9punkt - Die Debattenrundschau

Enormes Ausmaß an Verwirrung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2020. In der SZ schreibt Najem Wali über die Angst der Iraker, dass Iraner und Amerikaner ihren Streit weiter auf irakischem Boden austragen, die zu überraschenden Frontverschiebungen führt. Die FAZ beschreibt den französischen Clinch zwischen korporatistischen Gewerkschaften und einem dirigistischen Staat. Spiegel online gibt es ab heute nicht mehr. Es gibt nur noch Der Spiegel und die Hoffnung auf Digital-Abos, berichtet unter anderem Meedia.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.01.2020 finden Sie hier

Politik

Egal, ob sie den Tod des iranischen Generals und Chefs der Al-Quds-Brigaden Qassim Soleimani bedauern oder feiern, ein Gefühl eint die Iraker heute, meint Najem Wali in der SZ: Sie haben Angst, dass Iraner und Amerikaner ihren Streit weiter auf irakischem Boden austragen. Ansonsten ist man zerstritten: "Es ist paradox, aber gerade diejenigen, die jahrelang den US-Einmarsch und die amerikanische Besetzung des Landes kritisiert hatten, also vor allem: die Sunniten, fordern heute die militärische Einmischung der Amerikaner im Irak. Umgekehrt lehnen diejenigen, die 2003 den Sturz des sunnitisch dominierten Baath-Regimes bejubelt hatten, also vor allem: die Schiiten, jede amerikanische Präsenz ab. Der Nahe Osten ist nie leicht zu begreifen, aber diesmal offenbaren die sozialen Medien selbst unter Irakern ein enormes Ausmaß an Verwirrung."

Verwirrt ist auch Sonja Zekri, die in der SZ zwar entsetzt ist von Donald Trumps Drohung, bei Vergeltungsangriffen für die Tötung des iranischen Generals und Chefs der Al-Quds-Brigaden Qassim Soleimani Kulturstätten des Irans zu bombardieren (auch wenn er diese Drohung inzwischen zurückgezogen hat). Aber die Begründung fällt ihr schwer: So habe "der amerikanische Präsident vorübergehend den kulturellen Nihilismus des IS erreicht. Das gemeinsame Menschheitserbe mag ein verlogenes Konzept des Westens sein, um seine Ansprüche auf antike Stätten des Nahen Ostens zu rechtfertigen. Aber ihr Schutz gehörte zum westlichen Wertekanon wie Demokratie und Folterverbot."

Und die Europäer, wo stehen sie? "Die Antwort fällt vielen gar nicht so leicht. Das liegt natürlich an Trump, aber nicht nur", meint Ulrich Ladurner auf Zeit online. "Während sie das Atomabkommen unterzeichnete, entwickelte die Islamische Republik Iran ihr Programm ballistischer Raketen weiter. Diese Raketen können inzwischen Europa erreichen. Um es in einem Satz zu sagen: Die Islamische Republik Iran blieb trotz des Atomabkommens ein diktatorisches Regime mit imperialem Anspruch. Das blieb freilich auch den Europäern nicht verborgen, doch hofften sie auf Bändigung des Regimes durch seine Einbindung in internationale Verpflichtungen. Die Hoffnung war trügerisch - Trump hat sie zerschlagen, doch das Regime in Teheran hat sie in den vergangenen Jahren auch nicht genährt, im Gegenteil. Es hat sie unterminiert."

In Taiwan sind am Samstag Wahlen. Die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen steht für eine Lösung von dem "Konsens" mit Festlandchina, dass es nur "ein China" gebe, und wird deshalb von der jungen Generation, die die Proteste in Hongkong im Blick hat, unterstützt, berichtet Antonia Märzhäuser in der FAZ: Nebenbei "sind durch China unterstützte Medien in Taiwan schon lange ein Problem. Im Wahlkampf 2019 erreicht die Zahl der 'Fehlinformationen' jetzt neue Höhen. So wird vergleichsweise harmlos darüber berichtet, dass die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen zu einem wichtigen Termin zu spät erscheine. Desinformationen werden gezielt eingesetzt und direkt aus Peking gesteuert."
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Europa

