Post aus Breslau

Kurz trauern, und dann war es das

Von Mateusz J. Hartwich
05.09.2006. Der polnische Historiker Jan Tomasz Gross, der mit seinem Buch über das Massaker von Jedwabne eine heftige Debatte über das polnische Geschichtsverständnis ausgelöst hat, widmet sich in seinem neuen Buch dem Pogrom von Kielce und dem Antisemitismus nach Auschwitz. Doch in Polen schwindet die Bereitschaft zur Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.
"Steht Polen vor einer neuen Jedwabne-Debatte", fragten sich viele, als der polnisch-jüdisch-amerikanische Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross vor einigen Wochen sein neues Buch veröffentlichte: "Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz". Ausgerechnet jener Jan T. Gross, der mit seinem Buch über das Massaker von Jedwabne "Nachbarn" eine der heftigsten Debatten in Polen in den letzten 20 Jahren hervor gerufen hat - eine Debatte, die das Selbstverständnis der Nation ins Wanken brachte und publizistische, weltanschauliche und politische Fronten schuf, die bis heute halten und einen gewissen Anteil am Wahlsieg der regierenden Konservativen um die Gebrüder Kaczynski haben.

Die Ungewissheit über die Folgen einer neuerlichen Debatte war auch darin begründet, dass Gross wieder ein sensibles Thema im polnischen Geschichtsverständnis aufgegriffen hat: das Schicksal der polnischen Juden nach dem Holocaust. Im Mittelpunkt steht dabei das Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946 (dazu eine wissenschaftliche Publikation vom staatlichen "Institut für Nationales Gedenken"), bei dem wegen eines angeblichen Ritualmords über 40 Juden - Überlebende des Holocaust - von einer aufgebrachten Menge ermordet wurden. Ähnlich wie bei dem Mord von Jedwabne griff die kommunistische Regierung auch im Fall von Kielce hart durch. In mehreren Prozessen wurden harte Strafen und sogar Todesurteile verhängt. Die Kommunisten ließen es sich allerdings nicht nehmen, den Vorfall "Reaktionären" und "Faschisten" - den Widerstandskämpfern und Anhängern der Exilregierung in London - in die Schuhe zu schieben.

Die Zeichen der Zeit frühzeitig erkennend, schaltete sich in die aufkommende Debatte Adam Michnik ein, Chef der einflussreichen Gazeta Wyborcza und gleichzeitig selbst Kind von Holocaust-Überlebenden. Er veröffentlichte nicht nur einen langen Essay (Teil 1 und Teil 2) über das Pogrom und hob dabei die Haltung der "anständigen Polen" hervor, die öffentlich zu Reue aufriefen, statt sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. In einer flammenden Replik auf Elie Wiesels Besprechung von Gross' Buch (das in den USA sehr positiv aufgenommen wurde) warf Michnik dem Nobelpreisträger vor, die Wahrheit über Polen und den polnischen Antisemitismus zu verfälschen, indem er nichts über die Debatten schreibt. "Es gibt sicherlich kein zweites Land in Mittel- und Osteuropa", behauptet Michnik, "das mit solchem Ernst und mit solcher Aufrichtigkeit die dunklen Kapitel seiner Geschichte aufarbeitet." Michnik erinnerte auch daran, dass nach einem Angriff auf den Oberrabiner Michael Schudrich der Staatspräsident sofort und öffentlich reagierte. Wie sehr die Polen den Ruf als Antisemiten fürchten, zeigen auch die prompten Reaktionen auf Artikel, in denen Begriffe wie "little Holocaust", "Nazi Poland" oder "polnische Vernichtungslager" vorkommen - so initiierte die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita vor zwei Jahren eine Art Controlling über derartige Publikationen, mit entsprechenden Aufrufen an die Redakteure in verschiedenen Sprachen.

Der Washington-Korrespondent der Gazeta Wyborcza Marcin Gadzinski prophezeite dem Buch einschlagende Wirkung: "'Fear' wird Polen erschüttern!" Die Hauptthese von Gross besagt, die Polen hätten aus Angst nach dem Zweiten Weltkrieg Pogrome gegen die zurück kehrenden beziehungsweise überlebenden Juden angerichtet. Aus Angst, sich vor den Überlebenden für Raub, Plünderung und Beihilfe an den Morden verantworten zu müssen. Gadzinski kritisiert an dem Buch, dass Gross wenig Bezug nimmt auf das konkrete Ereignis in Kielce: Ihn "überzeugt es nicht, dass die Teilnehmer des Pogroms ein Interesse an der Ermordung der Juden oder Angst vor ihrer Rückkehr hatten. Über das konkrete Schicksal der Juden von Kielce und das Verhältnis der Polen zu ihnen erfahren wir in dem Buch nichts.

