Post aus der Walachei

Die Großartigkeit des Landes Dada

Von Hilke Gerdes
23.03.2006. Von den hunderttausenden Juden, die im rumänischen Holocaust umgekommen sind, steht bis heute nichts in den Schulbüchern. Auf der Suche nach den Juden Bukarests, mit Mihail Sebastian und Norman Manea im Gepäck.
Mihail Sebastian

Die Sonne scheint auf die schneebedeckten Wege. Es ist still. Ein friedlicher Hund nähert sich neugierig der einzigen Besucherin des Friedhofs und begleitet sie auf ihrem Weg. Hier und da ist ein Mann zu sehen, der Schnee schaufelt. Schnee schaufeln gehörte zu den Zwangsarbeiten für Juden in der faschistischen Zeit Rumäniens. Nachzulesen ist dies bei Mihail Sebastian, der selbst davon betroffen war. Heute liegt er hier. Einer der Schnee schaufelnden Männer, ein Fünfzigjähriger mit stahlblauen Augen und sanften Gesichtszügen, zeigt der Ortsunkundigen das Grab. Ein anderer erzählt, er habe das Grab von Sebastian gefegt, damit man die Inschrift lesen könne, und einige Blumen hingelegt, für die Besucher, doch viele kämen nicht mehr, seit es den neuen jüdischen Friedhof an der Ausfallstraße nach Giurgiu gäbe.

Das Grab nimmt sich bescheiden aus im Vergleich zu den neoklassizistischen Monumenten bedeutender jüdischer Familien, die etwas weiter entfernt stehen. "1907-1945? steht auf der Grabplatte, ein kurzes Leben in einer Zeit der großen Tragödien der Geschichte. Sebastian musste miterleben, wie die "Eiserne Garde?, die faschistische Organisation Rumäniens, besonders unter Studenten immer mehr Zuspruch erhielt und antisemitische Ausschreitungen zunahmen, wie 1940 an den "Nürnberger Gesetzen? orientierte Bestimmungen eingeführt und die Juden aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden, wie eine faschistische Militärdiktatur unter General Antonescu entstand und die "Eiserne Garde? vor ihrer Entmachtung durch Antonescu jüdische Viertel plünderte und über hundert Juden ermordete, wie 1941/42 Juden der Bukowina und Moldau nach Transnistrien deportiert wurden und auch danach die Ungewissheit blieb, nicht doch noch selbst ein Opfer antisemitischer Maßnahmen zu werden.

Bilanz eines Lebens


Sebastian hat von 1935 bis 1944 Tagebücher geführt, in denen all diese Ereignisse zur Sprache kommen. Unter dem Titel "Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt? sind sie im letzten Jahr auf Deutsch erschienen und von der Kritik sehr positiv aufgenommen worden. In den USA hat man sie mit den Aufzeichnungen Victor Klemperers und Anne Franks verglichen, in Deutschland wegen ihrer literarisch-intellektuellen Qualität auch mit denen Andre Gides und Jules Renards. Während Anne Frank die "Hölle der Deportation? erlebte, "gibt uns Sebastian Einblick in die Vorkammern der Hölle?, schreibt der Herausgeber und Übersetzer der Tagebücher, Eward Kanterian, im deutschen Vorwort. Sebastian reflektiert den wachsenden Antisemitismus, notiert minuziös den Kriegsverlauf und registriert den Stimmungswandel im Intellektuellen-Milieu, dem er selber angehört. Schmerzhaft empfindet er die zunehmende Distanzierung vieler seiner Freunde, unter ihnen Mircea Eliade und Emil Cioran, und ihre Sympathie für die faschistisch-antisemitischen Ideen. Nicht zuletzt die Beschreibungen dieser in Resteuropa vergessenen bürgerlich-intellektuellen Sphäre sind es, die seine Tagebücher so interessant machen. Zugleich protokolliert Sebastian seine Lektüren und die eigene schöpferische Arbeit. Was für ein quälerischer Prozess das Schreiben sein kann, wird an vielen Stellen deutlich.

