Heute in den Feuilletons

Unterhalb des Kukident-Alters

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2010. Im Tagesspiegel fragt Monika Maron, ob der Islam wirklich zu Deutschland gehört. Für die NZZ analysiert Oleg Jurjew die verheerenden Auswirkungen der Postmoderne auf die Petersburger Eremitage. Die FR starrt auf einen nackten Macho in Mullbinden vor bröckelnder Mauer. Schafft das ZDF ab, ruft die Welt, die "Mad Men" schon vor drei Jahren auf DVD gesehen hat. In der SZ erklärt "Mad Men"-Hauptdarsteller Jon Hamm: Digitale Technologie machte den Erfolg seiner Serie möglich. Die FAZ lässt sich auf der Buchmesse erklären, was ein "erweitertes E-Book" ist.

FR, 06.10.2010

Ziemlich verwirrt steht Sandra Danicke vor den Fotos des argentinischen Künstlers Marcos Lopez, die in der Frankfurter AusstellungsHalle gezeigt werden: "Am liebsten möchte man schreiend weglaufen. Diese Bilder sind ein Schlag ins Gesicht. Unwillkürlich zuckt man zurück. Vor den grellen Farben, den schrillen Motiven, der Aufdringlichkeit, die die Fotos von Marcos Lopez in die Nähe platter Werbeplakate rückt. Dann ist man doch irritiert. Wofür sollte der sonnenbadende Macho, der mit entblößtem Penis vor einer bröckelnden Mauer liegt, eigentlich werben?"


Mehr von Marcos finden Sie hier!

Weitere Artikel: Wolfgang Kunath schlendert durch Buenos Aires und freut sich über die vielen guten Buchhandlungen und Bibliotheken. Peter Michalzik stellt die argentinische Autorin, Regisseurin und Rockmusikerin Lola Arias vor. Judith von Sternburg gratuliert der Schweizer Autorin Melinda Nadj Abonji zum Deutschen Buchpreis. Claus-Jürgen Göpfert berichtet über Veranstaltungen zum digitalen Buch in Frankfurt, auf denen nichts interessantes passiert zu sein scheint.

Besprochen werden ein Konzert der Pianistin Helene Grimaud in der Alten Oper Frankfurt und Karin Henkels Inszenierung von Shakespeares "Viel Lärm um nichts" am Zürcher Schauspielhaus.

TAZ, 06.10.2010

Steffen Grimberg und Arno Frank verabschieden den Musiksender MTV, der nun sein kümmerliches Rest-Dasein in der Bezahlsparte fristen darf. Und räumen einige Missverständnisse aus: "An MTV haftet seltsamerweise noch immer das Image der Jugendlichkeit. Selbst heute, da er nahezu vollständig aus den Augen der Öffentlichkeit entrückt ist, erinnert man sich an den Sender als irgendwie 'cool', 'frech' und 'frisch'. Ein Irrtum, dem gestern auch wieder die FTD aufgesessen ist, als sie vermeldete: 'Vielen Älteren wird es vielleicht gar nicht auffallen: Der Jugendsender MTV verschwindet bald aus dem frei empfangbaren Fernsehen.' Das fällt nicht nur vielen Älteren nicht auf, sondern auch fast allen Jüngeren."

Hier noch einmal Chris Cunninghams sensationelles Aphex-Twins-Video, für die Jüngeren von vor dreißig Jahren:



In der Kultur: Angesichts der Verleihung des Deutschen Buchpreis an die in der Schweiz lebende ungarische Serbin Melinda Nadj Abonji überkam Dirk Knipphals ein "Gefühl von Frische und Fensteraufreißen" im Literaturbetrieb. Niklaus Hablützel kann Jens Joneleits Oper "Metanoia", deren Uraufführung ohne Christoph Schlingensief mehr schlecht als recht bewerkstelligt wurde, auch Positives abgewinnen: "Gerade dieses offen zur Schau gestellte Misslingen ist womöglich das schönste Requiem für einen Künstler."

