines Wiesel, unterbemittelte Kakerlake, männerfeindliche Gestapo-Schlampe, nasetriefender Eingeweideschnüffler..." Na, immerhin.

Weitere Artikel: Susanne Messmer widmet Thomas Meineckes neuem Roman "Hellblau" eine große Besprechung (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Und Christiane Kühl hat das Gastspiel des "Woyzeck" in der Fasung von Bob Wilson und Tom Waits am Berliner Ensemble gesehen und war durchaus beeindruckt. Ferner feiert Gerrit Bartels in einer Kolumne die Freuden des Zigarettenrauchens.

FAZ, 03.09.2001

Fünf zu eins! Die britische Presse mokiert sich über Deutschland. Aber leider kommt sie von den Kriegsklischees dabei nicht los, schimpft Gina Thomas: "Die Daily Mail grub zwei Tage vor dem Münchner Spektakel aus dem Archiv das Bild von 1935 aus, als die Hakenkreuz-Fahne beim Deutschland-England-Spiel über dem White Hart Lane-Stadion flog. Natürlich wurde der Hitler-Salut, den die britische Nationalmannschaft drei Jahre später im Olympia-Stadion auf den Rat des damaligen Botschafters Sir Neville Henderson gab, nicht erwähnt."

Andreas Kilb hat in Venedig Werner Herzogs neuen Film "Invincible" gesehen, der von einem blonden hünenhaften jüdischen Varietekünstler zu Beginn der Nazizeit handelt, aber er ist nicht zufrieden: "Der Film, der ein Zeitporträt werden wollte, erschöpft sich als Nummernrevue, und die Tricks, mit denen Herzog uns gut zwei Stunden lang hingehalten hat, wirken am Ende so faul wie die Zaubernummern seines Hochstaplers Hanussen."

Gerhard R. Koch bilanziert Gerard Mortiers stürmische Amtszeit bei den Salzburger Festspielen: "Mit schier pawlowschem Automatismus wurde ihm Kulturschändung vorgeworfen und jedes freie Hotelbett, jeder unverkaufte Apfelstrudel als Gottesurteil über seine Untaten genommen. In der Tat hat er genussvoll provoziert, Orkane im Wasserglas entfesselt, gerne den Mund ganz voll genommen. Bescheiden-diplomatisch ist er nicht aufgetreten, Krächen nicht aus dem Weg gegangen. Von nun an aber wird er seinen Wiener Widersachern fehlen: Jede Pressekonferenz ein Theater-Coup, ein gefundenes Fressen fürs Skandalwesen, das muss ihm mal einer nachmachen."

Als "Außenseiter" porträtiert Michael Krüger den ehemaligen Zeit-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz zu seinem 70. Geburtstag: "Kein Wunder, dass er Feinde hatte. Manche von ihnen haben es weit gebracht. Ihr größter Triumph bestand darin, dass sie ihn wegen einer Nachlässigkeit vom Thron des Zeit-Feuilletons stürzen konnten (er hatte Goethe in eine Eisenbahn steigen sehen, die erst später eintraf). Als das endlich geschafft war, machte sich Entsetzen breit, denn plötzlich ging einigen ein Licht auf, was FJR alles für die Literatur getan hatte."

Weitere Artikel: Tobias Döring erzählt, dass Salman Rushdies neuer Roman "Fury" sowohl von der britischen als auch von der amerikanischen Presse verrissen wird. Waltraud Schielke, Volkswirtin an der London School of Economics, denkt über Reformvorschläge für die Sozialhilfe nach. Heinrich Wefing nimmt die Scheußlichkeiten des Neotraditionalismus in der Berliner Architektur unter die Lupe. Katja Gelinsky erzählt, wie die Amerikaner mit überzähligen Embryonen aus künstlichen Befruchtrungen verfahren (man darf sie zum Beispiel, anders als in Deutschland, an unfruchtbare Paare "spenden"). Und Niklas Maak gratuliert dem Golf GTI zum 25. Geburtstag.Ferner berichtet Richard Kämmerlings über die Verleihung der Stadtschreiberwürde von Bergen-Enkheim an Wolfgang Hilbig. Andreas Rosenfelder schildert, wie Weimar den Antikriegstag beging. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt zum Siebzigsten. Gleich zwei Glossen, von "nma" und von "gey" widmen sich der Scharping-Affäre. In der neuen Rubrik Natur und Wissenschaft vermeldet Rainer Flöhl, dass es gelungen ist, "bei Mäusen zerstörtes Lebergewebe durch Infusion der Hepazyten gentechnisch veränderter Artgenossen zu erneuern".

