Intervention

Keine Sucht nach uns

Von Thierry Chervel
02.12.2019. Eine "Widerstandssäule" mit der Asche ermordeter Juden? Bei mir lösen die Philipp Ruchs Aktionen stets eher einen physischen Widerwillen aus. Mich stört die Nekrophilie, das Kapern realer Leichen für ästhetische Zwecke. Man könnte es die Gunther-von-Hagenisierung der allerjüngsten Avantgarde nennen.
Das "Zentrum für politische Schönheit" stellt also eine Stele mit Asche von in Auschwitz ermordeten Juden an die Stelle der Kroll-Oper, zwischen Bundestag und Kanzleramt, dort, wo die Nazis einst die Macht übernahmen. Mag sein, dass die neueste Aktion eine ernsthafte Debatte auslöst, wie sie sich Arno Widmann in der Berliner Zeitung wünscht.

Bei mir lösen Ruchs Aktionen stets eher einen physischen Widerwillen aus. Mich stört die Nekrophilie, das Kapern realer Leichen für ästhetische Zwecke. Man könnte es die Gunther-von-Hagenisierung der allerjüngsten Avantgarde nennen. Wodurch ist Ruch autorisiert, die Asche ermordeter Juden auszugraben, um sie für seine persönliche Kunstaktion zu benutzen?

Ich will nicht ausschließen, dass mein Würgreflex Symptom einer nachhaltigen Erschütterung ist, aber mich stört an der Aktion noch mehr. Da ist das Werbevideo der Aktion in seiner so perfekten wie abstoßenden Hochglanzästhetik. Die Glätte soll man eventuell als Hohn auf die sinnlose Warenwelt verstehen, in der wir angeblich alle leben und in der wir die Opfer des "Faschismus" (auch ein problematischer Begriff, jedenfalls so, wie Ruch ihn verwendet) vergessen. Ebenso klebrig in seiner schillernden Zweideutigkeit der Titel der Aktion: "Sucht nach uns". Stellt Philipp Ruch sozusagen den schieren Narzissmus als selbstironische Variante in den Raum?

Die politischen Behauptungen der sechzigseitigen Broschüre zur Aktion (hier als pdf-Dokument) haben den Betonkern des altlinken "Antifaschismus". Da steht im Vorwort: "Die Geschichtsverfälschung des Nationalsozialismus, die Beleidigung des Gedenkens an Millionen ermordeter Menschen, der sekundäre Antisemitismus hat sich den Weg in die Mitte der Gesellschaft gebahnt. Der Opportunismus von Dejaco und Prüfer, die Werte von Muhsfeld und Moll, Aumeier, Eichmann und Höß kleiden sich in einem neuen Gewand, dem vermeintlichen Licht am Ende des Tunnels ihrer Überfremdung, das wie vor beinahe 90 Jahren die Motten unserer Gesellschaft anzieht." Grauenhaft!

Was soll, gleich auf der ersten Seite, der "Dank" an einen Holocaustleugner von der AfD? "Sie haben zwar ihr geistiges Ejakulat auf das Andenken der deutschen Geschichtsforschung ergossen, jedoch einige relevante Quellen zur Unwiderlegbarkeit des Holocaust online zusammengefasst, die sogar tatsächlichen Historikern den Einstieg in die Forschung erleichtern können." Haben sich je Forscher, die es ernst meinen, bei Holocaustleugnern bedient?

Im Folgenden leistet das Papier möglicher Weise Pionierarbeit zu einem Aspekt des Holocaust, den man bisher nicht sehen wollte: Der Holocaust beinhaltet - beispielhaft für alle Genozide, auch etwa die später von Peter Handke in Frage gestellten Verbrechen - von vornherein die Dimension der Leugnung. Immer wollen solche Verbrechen die Spurlosigkeit der Vernichtung, die am Ende nicht möglich ist (oder ist sie es doch, gibt es Genozide, von denen wir nichts wissen, weil die Tilgung komplett gelungen ist?) Die Asche gehört zum Bild dieser Leugnung: Vielleicht liegt hier ein bleibendes Verdienst der Aktion. Es liegt ja auf der Hand, dass die Asche in den Lagern und den Landschaften, die sie umgeben, noch vorhanden ist.

Allerdings hat die Leugnung noch sehr viel mehr Aspekte, zum Beispiel, dass der erste Leugner des Holocaust nach dem Krieg Joseph Stalin hieß, denn er war es, der das von Ilja Ehrenburg und Wassilij Grossman erarbeitete "Schwarzbuch" zum Holocaust, die erste dokumentarische Aufarbeitung des Geschehens überhaupt, total zensieren ließ, bevor er selbst seine Weißkittel-Pogrome startete.

Die Leugnung des Holocaust hat eine komplexe Geschichte, die ebenso links wie rechts beginnt. Die "konfliktuelle Komplizenschaft", die François Furet benannte, macht den vom Zentrum für politische Schönheit reklamierten Gestus des "Antifaschismus" so suspekt. Der "Antifaschismus", ein Begriff, der von Stalinisten geschaffen wurde, um von den eigenen Verbrechen abzulenken, zielt darauf, alle Schuld nur bei den anderen abzuladen. Er kann zum Beispiel den Hitler-Stalin-Pakt nicht fassen, der ebenso wie zuvor die Machtübergabe der Konservativen an Hitler zu den Voraussetzungen der Vernichtung gehört.

Dieses eindimensionale Geschichtsbild steht auch im Zentrum des Werbevideos der Aktion. Etwa in Minute 1.30 heißt es da: "Direkt gegenüber des Bundestags (sic!) nahm die Vernichtungsaktion von Millionen Menschen ihren Anfang. Hier legte der Konservatismus die deutsche Demokratie in die Hände von Mördern. Bis heute erinnert nichts daran. Und der Konservatismus streckt schon wieder die Hand nach den Faschisten aus. In der Mitte der Republik errichten wir jetzt eine Widerstandssäule mit der Asche der Getöteten." Die Konservativen also starteten die Vernichtungsaktion?

Mit die ekligste Tendenz der klassischen Linken ist die Tendenz zum Remake. Schon die Revolutionäre von 1830 spielten die Französische Revolution nach. Die 68er sahen sich als Wiedergänger der Résistants, und die schlimmsten von ihnen, die RAF-Terroristen, bezogen daraus eine Lizenz zum Töten. Nun also stopft Philipp Ruch die Asche der in Auschwitz Ermordeten in eine Widerstandssäule: Aber "leider darf die Gedenkstätte offiziell nur bis Freitag bleiben. Wir wollen, dass sie dort für immer bleibt. Dafür brauchen wir deine Hilfe. Wenn genug Spenden zusammenkommen, werden wir am Samstag ein festes Fundament um die Säule gießen." Und "sei dabei, wenn sich am Samstag ganz Deutschland zum zivilgesellschaftlichen Zapfenstreich gegen die AfD trifft". Ja, dann endlich verspüren wir alle "Sucht nach uns".

Thierry Chervel