Der andauernde französische Clinch zwischen korporatistischen Gewerkschaften und einem dirigistischen Staat zeugt von einer "Kultur des Misstrauens", die bis auf Colbert zurückgeht, den Finanzminister Ludwigs XIV., schreibt FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel unter Bezug auf verschiedene Politologen und Soziologen. "Diese staatliche Übermacht habe über die Jahrhunderte dazu beigetragen, dass sich der soziale Dialog nur schwach entwickelte. Zudem verkümmerte das individuelle Verantwortungsbewusstsein. 'Väterchen Staat' beförderte auf diese Weise eine gewisse bürgerliche Unmündigkeit. Hinzu kommt die marxistische Tradition, die bis heute in Frankreich dazu führt, dass in der Gesellschaft 'die Reichen', 'die Unternehmen' und 'der Markt' negativ besetzte Begriffe seien."
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Medien

Andreas Platthaus berichtet für die FAZ aus Paris über die Gedenkfeiern zum fünften Jahrestag des Attentats auf Charlie Hebdo: "Zwei Gedenktafeln sind seit einiger Zeit an den Todesorten angebracht, doch heute wird nur dem Gedenken der Familien Raum eingeräumt - einer martialisch durch Maschinengewehre und Gitter bewehrten Trauer, von denen ein Bruchteil vor fünf Jahren ausgereicht hätte, das Verbrechen zu verhindern."

Selbst im gut versorgten Schweden ist die Lokalpresse in der Krise, berichtet Reinhard Wolff in der taz: "Und das großzügige System staatlicher Presseförderung, das sich Schweden seit über fünf Jahrzehnten leistet? Es hat mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten. Womöglich war es sogar eher kontraproduktiv, weil es erforderliche Anpassungen beim Kostenkostüm zu lange hinauszögerte. Ein aktuelles Problem ist die mangelnde finanzielle Ausstattung bei gleichzeitig immer mehr Förderberechtigten. Zeitungen haben Anspruch auf Produktionskosten, wenn in ihrem Verbreitungsgebiet ihre Haushaltsdeckung unter 30 Prozent liegt. Selbst ehemalige Monopolzeitungen landen mittlerweile unter diese Grenze." Und also landet zu wenig bei der einzelnen Zeitung.

Spiegel online gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch Der Spiegel. Die Website überrascht mit der allseits üblichen Kachel-Ästhetik. Chefredakteur Steffen Klusmann, ehemals Financial Times Deutschland, "hat den Webauftritt radikal umgebaut, um mehr Digitalabos zu erzielen", berichtet Gregory Lipinski bei Meedia. Bisher gebe es 125.000 digitale Abos: "Dauerhaft sollen es deutlich mehr werden, um den Verlag stärker von der Reichweitenvermarktung der Seite unabhängiger zu machen. Denn das Werbegeschäft ist hart umkämpft, obwohl das Printhaus mit der zu Bertelsmann gehörenden Ad Alliance einen großen Vermarkter im Rücken hat. Immer mehr gesetzliche Anforderungen und Wettbewerber wie Google, Facebook & Co. erschweren den Verlagen, ihre Anzeigenerlöse zu steigern."

Auf Zeit online fordern über vierzig Satire-AutorInnen des WDR und anderer Sender den Rücktritt des Intendanten Tom Buhrow, weil er mit seiner Entschuldigung für die "Umweltsau"-Satire seine Mitarbeiter im Regen stehen lasse. Und weil "alle Hinweise, der ursprüngliche Shitstorm - mutmaßlich auch signifikante Teile des analogen, der über telefonische Beschwerden in den Sender kam - sei von rechten Netzwerken organisiert worden, eifrig ignoriert". Laut Christian Meier (Welt) verteidigte sich Buhrow gegen diese Vorwürfe in einer Redakteursversammlung: "'Wir können doch nicht einfach so tun, als ob es nicht zählt, wenn sich ein großer Teil unseres Publikums zu Unrecht angegriffen fühlt.' Es mache für ihn darum auch keinen Unterschied, dass das 'Umweltsau'-Lied schnell nach der Veröffentlichung von Fundamentalkritikern der Öffentlich-Rechtlichen auch aus dem rechtsextremen Spektrum instrumentalisiert worden war, um Stimmung gegen den beitragsfinanzierten Rundfunk zu machen. Denn daneben habe es eben 'echte Gefühlsäußerungen' von Hörern gegeben, die mit einer orchestrierten Kampagne nichts zu tun gehabt hätten."
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Gesellschaft