Ähnlich quälerisch verlaufen seine Liebesbeziehungen. Nur das Skifahren und Hören klassischer Musik sind Momente des vollkommenen Glücks für Sebastian. Es trifft ihn hart, als der Besitz von Radios für Juden verboten wurde. Und er ist voller Gewissensbisse, nach Monaten ohne Musik sich ins Konzert zu wagen, während andere gerade auf dem Weg in die Lager sind. Und das Publikum, "eine rauschende Gesellschaft?, erscheint ihm angesichts der Ereignisse widerwärtig heiter und vergnügt, Sebastian übersteht die Kriegsjahre, trotz Schreib- und Aufführungsverbots, trotz Geldnot und Todesangst. Nach dem Sturz Antonescus am 23. August 1944 marschiert die Rote Armee ein. Was unter dem Zeichen des Kommunismus mit dem Land geschieht, erlebt er nicht mehr. Am 29. Mai 1945 erfasst ihn ein LKW. Ein banaler Verkehrsunfall führt nach Jahren der Bedrohung zu seinem Ende, absurder hätte es wohl kaum kommen können. Der Friedhofsangestellte hat nichts von seinem Pflegling gelesen, ihn plagen andere Sorgen, er klagt über die hohen Preise und das wenige Gehalt, knappe 70 Euro verdient er.

Kalkül


Im Schlachthof von Bukarest, wo Legionäre der "Eisernen Garde? im Januar 1941 ermordete Juden mit der Aufschrift "koscheres Fleisch? an Fleischerhaken gehängt hatten, erinnert heute nichts an das Pogrom. An seiner rückwärtigen Mauer reihen sich Autowäschereien, KfZ-Werkstätten und Imbissbuden, vor denen Reihen von gelben Dacias der hier essenden Taxifahrer stehen, und ein besseres italienisches Restaurant. Jenseits der Mauer sind einige Backsteingiebel zu erkennen, an denen das Werbeschild eines deutschen Heizkessel-Herstellers zu lesen ist. Offensichtlich werden die alten Hallen heute als Depots benutzt. Kaum ein Mensch verbindet diesen Ort noch mit dem Pogrom; der Holocaust in Rumänien kam (und kommt) in den Schulbüchern nicht vor.
Und wer etwas weiß, schweigt aus Gewohnheit auch heute. Noch 2003 gab die rumänische Regierung verschiedene widersprüchliche Erklärungen über die Existenz des Holocaust in Rumänien ab. Noch heute wird gerne betont, dass Ungarn die Deportation von 135.000 rumänischen Juden aus dem besetzten Transsilvanien nach Auschwitz zu verantworten hat und dass von rumänisch verwalteten Gebieten keine Züge dorthin gegangen sind. General Antonescu hatte das angeblich verhindert. Wohl aus außenpolitischem Kalkül, denn an der Ostfront sah es nicht mehr so rosig aus für die Deutschen und ihre Alliierten.

Die rumänische Regierung erntete für ihre Erklärungen einen Sturm des Protests. Und reagierte. Noch im selben Jahr wurde eine Kommission zur Untersuchung des Holocausts in Rumänien eingesetzt. Vorsitzender war der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel, der selbst aus Rumänien, aus Sighetul-Marmatiei stammt (zum Ort siehe die Post aus der Walachei vom 13.09. 2004). Zwischen 280.000 und 380.000 Juden sind auf rumänisch kontrolliertem Gebiet während des Krieges zu Tode gekommen. Genauere Zahlen konnte die Kommission zur Erforschung des Holocausts in Rumänien nicht ermitteln (hier auf Englisch nachzulesen). Fast 13.000 wurden allein im Sommer 1941 in Iasi ermordet; es ist eines der größten Pogrome im Zweiten Weltkrieg. 2004 ist der 9. Oktober als Beginn der umfangreichen Deportationen im Jahr 1941 zum Gedenktag erklärt worden, vor kurzem gab es eine erste Sendung im staatlichen Fernsehen über den Holocaust in Rumänien, ein Institut zu seiner wissenschaftlichen Erforschung wurde eingerichtet. Nach Jahrzehnten des Schweigens sind zumindest Ansätze der Veränderung zu erkennen.