Außerdem erscheint heute die Literataz, natürlich mit einem Schwerpunkt zu Argentinien und Besprechungen neuer Bücher von Ian McEwan, Sofi Oksanen und Tzvetan Todorov (wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus).

Und noch Tom.

Welt, 06.10.2010

Interessante Sendungen für ein Publikum "unterhalb des Kukident-Alters" werden jetzt in die Spartenkanäle der Öffentlich-Rechtlichen geschoben. "Mad Men" etwa startet heute auf ZDF neo. "Die Folgen fürs deutsche Fernsehen sind fatal", schreiben Richard Kämmerlings und Peter Praschl. "Denn natürlich kosten die verschnarchten Programme das Geld, das man bräuchte, um brillante Drehbuchautoren aufzubauen und riskante Formate zu entwickeln. Und natürlich würde ein Publikum, das von den Öffentlich-Rechtlichen nur Talk-Marathons und Schnabeltassen-Gönnerhaftigkeit gewohnt ist, von einer Serie etwa über eine Werbeagentur aus der Adenauer-Ära erst einmal so überfordert werden wie von 'Mad Men'. Vielleicht sollte man das ZDF einfach abschaffen. Und das gute Fernsehen nur noch im DVD-Fachhandel suchen."

Weiteres: Der französische Schriftsteller Frederic Beigbeder outet sich als "absoluter Fan" von "Mad Men". In der Glosse verbreitet Cornelius Tittel genüsslich, wie der Zeit-Reporter Moritz von Uslar auf einen wenig schmeichelhaften Bericht der Welt am Sonntag über sein Reportagebuch "Deutschboden" mit Droh-SMS ("Ich sage dir, diese Geschichte geht für dich nach hinten los.") und Anwaltsschreiben reagierte. Eckhard Fuhr wüsste gern vom Stiftungsrat der Klassik Stiftung Weimar, warum Stiftungspräsident Hellmut Seemann entlassen wurde. Uwe Boll verfilmt das Leben von Max Schmeling, erzählt Harald Peters. Besprochen wird die Ausstellung "Kraftwerk Religion" im Dresdner Hygiene-Museum.

Auf der Magazinseite stellt Jürgen Stüber den Facebook-Dienst "Places" (Orte) vor und ermuntert die Leser: Fürchtet euch nicht.

Tagesspiegel, 06.10.2010

Gehört der Islam wirklich zu Deutschland?, fragt Monika Maron in einem Kommentar zu Christian Wulffs Rede vom 3. Oktober: "Wenn Christian Wulff von unserer christlich-jüdischen Geschichte spricht und sie gleichsetzt mit dem Islam, der nun zu Deutschland gehören soll, vermischt er kulturelle Prägung und Religion. Wir meinen mit unserer christlich-jüdischen kulturellen Prägung ja nicht nur die Religion, sondern ebenso die Religionskritik und die Aufklärung. Unsere christlich-jüdische Prägung umfasst nicht nur die Christen und Juden, sondern alle, die sich in dieser Kultur verwurzelt fühlen, Andersgläubige wie Atheisten. Zu unserer christlich-jüdischen Geschichte gehört auch unser größtes Verbrechen: der Völkermord an den Juden. Auch das hat uns geprägt, vor allem auch in unserer Furcht vor uns selbst, die manche offenbar auch blind macht für andere Gefahren."

Im Berlinteil spricht Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky über die Ablehnung der deutschen oder auch westlichen Gesellschaft durch muslimische Einwanderer: "Nicht wieder alles gleich schönreden unter der Überschrift: Da wollen sich nur ein paar pubertierende Loser ohne Perspektive Luft machen. Ich vermute schon, dass sich 20 bis 30 Prozent der muslimischen Migranten in Distanz zu Demokratie und Toleranz befinden. Die fundamentalistisches religiöses Gedankengut pflegen und westliche Lebensart als 'Haram', also Sünde, abtun. Das ist durchaus ein kulturell muslimisches Problem."