Die Aufdeckung von Harvey Weinsteins System der sexuellen Ausbeutung junger Frauen hat doch einiges zum Positiven geändert, denkt sich Hannes Stein in der Welt, egal, wie das Urteil am Ende ausfallen wird: "Es gab einmal eine Zeit, da konnte ein Päderast wie Klaus Kinski sich öffentlich damit brüsten, dass er minderjährige Mädchen vergewaltigte, und er wurde - trotzdem? deshalb? - wie ein Genie gefeiert. Wäre das heute auch noch so? Oder käme er ins Gefängnis? Wie würde es Michael Jackson ergehen, wenn er noch lebte? Jeder konnte wissen, dass er ein Kinderschänder war; seine Fans scheint das nie gestört zu haben. Unter dem Strich ist der Prozess gegen Weinstein - so bedrückend die Details sein mögen, die darin aufgerollt werden - ein gutes Zeichen. Neu ist ja nicht, dass Chefs sich wie Götter aufspielen und weibliche Untergebene sexuell bedrängen. Neu ist, dass sie deswegen zur Rechenschaft gezogen werden.

Bloß kein Bürgergeld für Windräder, besser, man gibt es den Kommunen, warnt im Interview mit Zeit online der Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung und Gründungsdirektor des Berliner Instituts für Partizipation, Jörg Sommer: "Ein Windbürgergeld kann die Spaltung der Gesellschaft noch vertiefen, etwa weil manche Anwohner Geld erhalten, andere, die nur ein paar Meter weiter wohnen, aber nicht. Oder weil manche Windkraftgegner das Geld akzeptieren, andere aber weiter protestieren. Durch Zahlungen an Einzelne würde der Gesetzgeber einen gesellschaftlichen Trend verstärken, der persönliche, egoistische Interessen über das Gemeinwohl stellt - heutzutage protestiert man gegen Bauvorhaben ja nicht mehr unbedingt, weil man sie beispielsweise für umweltschädlich hält, sondern einfach, weil man so etwas nicht neben der eigenen Haustür haben möchte. Diesen Egoismus würde man noch belohnen. Das halte ich auch demokratietheoretisch für problematisch."
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Geschichte



In der Berliner Zeitung empfiehlt der Historiker Götz Aly wärmstens eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg über die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Stadtrecht. "Was ist an dieser Ausstellung so aufregend? Ganz einfach: Vom Magdeburger Domplatz aus öffnet sich der kulturhistorische Blick nach Osten. ... Anders als die heute verbreitete hoffärtige Einbildung, man könne Demokratie und Rechtsstaat einzelnen Staaten wie etwa Libyen notfalls mit Gewalt aufpfropfen, breitete sich das Magdeburger Stadtrecht per Osmose aus. Der Rechtskreis vergrößerte sich, weil die einzelnen Regelungen, die Schöffensprüche und die Öffentlichkeit der Verfahren funktionierten, das machte sie attraktiv: Zunächst übernahmen es Städte wie Berlin, Stettin, Danzig oder Breslau, schließlich folgten zum Beispiel Prag, Krakau, Lemberg, Wilna, Ofen (Budapest), Hermannstadt, Kiew, Minsk, Brjansk und Poltawa."

Außerdem: In der NZZ schreibt Regula Heusser-Markun über russische Kämpfer auf beiden Seiten des Spanischen Bürgerkriegs. Und die Historikerin Elisabeth Schraut erklärt, ebenfalls in der NZZ, was es mit dem "Türkenbecher" auf sich hat, der zur Zeit in der Ausstellung "Kaiser und Sultan. Nachbarn in Europas Mitte 1600-1700" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe ausgestellt ist.
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