9punkt - Die Debattenrundschau

So enden Kriege

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2023. Im New Yorker fragt Masha Gessen, wie Putin Prigoschins Rebellion ungesehen machen will. Osteuropa bemerkt, dass sich in Rostow und Woronesch niemand fand, um dem Kreml zu helfen. In der NZZ schöpft Timothy Snyder aus den internen russischen Rivalitäten Hoffnung. Mit Blick auf Frankreich und Italien möchte ZeitOnline der CDU eher abraten, auf einen Kulturkampf zu setzen: Davon profitieren nur die Populisten. In La Règle du Jeu ist Bernard-Henri Lévy grundsätzlich gegen die Rückkehr.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.06.2023 finden Sie hier

Europa

Von jeher gilt in den Zirkeln russischer Macht die Devise, die Freunde nah bei sich zu halten und die Feinde noch näher, weiß Masha Gessen im New Yorker. Was sollten die Russen nun davon halten, dass Putin dies bei seinem Heerführer Jewgeni Prigoschin nicht gelungen ist? "Im Allgemeinen zielt das Putin-Regime wie alle totalitären Regimes darauf, die Menschen am Denken zu hindern. Aber am vergangenen Wochenende sahen die Russen - nicht nur die Russen, die unabhängige Medien konsumieren, sondern alle Russen, die fernsehen oder etwas im Internet lesen oder sehen - etwas Außergewöhnliches. Sie sahen echten politischen Konflikt. Sie sahen, dass jemand anderes als Putin politisch handelte und - was noch wichtiger ist - Gewalt ausübte. Können all die Propagandisten und Zensoren das ungesehen machen? Sie werden es versuchen. Die Russen sollten sich auf einige extreme Maßnahmen einstellen... Wenn Putins Regime endet, bevor Putin stirbt, wird dieses Ende ähnlich aussehen wie die Ereignisse des vergangenen Wochenendes: plötzlich, blutig und zunächst lächerlich."

Auch der stets gut informierte Nikolaj Mitrokhin kann sich in Osteuropa keinen Reim auf die Rebellion der Wagner-Truppen machen. Bemerkenswert erscheint ihm allerdings, dass es zwar zu Zusammenstößen mit der Luftwaffe kam, die vom Kreml losgeschickt worden war, dass Prigoschins Privatarmee aber auf lokaler oder regionaler Ebene keinerlei Widerstand erfuhr: "Der Aufstand zeigt, wie schwach die staatlichen Befehlsketten sind, wie wenig Unterstützung Putin und sein Regime im 'Volk' hat. Nirgendwo gab es einen Versuch, dem Kreml zu helfen und die Wagner-Kolonne aufzuhalten. Als diese umkehrte, brach nirgendwo Jubel aus. Im Gegenteil, zumindest in Rostov wurden die Wagner-Soldaten mit Blumen empfangen. Gezeigt hat sich auch, wie schwach die Sicherheitsorgane sind, wenn sie es mit einer großen bewaffneten Einheit zu tun bekommen."

Richard Herzinger warnt in seinem Blog vor allzu optimistischen Interpretationen der von außen schwer lesbaren Eintagesrevolte: "Es ist davon auszugehen, dass die putinistische Militärhierarchie mit der Entfernung des überambitionierten Quertreibers von der russischen Bühne erst einmal gestrafft und damit eher gestärkt aus dieser obskuren Episode hervorgegangen ist."

"Wenn das heutige Russland kein faschistisches Regime ist, dann ist es wirklich schwer zu sagen, welches Regime faschistisch wäre", schreibt Timothy Snyder in einem von der NZZ übernommenen Artikel auf seinem Substack-Blog, in dem er zehn Lehren aus der Meuterei zieht - und Hoffnung auf ein Ende des Krieges macht: "Die Wagner-Revolte war ein Vorgeschmack darauf, wie der Krieg in der Ukraine enden wird. Wenn in Russland ein bedeutender innerer Konflikt ausbricht, werden die Russen die Ukraine vergessen und sich auf ihr eigenes Land konzentrieren. Das ist nicht nur einmal passiert, und es kann wieder passieren. Wenn ein solcher Konflikt sich hinzieht, werden die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen. In diesem Fall hat sich die Wagner-Gruppe selbst aus der Ukraine zurückgezogen, und dann haben die Truppen von Ramsan Kadyrow (Achmat) die Ukraine verlassen, um die Wagner-Truppen zu bekämpfen (was ihnen nicht gelang). In einem tiefgreifenden inneren Konflikt würden auch die regulären russischen Soldaten aus der Ukraine abziehen... So enden Kriege: wenn der Druck innerhalb des politischen Systems übergroß wird. "

