Post aus Istanbul

Champs Elysees von Istanbul

Von Constanze Letsch
22.05.2009. Das Istanbuler Viertel Tarlabasi gilt der Stadtverwaltung als gefährlicher Sündenpfuhl, in dem Prostituierte und Kriminelle ihr Unwesen treiben. Darum will sie es jetzt abreißen lassen. Doch vorher muss sie die Anwohner vertreiben - zum Beispiel mit Müll, ihrer stinkendsten Waffe.
Das in der Nähe des Taksimplatzes gelegene Viertel Tarlabasi gilt als der gefährliche, dreckige, unbetretbare Istanbuler Hinterhof. In Filmen, Romanen und vor allem auch in den Nachrichten taucht Tarlabasi als dunkles Ganovenviertel auf, als Endstation für diejenigen, die ganz unten angekommen sind.

Die Stadtverwaltung von Beyoglu hat beschlossen, das historische Viertel im Rahmen der rapide voranschreitenden Stadterneuerung fast komplett abzureißen. Entstehen soll zuerst einmal eine Gated Community, Hotels, Einkaufszentren und Bürogebäude. Die überwältigende Mehrheit derer, die jetzt dort wohnen, werden sich nach der Renovierung ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Der spekulative Kahlschlag, der bereits andere Stadtteile, wie das Romaviertel Sulukule und weite Teile der historischen Halbinsel, unter sich begraben hat, droht jetzt auch Tarlabasi zu erfassen. Doch obwohl die erste Etappe, die 20.000 Quadratmeter und insgesamt 278 Gebäude umfasst, schon 2008 begonnen, und noch vor 2010, dem Jahr in dem Istanbul Europäische Kulturhauptstadt ist, fertiggestellt werden sollte, deutet Anfang Mai 2009 nichts auf den baldigen Beginn des Projektes hin. Zum einen stößt die Stadtverwaltung auf wachsenden Widerstand, zum anderen hat die internationale Finanzkrise besonders auch in der Türkei den Bau-und Immobiliensektor stark schrumpfen lassen.

Nach einem verheerenden Brand im Jahr 1870 wurde Tarlabasi als eine der ersten Istanbuler Wohngegenden auf dem Reißbrett der Stadtverwaltung neu geplant und entwickelte sich zum Viertel der Gayrimüslimler, der griechischen, armenischen und jüdischen Mittelschicht. Schmale, höchstens vierstöckige und für die levantinische Architektur der Jahrhundertwende typische Erkerhäuser schmiegen sich hier entlang enger Straßen aneinander. Hier wohnten vor allem Händler, Künstler und Handwerker, die sich keine Wohnung im großbürgerlichen und schickeren Teil von Pera, dem heute touristisch bekannteren Teil von Beyoglu, leisten konnten.

Nach dem Vertrag von Lausanne 1923 und dem daraus resultierenden Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der minderheitenfeindlichen Politik der Republik, die am 6. und 7. September 1955 in Pogromen gegen nicht-muslimische Mitbürger gipfelte und schließlich der Zypernkrise in den Siebziger Jahren verwaiste das Viertel zusehends. Ab den 40er Jahren sind es Migranten aus Anatolien, in Istanbul auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Lebensstandard, die nach Tarlabasi ziehen. Weitere große Migrationswellen folgen in den 80er und 90er Jahren, als die Kurden auf der Flucht vor dem kurdisch-türkischen Bürgerkrieg im Südosten des Landes ihre zerstörten Dörfer verlassen müssen. Später kommen Flüchtlinge aus zahlreichen afrikanischen Ländern, aus Iran, Afghanistan und dem Irak hinzu, von denen die meisten auf eine Weiterreise nach Europa, die USA oder Kanada hoffen. Aus Bulgarien, Russland und Rumänien kommen Tagelöhner und Zeitarbeiter. Schließlich kommen diejenigen hinzu, denen man nirgends sonst einen Mietvertrag aushändigen will - Roma, Transvestiten und Transsexuelle.

Kein anderes Viertel in Istanbul kann eine derartige Vielfalt aufweisen. Doch bis heute hat keine der wechselnden Istanbuler Stadtverwaltung etwas dafür getan, das Viertel zu erhalten, im Gegenteil. Und die Tatsasche, dass Tarlabasi seit über fünfzig Jahren offiziell unter Denkmalschutz steht, hat die Lage wahrscheinlich nur verschlimmert, da es den Anwohnern unter hohen Geldstrafen verboten war, ungefragt auch nur einen Nagel in die Wand zu schlagen. Anträge von Hausbesitzern, leckende Dächer, undichte Fenster oder bröckelnde Wände auszubessern, wurden von der Stadtverwaltung Beyoglu und dem Amt für Denkmalschutz jedes Mal strikt abgelehnt. Die Gebäude verfielen weiter. In den letzten Jahren haben einstürzende Häuser bereits zu Toten geführt.