Außerdem gibt es ein Spezial zur Buchmesse und ihrem Gastland Argentinien.

NZZ, 06.10.2010

Bei der Großinventur russischer Museen stellte sich vor einiger Zeit heraus, dass rund 250.000 Kunstwerke fehlen. Aber nicht alle wurden geklaut, erzählt der Schriftsteller Oleg Jurjew, viele wurden auch von der sowjetischen Regierung verkauft, um an Devisen zu kommen. "Noch in den siebziger Jahren erzählte man unter der Hand, dass die Sowjetregierung neben den offiziell abgegebenen Kunstgegenständen viele andere Rembrandts und Tizians verkauft habe. Die seien heimlich durch die genialen Kopien eines Meisterfälschers ersetzt worden, der in den Eremitage-Werkstätten gearbeitet habe und später spurlos verschwunden sei. Seither sollen nicht einmal Eremitage-Mitarbeiter wissen, was bei ihnen im Haus falsch und was authentisch ist. Das war die Geburt der Postmoderne aus dem Geiste des Stalinismus!"

Weiteres: Joachim Güntner berichtet von der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, bei der mit dem Buchpreis für Melinda Nadj Abonji (mehr hier) die Schweizer Literaten ihren großen Moment erlebten: "Das Gefühl der Zurücksetzung, das unter ihnen hier und da laut wurde, hat nun seine Berechtigung verloren." Besprochen werden die Uraufführung von Jens Joneleits "Metanoia" an der Deutsche Staatsoper Berlin und Nigel Hamiltons bisher nur auf Englisch erschienene Präsidentenporträts "American Caesars".

SZ, 06.10.2010

Auf der Medienseite antwortet der Schauspieler Jon Hamm auf die Frage, ob die amerikanische Fernsehserie "Mad Men" (ab Mittwoch bei ZDF Neo) ihren Erfolg auf den neuen Technologien verdankt: "Absolut. Früher gab es in den USA nur drei TV-Sender, die von den Werbekunden abhängig waren. Für einen großen Konzern, der ABC, CBS und NBC mit Anzeigen fütterte, war es kein Problem, eine Show absetzen oder umschreiben zu lassen. Heute sammeln sich die Zuschauer nicht automatisch vor dem Fernseher, sondern konsumieren die Shows, wo sie wollen, auf DVD, im Netz oder als Pay-TV. Die Kreativen müssen ihr Konzept also nicht mehr auf das Massenpublikum zuschneiden, sondern können ihre Ideen über verschiedene Kanäle einer kleineren Zielgruppe zugänglich machen. Heute bestimmen nicht mehr die Werbekunden, was gesendet wird, sondern das Publikum."

Tobias Kniebe mochte "The Social Network", auch wenn sein Verstand ihm sagt, dass dies ein Old-Media-Film ist: "Wie hochtourig die Mythenmaschine Kino hier dreht, erkennt man spätestens beim Betrachten jenes kurzen Filmporträts, das CBS im Jahr 2008 einmal vom echten Mark Zuckerberg angefertigt hat. Der Kerl mag smart sein, aber er bringt kaum zwei vollständige Sätze heraus, und humorloser, auch geistferner hat man kaum je einen Global Player reden hören - dagegen wirkt sogar Bill Gates plötzlich wie ein lebendiges Kerlchen."