Überbleibsel


"Noch immer wollen viele den Holocaust nicht wahrhaben.?, sagt der ältere Mann, der durch die kleine Ausstellung über den Holocaust in einer der wenigen noch existierenden Synagogen Bukarests führt. Und als müsste er selbst die Besucherin aus Deutschland von seiner Existenz überzeugen: ?Hier, diese Dokumente, sie sind authentisch, bezeugen die Befehle Antonescus zur Ermordung der Juden.? Im Gästebuch sind zumeist Besucher aus Israel und den USA eingetragen, aber auch einige Schulklassen. Offiziell wird verlautbart, dass der Holocaust in die Lehrpläne aufgenommen werden soll. Überquert man die vor dem Bukarester Schlachthof fließende Dambovita über eine kleine Fußgängerbrücke, kommt man ins Viertel Vacaresti, wo viele Juden Bukarests wohnten. Umzingelt von Blockbauten haben sich einige alte Straßenzüge erhalten. Mit Altbauten, die seit dem zweiten Weltkrieg keine Farbe mehr gesehen haben. Misstrauisch blickt die Bewohnerin einer kleinen 20er-Jahre-Villa auf die fotografierende Person vor ihrem Haus. Sie kann nicht glauben, dass es die originalen Fensterbänder sind, die interessieren. Sie fürchtet sofort den früheren Besitzer, dessen Erscheinen sie seit Jahren mit Bangen erwartet. Dann weiß sie nicht wohin. Und schön sei das Haus?! Man solle es von innen sehen, es regne durch und es gäbe kein Warmwasser. Sie verdiene nur drei Millionen Lei als Putzfrau, zahle für diese Bruchbude 400.000 Lei (ca. 12 Euro), habe behinderte Kinder zu Hause und dazu noch einen kranken Mann.

Das mit dem kranken Mann hätte sie vielleicht weglassen soll, denn zu dick ist das Elend aufgetragen. Kranke Kinder und kranke Ehemänner gehören zu den Topoi der Klage, der die meist indirekte Aufforderung zur kleinen Spende folgt. Leistet man dem nicht Folge, wird man keineswegs davongejagt, sondern unterhält sich einfach weiter. Das Haus steht in der Strada Morilor. Wer den Roman "Die verschluckte Musik? von Christian Haller gelesen hat, kennt diesen Namen. Hier wohnte in ihrer Kindheit die Mutter des Ich-Erzählers, der sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Erinnerung macht. Der große Garten, das komfortable Haus, der gutbürgerliche Lebensstil des Fabrikdirektors im Bukarest der 20er Jahre - von all dem sind nur einige Ruinenreste übrig geblieben, in denen heute Menschen wohnen, die sich an diese Vergangenheit nicht erinnern.

Jungen der Bukowina

Mihail Sebastian schrieb 1935 "Cum am devenit huligan? ("Wie ich zum Hooligan wurde", dt. 1997). Es war seine Antwort auf Nae Ionescu (nicht zu verwechseln mit Eugen Ionescu, später Eugene Ionesco), das Leitbild der jungen Schriftstellergeneration, der ausgerechnet in einem Vorwort zu Sebastians Roman "De doua mii de ani ("Seit zweitausend Jahren", dt. 1997) das Leiden der Juden aus dem Judentum selbst abgeleitet und damit unverhohlen antisemitisch argumentiert hatte. Mit dem Begriff des Hooligan, bei dem heute eher an den Fußballfan gedacht wird, der gegnerische Fans verprügelt, umreißt Sebastian seine eigene Stellung als Außenseiter, der sich nicht einer Ideologie verschreiben kann und will. Während der Schriftsteller in Bukarest helfen muss, die Zwangsabgaben der Juden einzusammeln, spitzt sich das Leben eines fünfjährigen jüdischen Jungen in der Bukowina dramatisch zu: mit seiner Familie wird er nach Transnistrien (dem rumänisch besetzten Gebiet zwischen Dnjestr und Bug in der Ukraine) deportiert. Genauso wie ein zehn Jahre alter Teenager aus Deutschland. Die Bukowina, in die Edgar Hilsenrath mit seiner Mutter vor den Nazis 1938 geflüchtet war, ist eine Falle. Hilsenrath verarbeitet sein Erlebnisse im transnistrischen Ghetto später zu einem Roman, der Bilder auferstehen läßt, die man nicht mehr vergisst: "Nacht? (1964).

Ein anderer Bewohner der Bukowina, ein junger Erwachsener, verliert seine Eltern im Lager, sein Vater stirbt an einer Krankheit, seine Mutter wird erschossen: Sein Name ist Paul Antschel, rumänisch Ancel, später benutzt er das Anagram Celan. Mit der "Todesfuge? hat er eines der berühmtesten Gedichte über den Holocaust geschrieben. Zweieinhalb Jahre arbeitet Celan als Übersetzer und Lektor in Bukarest. Wäre er Ende 1947 nicht in den Westen emigriert, würde die "Todesfuge? heute wohl nicht in deutschen Schulbüchern stehen.