Ein im wahrsten Sinne des Wortes einschneidendes Ereignis in der Entwicklung des Verfalls war der Bau des sechsspurigen Tarlabasi-Boulevards, der 1988 eröffnet wurde und der heute das heruntergekommene Tarlabasi vom schicken Beyoglu trennt. Dabei handelte es sich um eine radikale Verkehrsmaßnahme, die der damalige Bürgermeister Bedrettin Dalan entgegen heftigen Protesten als Teil seines Plans, Istanbul zu einer vor allem verkehrsfreundlichen Stadt zu machen, durchsetzte. Der Boulevard verläuft quer durch Beyoglu, und 368 historische, zum größten Teil denkmalgeschützte Häuser fielen der Baumaßnahme zum Opfer.

Mücella Yapici, die bei der Istanbuler Architektenkammer (TMOBB) arbeitet, seufzt: "Die Architektenkammer tat damals alles, um das Projekt zu stoppen. Wir haben die Stadtverwaltung gewarnt, dass die Straße das Viertel in zwei Teile schneiden, und der untere - Tarlabasi - unweigerlich dem Verfall preisgegeben würde. Und genau das ist auch passiert."

Jetzt säumen Perückenläden, kleine Restaurants und heruntergekommene Hotels die dunkle Seite des Tarlabasi-Boulevards. Hier stehen abends viele der Istanbuler Sexarbeiterinnen, die mit bunt erleuchteten Schildern gekennzeichneten Stundenhotels sind ihr Arbeitsplatz. In Istanbul gibt es nur ein behördlich zugelassenes Bordell, und dort werden transsexuelle Sexarbeiterinnen nicht akzeptiert. Obrigkeit und Medien zeigen mit dem Finger immer wieder gern auf dieses Treiben. Im gemeinsamen Istanbuler Bewusstsein ist das Viertel ein gefährlicher Sündenpfuhl und alle, die darin wohnen, gelten als potentielle Kriminelle.

Erdal Aybek, der Sprecher des "Vereins für Entwicklung und Sozialen Beistand für die Eigentümer und Mieter von Tarlabasi", sieht hierin eine Verdrehung von Ursache und Wirkung. "Ein Stadtviertel sicher zu machen, ist nicht die Aufgabe der Bürger, sondern die Aufgabe der Polizei." Er verweist auf die Polizeiwache von Tarlabasi. "Die wissen doch, in welchen Häusern sich Kriminelle verstecken, und sie wissen auch, an welchen Ecken Drogen verkauft werden. Es ist die Schuld der Polizei, die wegsieht und nichts dagegen tut, dass Tarlabasi nicht sicherer ist." Er fährt fort: "Wir bezahlen unsere Steuern, wie leisten unseren Wehrdienst ab, wir tragen unseren Teil am Bruttosozialprodukt. Warum werden uns die einfachsten Bürgerrechte verweigert?"

Mit den einfachsten Bürgerrechten meint er auch städtische Dienstleistungen wie ausreichende Straßenbeleuchtung und eine regelmäßige Müllabfuhr. Beides fehlt in Tarlabasi. Nachts sind viele Straßen nur unzureichend beleuchtet, in den meisten kleinen Nebenstraßen fehlt die Beleuchtung ganz. Seit über fünfzig Jahren. "Kein Wunder, dass Kriminelle nach Tarlabasi kommen, um ihre Geschäfte abzuwickeln", sagt Aybek. "Und während die Müllabfuhr mindestens dreimal am Tag die nur wenige Meter entfernte Istiklalstraße entlangfährt, kommt sie nur alle sieben bis zehn Tage nach Tarlabasi."

Müll ist in den zur Erneuerung vorgesehenen Istanbuler Vierteln zur stinkenden Waffe der Stadtverwaltung geworden. Schon in Sulukule hatte der Bürgermeister von Fatih bewohnte Straßenzüge zur öffentlichen Müllhalde erklärt, gleiches geschieht auch in Tarlabasi. Anstatt den Müll abzuholen, kommen die Fahrzeuge der Stadtreinigung in die Haci Ahmet Mahallesi, um ihn abzuladen. Auf die Beschwerden der überwiegend kurdischen Anwohner wiegelte das Rathaus ab: Irgendwo müsse man den Müll schließlich hinkippen.

Da die Grundstückspreise in Beyoglu zu den teuersten in Istanbul gehören, hat die Stadtverwaltung beschlossen, die Problemzone Tarlabasi radikal zu gentrifizieren. Das mit großem Aufwand beworbene Projekt Tarlabasi Yenileniyor (Tarlabasi wird erneuert) wurde zu einem Hauptanliegen des Bürgermeisters von Beyoglu, dem im März 2009 nur sehr knapp wiedergewählten AKP-Politiker Ahmet Misbah Demircan.

Am 04.04.2007 unterschrieb die Firma Calik Grubu, die in der Ausschreibung um das Projekt das Rennen machte und in deren Vorstand der Schwiegersohn des Premierministers Recep Tayyip Erdogan sitzt, den Vertrag mit der Stadt. Dieser Vertrag sieht unter anderem vor, dass die Hausbesitzer nach Abschluss der Renovierungsarbeiten nur 42 Prozent ihres Eigentums zurückerhalten, die restlichen 58 Prozent bleiben bei Calik Grubu und ihrer Tochterfirma, dem Bauunternehmen GAP Insaat, Prozentsätze, die ohne Zustimmung der eigentlichen Besitzer erstellt wurden.