Auf der seit Samstag täglichen Medienseite erfahren wir von Sandra Kegel, wie man sich den neuen Fernsehsender "9 Live" vorzustellen hat. Und Lorenz Jäger porträtiert Tina Mendelsohn, die neue Moderatorin von 3sat-Kulturzeit.

Besprechungen gelten der Ausstellung "En pleine terre" im Basler Museum für Gegenwartskunst, zwei Ausstellungen in Potsdam und Berlin über den Gärtner und Schriftsteller Karl Foerster, dem Berliner Festival "Tanz im August" und dem Ravinia Festival in Chicago.

FR, 03.09.2001

Ralf Grötker hat die superhippe Berlin-Beta-Konferenz in Berlin besucht: "Trotz der Vielfalt sind es immer die gleichen Fragen, die an den Diskussionen dieses Wochenende hochkommen. Wie können die Werbestrategen der großen Firmen die bockige Jugend erreichen? Und ProSieben, Lycos und N-TV wollen wissen: Wie kommen zukünftige Investitionen wieder herein - vor allem Investitionen in Breitband-Internet-Film-Formate?" Na, dann denkt mal nach.

Weitere Artikel: Ulrike Brincker war dabei, als Jean-Hubert Martin das Düsseldorfer "museum kunst palast" mit Altären der Welt eröffnete. Hans-Jürgen Linke hat einem Konzert des Bl!ndman Saxophonquartetts in Frankfurt zugehört.
Stichwörter: Berlin

SZ, 03.09.2001

Ira Mazzoni hat sich Museum, Ausstellungshalle und erste Ausstellung im Düsseldorfer Ehrenhof angesehen und übt scharfe Kritik an dem neuen Kunstpalast von Oswald Mathias Unger: "kein großzügiges Raumwunder, sondern akkurat vermessenes und quadratisch gerastertes Mehr-ist-nicht-drin". Auch die Ausstellung mit Altären aus aller Welt missfällt ihm. Während Generaldirektor Jean-Hubert Martin auf einer Pressekonferenz "leidenschaftlich gegen Völkerkundemuseen und ihre postkolonialen Rahmenbedingungen" argumentierte und erklärte, 'Ich will den Inhalt, den Geist haben', sieht Mazzoni genau in diesem "Catch the spirit" eine "neoromantische Ausbeutung spiritueller Kräfte, die in einem säkularisierten Europa kaum noch manifest sind. Andererseits bedeutet die Rezeption dieser rituellen Arrangements als zeitgenössische Environments die Nivellierung kultureller Differenzen."

Ulrich Kühne berichtet, dass "27000 Naturwissenschaftler aus 170 Ländern" angedroht haben, "vom 1. September an einige der größten und renommiertesten Fachzeitschriften ihrer Disziplinen zu boykottieren." Der Grund: die Verlage weigern sich, die Artikel nach einem halben Jahr kostenlos der Public Library of Science zur Verfügung zu stellen.

Jost Kaiser findet es rührend, dass Rudolf Scharping sich mit einer Frau und nicht mit Deutschland verheiratet weiß, meldet dann aber doch Bedenken an: "... wo die Regierenden als Babyknutscher, Hobbyköche oder Mallorcabesucher die Tatsache vergessen machen wollen, dass, wo es Regierende gibt, auch Regierte sind, und dass sie es regelmässig vergessen machen wollen, obwohl dies ein unvermeidlicher Tatbestand der repräsentativen Demokratie ist, macht die Sache erst verdächtig ? dort, wo also das menschelnde politische Spitzenpersonal in Erscheinung tritt, dort tritt der Widerspruch doch nur am härtesten hervor."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe schreibt über Filme von Woody Allen, Mira Nair, Richard Linklater und Andre Techine in Venedig. Reinhard J. Brembeck stellt das Holland Festival Oude Muziek in Utrecht vor: das bekannteste Festival für Alte Musik in Europa wird heute abend eröffnet. Sonja Zekri war bei der Hamburger Tagung "A World At Total War". Helmut Mauro hat beim Busoni-Klavier-Wettbewerb in Bozen zugehört. Jan Philip Reemtsma schreibt in der Reihe zum 50. Geburtstag der Minima Moralia. Holger Liebs gratuliert dem Historiker Wolfgang Pehnt zum Siebzigsten und Thomas Steinfeld gratuliert Fritz J.Raddatz ebenfalls zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Hieronymus Bosch im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, das Sommertheaterfestival "Laokoon" auf Kampnagel in Hamburg, Reginald Hudlins Filmgroteske "Ladies Man", Monika Wagners Buch über "Das Material der Kunst" und politische Bücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).