"Putins Russland ist weder eine dynastische Monarchie noch verfügt es über eine kollektive Führung wie die poststalinsche Sowjetunion", erklärt der Historiker Martin Aust, der mit weiteren Autoren den Band "Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg Besichtigung einer Epoche" verfasst hat, im FR-Gespräch mit Michael Hesse. Vergleiche mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion helfen nicht weiter, meint er: Putin "verfügt auch über keine Ideologie. Die Orientierung an der beanspruchten historischen Größe Russlands und den aus ihr abgeleiteten Ansprüchen der russischen Nation sind für Menschen außerhalb Russlands uninteressant. Die innere Logik des Systems ist kleptokratisch und korrupt. Das ist auch der zentrale Grund, warum es bislang zu keinem Widerstand in den Eliten Russlands gegen den Krieg gekommen ist. Alle Gruppierungen verdanken ihre Positionen und ihren Reichtum Putin."

Prigoschin wird in Belarus nicht die Möglichkeit haben, eine Privatarmee zu kontrollieren, glaubt im Tagesspiegel-Gespräch der Politologe und ehemalige Belarus-Dipomat Pavel Slunkin: "Lukaschenko ist ein Alleinherrscher, niemand hat neben ihm etwas zu sagen. Alle, die sich in Belarus politisch betätigen wollten, wurden verfolgt, sind im Gefängnis, tot oder im Exil." Und auch vor Putin ist Prigoschin in Belarus nicht sicher, meint er: "Wenn er sich dort alleine aufhält, ist er in großer Gefahr. Und selbst wenn er mit Soldaten kommt, ist seine Lage alles andere als sicher. Man hat quasi schon die Schlagzeile vor Augen, dass er vom Balkon gefallen ist. Putin ist ein ehemaliger KGB-Offizier. Er wird sich für die Demütigung rächen. Er hat mehrfach wiederholt, dass er alles entschuldigen kann außer Verrat. Seine Rache wird vielleicht nicht unmittelbar geschehen, nicht in den nächsten Tagen oder Monaten. Aber dass sie kommen wird, das steht für mich fest."

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"Was wir auf europäischer Ebene in Polen und Ungarn beobachtet haben, ist ein Menetekel, man sollte sich frühzeitig auf solche Szenarien vorbereiten", warnt im FR-Gespräch mit Ursula Rüssmann auch der Verfassungsrechtler Franz C. Mayer nach dem AfD-Wahlsieg in Sonneberg: "Wir haben in der Bundesrepublik ein föderales Gefüge, das den Ländern eine gewisse Autonomie gibt: Sie haben die Regelzuständigkeit, es sei denn, das Grundgesetz sagt etwas anderes. Die Länder sind etwa zuständig für das Polizei- und Ordnungsrecht, ebenso beim Landesverfassungsschutz. Eine Landesregierung könnte außerdem in das Kommunalrecht oder das Rundfunk- und Presserecht eingreifen - und vor allem ist der Kultusbereich mit Kultur und Bildung Ländersache. So könnte eine rechtsorientierte Landesregierung etwa Vorstellungen einer völkischen Kultur in den Schulen platzieren. (…) Auch bei Richter- und Staatsanwaltsämtern ist der Einfluss der Landesregierungen größer, als man denkt." Zugleich entwarnt Mayer: "Es gibt den Bundeszwang nach Artikel 37 Grundgesetz, und es gibt Weisungsmöglichkeiten. In letzter Konsequenz könnte das sogar dazu führen, dass der Bund eine Landesregierung absetzt und das Land durch einen Bundeskommissar regieren lässt."

Empörte "Nazi-Rufe" helfen nicht gegen den Versuch der AfD die "Demokratie mit demokratischen Mitteln auszuhöhlen", schreibt Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). Wichtiger wäre es "auf institutionellem Wege Vorkehrungen zu treffen", meint er.

Eine Diskursverschiebung nach rechts, wie sie etwa Friedrich Merz mit seinem "Kulturkampf" gegen die Grünen versucht, hilft hingegen nicht weiter, davon profitiert am Ende nur die AfD, schreibt Nils Markwardt auf ZeitOnline, auch mit Blick auf das Buch "Mitte/Rechts - Die internationale Krise des Konservatismus" von Thomas Biebricher: "Darin untersucht der Politikwissenschaftler die Entwicklung der konservativen Kräfte in Italien, Frankreich und Großbritannien innerhalb der letzten 20 Jahre. Eine Quintessenz lautet: Als Reaktion auf das Erstarken rechtspopulistischer Parteien (Lega und Fratelli d'Italia in Italien, Rassemblement National in Frankreich, Ukip in Großbritannien) haben die klassisch konservativen Kräfte mit einer Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte sowie einer verschärften Rechtsrhetorik reagiert. Sprich: Auf Kulturkämpfe gegen Wokeness und Klimaschutz sowie nationalistische Töne gesetzt. Das hat langfristig aber nur zu Stärkung der Rechtspopulistischen geführt, wie man derzeit an den Wahlergebnissen von Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder den innerparteilich teils radikalisierten Torys erkennen kann"
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Gesellschaft