Denn in Tarlabasi selbst erfuhr man erst im Februar 2008, dass die Stadt sich bereits mit einer Firma über Preise und Ausführung, sprich Abriss, geeinigt hatte. 2006 hatte die Stadtverwaltung den Anwohnern gegenüber behauptet, einen Kredit von der Weltbank zu bekommen, mit dem alle Häuser renoviert würden. Doch von Erneuerung durch Renovierung war 2008 keine Rede mehr. "Eine moderne Stadt braucht großräumige, moderne Wohnungen und breite, autogerechte Straßen", so Bürgermeister Demircan. Er sah den Tarlabasi-Boulevard bereits als "die Champs Elysees von Istanbul".

Um dem Vorhaben der Stadt geschlossen und organisiert gegenübertreten zu können, gründeten die Anwohner von Tarlabasi im Februar 2008 den "Verein für Entwicklung und Sozialen Beistand für die Eigentümer und Mieter von Tarlabasi". Mittlerweile zählt er über 300 aktive Mitglieder, Erdal Aybek sitzt jeden Tag von 12 Uhr bis 15 Uhr im Vereinsbüro. Eine der wichtigsten Aufgaben des Vereins ist die Aufklärung und Beratung von Mietern und Hauseigentümern. Und das zeigt bereits Wirkung. Von den insgesamt 278 Gebäuden hat GAP Insaat bis heute gerade einmal 12 erstanden, 10 davon waren im Besitz von religiösen Stiftungen.

Aber auch die Drohung eines drohenden Abrisses blieb nicht ohne Folgen. Seit Februar 2008 haben über 200 Mieter Tarlabasi verlassen, auch 100 Geschäfte und Werkstätten stehen mittlerweile leer, neue Mieter finden sich nicht. "Das ist schlimm für die Hauseigentümer. Viele von ihnen leben von den kümmerlichen Mieteinnahmen. Wenn diese ausbleiben, trägt das nur weiter zur Verarmung der Bevölkerung hier bei. Und wenn ein Hausbesitzer nicht mehr auf die Miete zurückgreifen kann, muss er am Ende verkaufen. Und genau das ist es ja, was sie wollen", so Erdal Aybek.

Wohin gehen diejenigen, die ihre Wohnungen aufgeben?" Die meisten müssen sehr weit weg ziehen. Eine mir bekannte Familie wohnt jetzt im Keller eines Gecekondu im Viertel Gazi, weil die Miete dort nur 100 YTL (ca. 50 Euro) beträgt." Aber die meisten Bewohner von Tarlabasi arbeiten im informellen Dienstleistungssektor in Beyoglu - sie waschen ab, verkaufen Simit, putzen Schuhe. Wenn sie Tarlabasi verlassen müssen, wird die Lage für sie noch prekärer.

Mücella Yapici weist auf ein weiteres Problem der katastrophalen Istanbuler Stadtplanung hin: "Vor fünf Jahren gab es in Istanbul das Problem der Obdachlosigkeit fast nicht. Die meisten haben immer irgendwo einen Unterschlupf gefunden, in Gecekondus, oder in Vierteln wie Tarlabasi und Sulukule. Doch mit der Abrisspolitik der Stadtverwaltung landen immer mehr Menschen einfach auf der Straße. Sie kommen nirgends mehr unter."

Die wichtigste Forderung des Vereins, die Offenlegung der genauen Projektpläne, ist bis heute nicht erfolgt. Trotz der Hochglanzbroschüren, der Pressekonferenzen und der Internetauftritte weiß niemand, was genau auf den 20.000 Quadratmetern, die GAP Insaat aufzukaufen versucht, entstehen soll. Fehlende Transparenz ist eines der Hauptprobleme Istanbuler Stadtplanung.

Das sehen auch am Projekt beteiligte Architekten so. Tülin Hadi und Cem Ilhan, deren Büro TeCe Mimarlik ein Abschnitt des zu erneuernden Gebietes übertragen wurde, sind unzufrieden, dass bei der Stadtplanung nicht mehr Weitsicht gezeigt wird. Zwar sei es keine Frage, dass Tarlabasi Renovierung dringend nötig hat. "Schon ein mittelstarkes Erdbeben würde viele Häuser in sich zusammenstürzen lassen.", erläutert Tülin Hadi. "Aber es kann nicht sein, dass Stadterneuerungsprojekte von diesem Umfang einem einzigen privaten Unternehmen, das natürlich nur eigenen Profit im Auge hat, überlassen werden."

Mücella Yapici ist mittlerweile überzeugt, dass Tarlabasi Yenileniyor in der jetzigen Form nicht durchkommen wird. Ein wenig hofft sie dabei auch auf die heilende Wirkung der globalen Krise.