Weitere Artikel: Sebastian Schoepp stellt argentinische Autoren wie Maria Sonia Cristoff, Claudia Pineiro und Marcelo Figueras vor. Antje Weber singt ein Loblied auf die argentinische Kinder- und Jugendliteratur. Volker Breidecker zeigt bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse keinerlei Sympathie für die auch nur verhaltensten positiven Aussagen zum E-Book. In einer halben Randspalte würdigt Christopher Schmidt die diesjährige Preisträgerin des Deutschen Buchpreises, Melinda Nadj Abonji: ihr sei "ein sehr lesenswerter Roman über das Thema Immigration gelungen". Im Interview erklärt der Psychologieprofessor Steven Pinker, dass wir heute in besonders gewaltfreien Zeiten leben: Heute erleidet in Europa einer von 100.000 Bewohnern Europas einen gewaltsamen Tod, "im Mittelalter lag die Rate noch bei 35". Auch Christiane Kohl weiß nicht, warum der Präsident der Weimarer Klassikstiftung, Hellmut Seemann, entlassen wurde. Nur soviel ist ihr klar: die Politiker wollen Seemann nicht mehr, die Direktoren der Klassik-Stiftung dagegen haben einen Solidaritätsbrief für Seemann gechrieben. Für die Reihe "Schule der Kunst" besucht Nadine Barth die Essener Folkwangschule. Alex Rühle erzählt fasziniert von einer Geo-Reportage Nicholas Shakespeares, der Guzmans Gefährtin Maritza Garrido Lecca, über die er einen Roman geschrieben hat, in Peru im Gefängnis besuchte (mehr hier). Und Willi Winkler schreibt zum Tod von Isaak Babels Witwe Antonina Piroschkowa.

Besprochen werden die Ausstellung "Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris" im Museum Folkwang in Essen und einige CDs.

FAZ, 06.10.2010

Auch in Deutschland hat das E-Book-Zeitalter begonnen. Lena Bopp hat bei den Verlagen nachgefragt und von Rowohlt erfahren, dass man da schon weit über den reinen Text hinaus, nämlich an sogenannte erweiterte, "enhanced", E-Books denkt. Einer der vier Prototypen ist der "gerade erschienene Roman 'Strohfeuer' des Bloggers Sascha Lobo. Alle Bücher werden mit Filmen, Bildern und Tondokumenten ausgestattet sein. Beim E-Book mit Lobos Roman soll der Leser darüber hinaus aber auch mit dem Autor selbst in Kontakt treten können. Wie genau man sich das vorzustellen hat, ob der Leser mit dem Autor in einer Art Chat über dessen Roman diskutieren soll, ob man per Videokamera auf Lobos Schreibtisch schauen darf oder ob man ihm einfach eine E-Mail schreibt, all das wird Rowohlt erst auf der Buchmesse verraten."

Weitere Artikel: In hellster Aufregung sieht Gina Thomas die britischen Subventionsempfänger in Forschung und Kultur, bevor in Kürze die einschneidenden Sparmaßnahmen der neuen Regierung bekannt gegeben werden. In der Glosse beschreibt Sandra Kegel den Buchpreis-Gewinner-Roman "Tauben fliegen auf" von Melinda Nadj Abonji als " literarisierten Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins pessimistischen Thesen zur Integration". Manfred Lindinger erläutert, was an Andre Geims und Konstantin Novoselovrs Entdeckung der Kohlenstoffmodifikation Graphen physiknobelpreiswürdig war. Kurz vermeldet wird eine offene Antwort des Hauses Suhrkamp auf den offenen Brief der Joyce-Erben - letzter Satz: "Wozu der Lärm?"

Besprochen werden ein Manu-Katche-Konzert in Heidelberg, Hans-Joachim Ruckhäberles "Penthesilea"-Inszenierung am Münchner Residenz-Theater, Jenny Holzers Stadtraum-Beschriftungs-Installationen "For Frankfort", David Finchers Facebook-Film "The Social Network" und Bücher, darunter Philip Roths neuer, gerade in den USA veröffentlichter Roman "Nemesis" (der Jordan Mejias nicht ganz zu überzeugen vermag) und - von keinem Geringeren als Günter Wallraff eher ungnädig rezensiert - Frank Hertels "Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).