Heike Schmoll kann in der FAZ nur begrüßen, dass das geplante Selbstbestimmungsgesetz noch nicht beschlossen wurde. Denn andere Länder haben schlechte Erfahrungen damit gemacht: "In Schweden stieg die Diagnosehäufigkeit einer Transidentität vor allem bei den 13 bis 17 Jahre alten Mädchen in den Jahren 2008 bis 2018 um 1500 Prozent. Schweden hat die Behandlung mit Pubertätsblockern wegen ihrer unklaren Langzeitfolgen inzwischen ausgesetzt. Auf die vom Arzt verschriebenen Blocker folgt meist eine chirurgische Angleichung an das gewünschte Geschlecht, die irreversibel ist. Nur wenige sind mit dem Operationsergebnis zufrieden. Psychiater und Kinderpsychologen verweisen darauf, dass die sogenannte Geschlechtsdysphorie, also die Ablehnung des eigenen Körpers und der primären Geschlechtsmerkmale, sich ohne pubertätsblockierende Medikamente in 80 bis 95 Prozent der Fälle im Laufe der Pubertät auflöst. All das spricht gegen verfrühte Entscheidungen."
Archiv: Gesellschaft

Wissenschaft

Nach dem neuen Gesetzentwurf für Zeitverträge in der Wissenschaft sollen für eine Promotion künftig sechs Jahre erlaubt sein, für die Habilitation vier Jahre. Dass die großen Wissenschaftsorganisationen höflich darum bitten, daraus "mindestens" vier Jahre zu machen, bringt Jürgen Kaube in der FAZ auf die Palme: "Der gerade aus dem Amt geschiedene Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann, hat nach seiner Promotion zehn Jahre gebraucht, um sich zu habilitieren. Womöglich hatte er ein schwieriges Forschungsproblem. Heute findet er 'mindestens vier Jahre' eine erträgliche Zeitangabe, worunter rein logisch natürlich auch zehn oder zwanzig Jahre fallen, nur rein praktisch nicht. Otmar Wiestler wiederum, Chef der Helmholtz-Gesellschaft, wurde 1984 promoviert und habilitierte sich 1990. Auch das war deutlich über dem jetzt für zumutbar Gehaltenen. Und so bei Katja Becker (DFG-Präsidentin) mit acht Jahren... Wie kann es sein, dass solche Leute nicht mehr zu wissen scheinen, wie lange sie für ihre eigene Wissenschaft gebraucht haben?"
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Stichwörter: Wissenschaftsbetrieb

Ideen

Können wir bitte wieder nach vorne blicken? Bernard-Henri Lévy ist jedenfalls auf den Seiten von La Règle du Jeu auf eine grundsätzliche Art gegen Rückkehr: "Ich bin gegen die Rückkehr zur Natur. Gegen die Rückkehr zu den Wurzeln. Gegen die Rückkehr zum Ursprung, der Matrix des Totalitarismus. Ich bin aus denselben Gründen gegen die Rückkehr zur Erde, zur guten Gemeinschaft, zum verlorenen Paradies. Ich bin gegen die Rückkehr zur Ordnung; gegen die Rückkehr zur Moral und zur Normalität; gegen die Rückkehr nach Hause und auch die Rückkehr nach Ithaka... Ich bin gegen die Rückkehr zum Glauben und bevorzuge Erleuchtungen, Ekstasen und den mystischen Sprung."
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Medien

In einem Gastbeitrag für die FAZ verteidigt Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor allem aus Gründen der europäischen Solidarität das geplante Medienfreiheitsgesetz der EU gegen Kritik und Widerstand deutscher Medienhäuser und Verbände: "Während in Deutschland unabhängige Gremien die Intendanzen unserer Rundfunkanstalten wählen, suchen sich in manchen Teilen Europas die Regierungen ihnen genehmes Redaktionspersonal aus. Solche medienpolitischen Defizite haben auch direkte Auswirkungen für uns, da damit das gemeinsame europäische Demokratiemodell gefährlich ausgehöhlt wird. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz ist der konsequente nächste Schritt der europäischen Ebene moderner Gesetzgebung."

In einem daneben stehenden Bericht referiert Michael Hanfeld die Position der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage: "Die Verleger und Verbände kritisieren grundsätzlich, dass die unabhängige Presse, die in Deutschland mit dem Deutschen Presserat ein funktionierendes Element der Selbstkontrolle kennt, der Aufsicht einer EU-Behörde unterstellt wird, dem European Board for Media Services. Dies stelle eine ernsthafte Bedrohung der Pressefreiheit dar..."
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