Das Unaussprechliche


Der fünfjährige Junge aus der Bukowina, Norman Manea, überlebt mit seinen Eltern das Konzentrationslager und bleibt in Rumänien. Auch er wird Schriftsteller, allerdings erst nach dem Einsetzen des "Tauwetters?, das es auch in Rumänien für knapp ein Jahrzehnt gegeben hat. Sein Aufsatz über das faschistisch-antisemitische Denken Mircea Eliades löst einen Skandal und eine Schmähkampagne gegen Manea aus. 1986 verlässt er das Land. Manea kommt nach Berlin, mit einem Stipendium "des nach der Niederlage zum Wohlstand gekommenen Deutschland für den immer schon unterlegenen, der Armut, Unbehaustheit anheimgefallenen Osten?. Das gelernte Misstrauen macht ihm auch hier zu schaffen. Über Paris landet er schließlich in Washington und dann New York, wo er bis heute lebt. Bis zum Erscheinen von "Die Rückkehr des Hooligan? 2004 (übersetzt von Georg Aescht) hat sein Werk im deutschsprachigen Raum relativ wenig Beachtung gefunden. Leider. Wie der Titel dieses Buches andeutet, stellt sich Norman Manea in eine Traditionslinie mit Mihail Sebastian als Hooligan, als Außenseiter, Dissident.
Sein im Untertitel "Selbstporträt? genanntes Buch ist eine Reflektion des Holocausts und Kommunismus im Spiegel seiner persönlichen Erfahrung. Und ein Nachdenken über das Exil, über den Verlust der Sprache und das verhasst-geliebte Land Rumänien. "Mein grandioses Land - das versuchte ich meinem Gegenüber zu beschreiben, die Großartigkeit des Landes Dada, das ich nicht hatte verlassen wollen und in das ich nicht zurückkehren wollte. Den unaussprechlichen Zauber und die unaussprechliche Scheiße.? Manea besucht dieses Land - nach langem Zögern und eher unwillig, weil er den Präsidenten des Bard College, wo auch er lehrt, begleiten soll. Seinen zwölftägigen Aufenthalt im Frühjahr 1997 schildert er minuziös. Beim Seder-Abend im ehemaligen "Ritual-Restaurant? trifft er auf Honoratioren der jüdischen Gemeinde. Der berühmte Rabbiner und Gemeindevorsitzende, der das schwierige Verhandlungsgeschäft mit den Parteikadern wie kein anderer beherrschte, ist nicht mehr dabei. Er ist inzwischen verstorben. Verhandelt wurden Ausreiseanträge - für 8000 Dollar pro Kopf ging es nach Israel - aber auch vieles, das der Gemeinde ihre fragile Existenz sichern sollte. Für Manea war es ein zweifelhaftes Maskenspiel. Und jetzt, da der Kommunismus und mit ihm "Risiko und Masken? verschwunden sind, erscheinen ihm die Leute "abgeschlafft und gelangweilt?, erscheint ihm das Ritual als Routine.

Inseln

In der Nähe der Piata Unirii (Platz der Einheit), in einer Gegend von Blockbauten, Brachen, Bauruinen und wenigen von Ceausescus Abrisspolitik verschont gebliebenen alten Häusern liegt versteckt eine kleine Synagoge, die seit 1978 ein jüdisches Museum beherbergt. Wer keinen Ausweis hat, kommt hier nicht hinein. Ist man hineingelangt, empfangen einem zwei höfliche ältere Damen, die erklären, was es hier zu sehen gibt, wenn man möchte, auch auf Englisch. Karten, Kopien alter Stiche, Urkunden, Bücher, Gemälde und Modelle heute nicht mehr existierender Synagogen zeugen von der langen und reichhaltigen jüdischen Tradition. Bis 1941 sollen gut 800.000 Juden in Rumänien gelebt haben. Die wertvollsten Exponate sind alte jüdische Kunstgegenstände: Thora-Kronen, -Mäntel und -Schilder, Sabbat-Leuchter und Seder-Teller. Neben dem Museum, in einem Seitentrakt, hat Lya Benjamin ihr Büro. Wer die Historikerin besuchen möchte, hat etliche Treppenstufen zu steigen, bis er in ihrem kleinen Büro angelangt ist, das zum "Centrul pentru Studieria Istoriei Evreilor din Romania? (Studienzentrum der Geschichte der Juden in Rumänien) gehört.

Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich Benjamin mit der jüdischen Geschichte in Rumänien. Begonnen hat sie in einer Zeit, als das Wort Holocaust tabu war und das Institut den schlichten Namen "Dokumentationszentrum? trug. Als Mitglied der internationalen Kommission zur Erforschung des Holocaust hat sie im Abschlussbericht unter anderem über die antijüdische Gesetzgebung geschrieben und zudem den umfangreichen Quellenband zusammengestellt. Für ihre Untersuchung des Alltags der Juden zwischen 1940 und 1944 wurde ihr 2001 der Doktortitel verliehen - mit 70 Jahren. Sie lacht, als sie das erzählt. Früher hätte sie es für utopisch gehalten, zur internationalen Scientific Community zu gehören.

Offenheit


Sie macht - im Gegensatz zu 99,9 Prozent der ehemaligen Parteimitglieder - keinen Hehl aus ihrer Vergangenheit. Sie ist über die Theorie, die Schriften von Marx, Gramsci, Lukacs und anderen zum Kommunismus gekommen und hat nach ihrem Studium der Geschichte voller Eifer Ausstellungen über den Antifaschismus im Museum für Parteigeschichte organisiert. Natürlich war ihr der mehr als einfache Geist Ceausescus verhasst; sie stammt aus einer bürgerlichen Familie, in der klassisch-moderne deutsche Literatur gelesen wurde. Ihr Großvater und ihre Mutter hatten in Wien studiert.
Im Museum wurde sie nie befördert, weil ihr Name sofort verrät, dass sie eine Jüdin ist. Als Intellektuelle hat sie sich in die Welt der Bücher und Archive zurückgezogen. Und sie berichtet von Momenten des Glücks im Privaten. Die Fahrradausflüge in die Umgebung von Bukarest, als die Straßen noch fast frei von Autos waren. Mit ihren Mitmenschen ist sie ausgekommen, doch das Gefühl anders zu sein, hat sie nie verloren.

Es empört sie zu Recht, dass Anhänger der Legionärsbewegung im Privatfernsehen auftreten, dass sich antisemitisch äußernde Politiker wie Vadim Tudor von der Großrumänien-Partei immer noch im Parlament sind. Wie in anderen osteuropäischen Ländern sei auch hier der Antisemitismus weit verbreitet. Allerdings wohl eher latent und unterschwellig, möchte die Ausländerin hinzufügen, denn an der Oberfläche des alltäglichen Lebens ist davon nichts zu spüren. Im Vergleich zu Deutschland gibt es wenige Hakenkreuz-Schmierereien oder antijüdische Sprüche und keine Aufmärsche rechter Gesinnungsgenossen. Hassobjekt der Bevölkerung sind vielmehr die Roma. Da kann es schon vorkommen, dass jemand auch in Gegenwart der Ausländerin von "zu-Seife-Machen? spricht. Etwa 25.000 Roma sind 1941/42 deportiert worden, knapp die Hälfte kam in Transnistrien um.

Ausklang

In der Nähe von Lya Benjamins Büro liegt die größte Synagoge Rumäniens, der vor 140 Jahren gebaute Choraltempel. Benjamin erzählt von den Debatten um Chor und Orgel, um das Singen im Gottesdienst, die es vor seinem Bau gegeben hatte. Für die orthodoxen Juden war das Novum anfänglich nur mit christlichen Sängern zu akzeptieren. Auch hier hat man seinen Ausweis einem Wachmann vorzuzeigen. Mehr wird nicht kontrolliert. Ein Gemeindemitarbeiter kommt und setzt zu seinem Vortrag an. Der prächtig ausgemalte Innenraum wurde mit Hilfe des American Jewish Joint Distribution Committee restauriert, das auch in anderen Bereichen, wie dem Altenheim und der medizinischen Versorgung helfe. Der Gemeindemitarbeiter, ein ehemaliger Bergbauingenieur, berichtet von seinem Arbeitsbesuch in Deutschland nach dem Krieg. Nichts Außergewöhnliches sieht er darin, als Jude in das Land der Mörder gereist zu sein. Die Synagoge bietet 600 Personen Platz . Heute ist das mehr als genug. In Bukarest ist die Gemeinde auf etwa 5000 Mitglieder zusammengeschrumpft. Im gesamten restlichen Land sind es auch nicht viel mehr. Zwei Drittel der Bukarester Gemeindemitglieder sind älter als sechzig Jahre, die jüngeren sind fast alle irgendwann ausgewandert, nach Israel oder die USA. Aber: Es gibt einen jüdischen Kindergarten und eine jüdische Schule, wo jüdische Geschichte und Hebräisch gelehrt wird. Und das Jüdische Theater existiert nach wie vor. Mihail Sebastians Theaterstücke, etwa "Ferien spielen?, stehen auf dem Spielplan.