Gross glaubt, das Pogrom lasse sich durch die neue Form des Antisemitismus erklären, die er im Nachkriegspolen breit "diagnostiziert". Gross gehe auch etwas reißerisch vor, indem er immer wieder kontroverse Thesen vertrete, etwa von der "massenhaften Kollaboration" der polnischen Bevölkerung nach dem Einmarsch der Wehrmacht - für Gross ein weiteres "verdrängtes Kapitel" der Besatzungszeit. In eine ähnliche Richtung geht auch der jüdisch-polnische Historiker Piotr Wrobel von der Universität in Toronto. Einige Argumentationsstränge von Gross nennt er "wenig überzeugend", gesteht jedoch am Schluss: "Ich bewundere ihn für seine Intelligenz und seinen Mut. Manche Argumente überzeugen mich nicht und andere irritieren mich sogar. Dabei klingt aber auch etwas Neid durch - ich wünschte, ich könnte solche Bücher schreiben."

Wrobel stellt aber auch eine entscheidende Frage: "Wie soll man über die Geschichte schreiben, ohne als 'Vaterlandsverräter' verurteilt zu werden?" Denn spätestens seit der Jedwabne-Debatte wird in Polen hitzig über Nutzen und Nachteil der Historie für das nationale Selbstverständnis diskutiert. Zwar erinnerte in der liberal-katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny Agnieszka Sabor daran, wie wichtig es ist, diese Tabus zu brechen, weshalb Jan T. Gross allein deshalb schon ein Staatsorden verliehen werden sollte. Doch weist der Trend in eine andere Richtung.

Die Rechte blies schon im Laufe der vorigen Debatte zum Gegenangriff - es sei genug des Entschuldigens bei den Nachbarvölkern und des Schlechtredens der nationalen Geschichte. Die Polen sollten wieder stolz sein können auf ihre Geschichte, verkündeten konservative Politiker und Publizisten. Einer ihrer Wortführer, Präsident Lech Kaczynski, hatte in seiner Zeit als Warschauer Stadtpräsident maßgeblich zur Entstehung des "Museums des Warschauer Aufstandes" beigetragen, in dem der heldenhafte, aber aussichtlose Kampf der Hauptstadt gegen die deutschen Besatzer in all seinem Heroismus dargestellt wurde, ohne jedoch auf die wichtige Nachkriegsdebatte über Sinn und Preis des Aufstands einzugehen (wovon noch heute Andrzej Wajdas großer Film "Der Kanal" zeugt). Für Kaczynski hat eine affirmative Geschichtspolitik oberste Priorität, was seit dem Wahlsieg im September 2005 von Kulturminister Kazimierz Michal Ujazdowski engagiert voran getrieben wird. Was wiederum weitere, lebhafte Debatten über den Begriff und den Zweck von "Geschichtspolitik" hervor ruft.

Es ist dieser Kontext, und weniger die eindeutige Verurteilung des Pogroms durch die Politik (Staatspräsident Lech Kaczynski sprach von "Schande" und "Verbrechen"), wie einige Kommentatoren nahe gelegt haben, die eine Diskussion ähnlich der Jedwabne-Debatte nicht aufkommen ließ. In Polen schwindet die Bereitschaft zur schmerzlichen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Für die Kaczynskis liefert die Geschichte lediglich Argumente im aktuellen politischen Kampf - auf der innerpolnischen Bühne und immer öfter auch auf der außenpolitischen Ebene.

In einem Interview für das Magazin Polityka verteidigte Jan T. Gross sein Buch und erklärte: "In Polen tauchen Diskussionen über Juden oft dann auf, wenn es politische Probleme gibt. Viele Menschen glauben, dass die Juden die Macht haben. Das ist ein Absurdum, dessen Wurzeln erforscht werden müssen. Was nach dem Krieg zwischen Polen und Juden passiert ist, war ein großes Rätsel für mich und der Ausgangspunkt meiner Forschungen. Aber es ist auch kein Problem, dass uns ewig belasten wird. In jedem Ort, in dem man sich an den Juden verging, sollte ein Stein aufgestellt werden, die Menschen sollten kurz trauern, und dann war's das. Kein Um-Verzeihung-Bitten, keine Reparationen. Es geht hier um nichts anderes als darum, die Sünde beim Namen zu nennen. Dann werden wir Polen endlich aufhören, hinter uns zu schauen, um uns zu vergewissern, dass wir nicht gerade von jemanden verarscht werden."